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Where the world comes to study the Bible

4. Die ersten Jünger (Johannes 1:35-51)

Einleitung

Wie so viele andere auch wurden meine Frau und ich ursprünglich durch einen Verwandten zusammengebracht. Meine spätere Frau Jeannette war College-Studentin in Seattle, während ich noch bei meinen Eltern lebte. Meine Schwester Ruth wohnte im Studentenwohnheim auf dem gleichen Flur wie Jeannette, und sie wurden Freundinnen. Als meine Schwester David Harrison heiratete (den ich versucht hatte mit Jeannette zusammenzubringen), fand die Hochzeit in Shelton statt, wo ich lebte, und Jeannette übernahm eine Rolle im Rahmen der Hochzeitszeremonie. Ein oder zwei Jahre später wurde Jeannette und ich dann gute Freunde, als wir beide eine leitende Position innerhalb unserer jeweiligen College-Klasse in der Kirche innehatten. Ich lieh mir sogar einmal Jeannettes Auto aus, um „Nancy“ bei einer Verabredung auszuführen. Schließlich wurde es für Jeannette und mich offensichtlich, dass wir viel mehr – aber auch niemals weniger – als „befreundet“ sein sollten. Dank meiner Schwester Ruth begann für Jeannette und mich eine lebenslange Beziehung.

Beziehungen kommen oft mithilfe eines Freundes oder Verwandten zustande; und wenn eine solche Beziehung beginnt, hat man noch keine Ahnung, wohin sie führen könnte. Ganz sicher traf das für meine Beziehung mit Jeannette zu. Ich erhielt viel mehr als ich erwartet hatte, ja sogar das allerbeste! Und dasselbe traf auf die Jünger Jesu zu, von denen die ersten auch durch einen Freund oder Verwandten zu Ihm gebracht wurden.

Die Jünger unseres Herrn spielen im Neuen Testament eine sehr wichtige Rolle. Jedes der drei synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus und Lukas)66 beinhaltet zwei „Rufe“. Der erste „Ruf“67 ist vorläufig, geschieht sehr früh im Verlauf des Dienstes unseres Herrn und scheint nicht für die Dauer gewesen zu sein. Zu diesem Zeitpunkt werden erst einmal zwei Bruderpaare gerufen: Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und Simon und Andreas. Im Matthäus- und im Markus-Evangelium wird der Ruf an die vier Fischer jeweils nur recht kurz beschrieben.

Einen ausführlicheren Bericht über diesen ersten Ruf finden wir im Kapitel 5 des Lukas-Evangeliums. Lukas holt weit aus und erläutert näher, was bei Matthäus und Markus nur knapp berichtet wird: Jesus kam zum See Genezareth68 und begann vor der Menge zu lehren, die sich dort versammelt hatte, um Ihn zu hören. In der Nähe lagen zwei Boote; eines davon gehörte Jakobus und Johannes und das andere Petrus und Andreas. Jesus kam in Petrus’ Boot und bat ihn vom Ufer abzulegen, damit Er leichter zu den Menschen am Ufer sprechen konnte. Als Jesus seine Lehren beendet hatte, wies er Petrus an, in tieferes Wasser hinauszufahren und die Netze zum Fang herabzulassen. Nicht dass Er ihnen vorschlug, dass sie versuchen sollten, Fische zu fangen – nein, Er sprach davon als von einer Gewissheit. Petrus und sein Partner waren die ganze Nacht erfolglos zum Fischen unterwegs gewesen und wenn es etwas gab, worin Petrus sich kompetent fühlte, dann war es das Fischen. Er brachte also Jesus gegenüber zum Ausdruck, dass er dessen Plan für nicht sehr gelungen hielt, tat aber dann doch, was Jesus ihm aufgetragen hatte. Als sie tieferes Wasser erreichten und dort das Netz einholten, war es so voll, dass Petrus Jakobus und Johannes zuhilfe rufen musste. Diese brachten ihr Boot längsseits und beide Boote waren anschließend so voller Fische, dass sie unterzugehen drohten. Da erkannte Petrus plötzlich, dass Jesus viel größer war, als er angenommen hatte, und fiel vor Ihm nieder. Petrus forderte Jesus auf, von ihm, dem sündigen Menschen, fortzugehen. Und Jesus ruft daraufhin die Männer dazu auf, Ihm zu nachfolgen, weil sie von nun an „Menschen fischen“ werden (Lukas 5:10). Lukas erzählt uns weiter, dass sie ihre Boote auf das Ufer zogen und alles verließen, um Jesus zu folgen. Dieser erste „Ruf“ wird bei Johannes überhaupt nicht erwähnt.

Wie wir wissen, geschah es erst beim zweiten „Ruf“, dass Jesus die Zwölf zu Seinen Jüngern ernannte. Dieser spätere Ruf ist in den synoptischen Evangelien aufgezeichnet69, aber im Johannes-Evangelium ist er wiederum nicht zu finden. Tatsächlich gibt es bei Johannes gar keinen „Ruf“ an die Jünger, außer dem „Ruf“ an Philippus70 in unserem heutigen Text. Es gibt im Johannes-Evangelium noch nicht einmal eine Aufzählung der Namen der zwölf Apostel. Nur viermal werden „die Zwölf“ erwähnt, dreimal davon im selben Kapitel (Johannes 6:67,70,71) und das letzte Mal in Kapitel 20, Vers 24. Die ausführlichste Aufzählung von Jüngern unseres Herrn finden wir bei Johannes im allerletzten Kapitel: „Danach offenbarte sich Jesus den Jüngern noch einmal am See von Tiberius. Und so offenbarte er sich ihnen: Simon Petrus, Thomas (genannt Didymos), Nathanael (aus Kana in Galiläa), die Söhne des Zebedäus und zwei andere von seinen Jüngern waren beisammen“ (Johannes 21:1-2).

Drei Jünger werden hier namentlich genannt: Simon Petrus, Thomas und Nathanael. Jakobus und Johannes werden indirekt als die „Söhne des Zebedäus“ angeführt, und zwei andere Jünger werden als anwesend erwähnt, aber nicht näher bezeichnet. Im gesamten Johannes-Evangelium wird Jakobus nicht mit Namen genannt, und auch die inneren Drei (Petrus, Jakobus und Johannes) werden nicht erwähnt. In den Schlussversen von Kapitel 1 findet sich die einzige Beschreibung davon, wie Jesus Jünger gewann. Von Kapitel 2 an lesen wir nur noch von „Jesus und Seinen Jüngern“ (2:2) oder schlicht von „Seinen Jüngern“. Lassen Sie uns also einen Blick auf diese Verse werfen, die beschreiben, wie Jesus einen Seiner Jünger gewann.

Jesus und die zwei Jünger des Johannes
(1:35-39)

35 Am nächsten Tag stand Johannes wieder da mit zweien seiner Jünger. 36 Er sah auf Jesus, der vorbeiging, und sagte: „Siehe, das Lamm Gottes!“ 37 Als seine zwei Jünger ihn das sagen hörten, folgten sie Jesus. 38 Jesus wandte sich um und sah, dass sie ihm folgten, und sprach zu ihnen: „Was wollt ihr?“ Da sagten sie zu ihm: „Rabbi“ (das bedeutet übersetzt: Lehrer), „wo hältst du dich auf?“ 39 Jesus sprach zu ihnen: „Kommt, und ihr werdet sehen.“ So kamen sie und sahen, wo er sich aufhielt, und blieben an diesem Tag bei ihm; es war etwa vier Uhr am Nachmittag (Johannes 1:35-39).

Einen Tag hören wir Johannes vom Messias sprechen als von Einem, der irgendwo in Israel unter Seinem Volk weilt, aber noch nicht erkannt worden ist (1:26-27, 30-31), und am folgenden Tag schon verkündet er Jesus als den verheißenen Messias (1:29-30). Die Identität Jesu als der Messias wird Johannes bei der Taufe des Herrn offenbart (1:31-34), und sofort beginnt Johannes kundzutun, dass Jesus Der ist, von dem er die ganze Zeit gesprochen hat. Kurz darauf geht der Herr an Johannes und zweien von dessen Jüngern vorüber. Während Er sich entfernt, sagt Johannes zu seinen zwei Jüngern, dass Jesus das „Lamm Gottes“ sei (Vers 35). Die Jünger verlassen Johannes und laufen hinter Jesus her. Als sie näher kommen, dreht Er sich um, sieht, dass sie Ihm folgen, und fragt sie: „Was sucht ihr?“

Jesus fragt sie nicht „Wen sucht ihr?“, sondern Was sucht ihr?“ Diese Frage ist nicht unfreundlich gemeint, um die Jünger abzuweisen. Vielmehr soll die Frage sie offenbar dazu ermutigen, in Worte zu fassen, was sie von Ihm wollen, und auf den Punkt zu bringen, was sie da eigentlich tun. Die zwei Männer werden vielleicht auf dem falschen Fuß erwischt, denn sie antworten: „Rabbi, wo hältst du dich auf?“ Ich muss zugeben, dass ich das anfangs für eine ziemlich dämliche Antwort hielt, von der Art, wie ich sie selbst schon gegeben habe, wenn ich auf dem falschen Fuß erwischt wurde und nicht wusste, was ich sagen sollte. Diese Antwort könnte aber mehr enthalten, als ich zunächst dachte. Es ist möglicherweise eine höfliche Anfrage an Jesus, ob sie Seine Jünger werden könnten.

Die Antwort unseres Herrn ist ermutigend: „Kommt, und ihr werdet sehen“ (Vers 39). Das ist eine ganz andere Antwort als die, die Jesus bei anderer Gelegenheit jemandem gab, der sich Ihm antrug: „Als sie die Straße entlang gingen, sagte jemand zu ihm: ‚Ich will dir folgen, wo immer du auch hingehst.’ Jesus aber sprach zu ihm: ‚Füchse haben ihren Bau und die Vögel der Lüfte haben ihre Nester, aber der Menschensohn hat nichts, um sein Haupt niederzulegen’“ (Lukas 9:57-58).

Wenn Jünger-Sein buchstäblich bedeutete, seinem Meister zu folgen, dann musste man auch mit diesem Meister zusammenwohnen. Wenn Jesus also diesem „Möchtegern“-Jünger sagt, dass er nirgendwo wohnen könne, war das möglicherweise eine höfliche Absage unseres Herrn an das Angebot, dass der andere Sein Jünger werden wollte. Wenn Jesus andererseits die Jünger des Johannes einlädt zu sehen, wo Er wohnt, lädt Er sie wohl ein, Ihm als Seine Jünger zu folgen. Manche Bibelstudierende fassen das so auf, dass die zwei Männer, die Jesus ja um 4:00 nachmittags begegnen, die Nacht in Seinem Haus verbringen71.

Andreas bringt Simon zu Jesus
(1:40-42)

40 Einer der beiden Jüngern, die Johannes’ Worte gehört hatten und Jesus nachfolgten, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. 41 Er suchte zuerst72 seinen Bruder Simon auf und sagte zu ihm: „Wir haben den Messias gefunden“ (was übersetzt ‚Christus’, der Gesalbte, bedeutet). 42 Andreas brachte Simon zu Jesus. Jesus schaute ihn an und sprach: „Du bist Simon, der Sohn des Johannes. Du wirst Kephas genannt werden“ (was übersetzt ‚Petrus’, der Fels, bedeutet).

Aus Vers 40 erfahren wir, dass Simons Bruder Andreas einer der beiden Jünger war, die Jesus nach Hause folgten. Wie viele andere auch gehe ich davon aus, dass der andere Mann, der Johannes den Täufer verließ, um Jesus zu folgen, der Apostel Johannes war. Andreas suchte unverzüglich seinen Bruder Simon auf und erzählte ihm: „Wir haben den Messias gefunden“ (Vers 41). Der Ausdruck „Messias“ ist die Wiedergabe eines hebräischen Wortes mit der Bedeutung „gesalbt“. Dieses hebräische Wort wird in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments (der Septuaginta) sonst immer mit Cristo („Christos“) übersetzt. Priester (Exodus 28:41, 40:15 etc.), Propheten (1. Könige 19:16) und Könige (1. Samuel 9:16, 16:3; 2. Samuel 12:7) wurden mit Öl gesalbt, um sie so für ihr Amt und ihre Verpflichtung zu weihen. Von all den „Gesalbten“ des Alten Testaments hebt sich eine Gestalt ab, die über allen anderen steht: „Du liebst die Gerechtigkeit und hasst das Böse; / daher hat Dich Gott, Dein Gott, / mit dem Öl der Freude gesalbt über alle Deine Gefährten“ (Psalm 45:7; siehe auch Psalm 2:2, NKJV).

Im Alten Testament wurde dieser Begriff („Christos“, „der Christus“) zu einem der Namen, mit denen der verheißene Erlöser (Daniel 9:25-26) bezeichnet wurde. Nur zweimal kommt das Wort „Messias“ im Neuen Testament vor, und zwar beide Male im Johannes-Evangelium:

Er suchte zuerst seinen Bruder Simon auf und sagte zu ihm: „Wir haben den Messias gefunden“ (was übersetzt ‚Christus’, der Gesalbte, bedeutet) (Johannes 1:41).

Die Frau sagte zu ihm: „Ich weiß, dass der Messias kommt (der da Christus genannt wird). Und wenn er kommt, wird er uns alles kundtun“ (Johannes 4:25).

Meistens wird der erwartete Messias (um hier den hebräischen Begriff für „der Gesalbte“ zu gebrauchen) als „der Christus“ bezeichnet. Dieser Ausdruck erscheint 56 Mal im Neuen Testament, davon 17 Mal im Johannes-Evangelium73. Seine Leser davon zu überzeugen, dass Jesus von Nazareth „der Christus“ ist – das ist die Absicht, die Johannes bei der Abfassung seines Evangeliums verfolgt: „Diese aber sind aufgeschrieben worden, auf dass ihr glaubet, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und dass ihr durch den Glauben in Seinem Namen Leben haben möget“ (Johannes 20:31; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Als nun Andreas zu seinem Bruder Petrus kommt, teilt er ihm mit, dass sie „den Messias“, „den Christus“ gefunden haben. Mit dem, was er sagt, hat Andreas natürlich Recht – aber er sagt viel mehr, als er selbst an diesem Punkt im Leben zu erfassen in der Lage ist. Er hat Recht mit seiner Interpretation, dass Jesus „der Messias“ ist. Was es aber bedeutet, „der Messias“ zu sein, müssen er und die anderen Jünger erst noch lernen. Ihre Auffassung ist diesbezüglich begrenzt und gelegentlich auch verzerrt. So kann es geschehen, dass Petrus einerseits sein „großes Bekenntnis“ über Jesus als „den Christus“ ablegt (Matthäus 16:16), und andererseits unmittelbar anschließend „den Christus“ zurechtweist, weil Er von Seinem bevorstehenden Leiden und Tod am Kreuz von Golgatha spricht (Matthäus 16:21-23).

Petrus geht mit Andreas, und sie machen sich auf den Weg zu Jesus. Unser Herr sieht Petrus an und gibt ihm einen neuen Namen: „Kephas“, das aramäische Äquivalent von „Petros“ (Petrus) mit der Bedeutung „Fels“. Interessanterweise „ruft“ Jesus Petrus an dieser Stelle nicht, und Petrus bietet sich ihm auch nicht an (allerdings könnte Johannes solche Einzelheiten schlicht weggelassen haben). Statt dessen gibt Jesus Simon einen neuen Namen und nennt ihn Petrus, „der Fels“. Jemandem einen Namen zu geben, hat in der Bibel weitreichende Bedeutung. Adam gab den Tieren, die Gott geschaffen hatte, ihre Namen: darin drückt sich die Tatsache aus, dass Gott ihn dazu ernannt hatte, über Seine Schöpfung zu „herrschen“. Gott gab einer Reihe von Menschen neue Namen, unter anderem wurde Abram zu Abraham, Sarai zu Sarah und Jakob zu Israel. Darin spiegelt sich Gottes Souveränität wider, denn mit dem Namen wird Er auch das Schicksal dessen ändern, dessen Namen Er geändert hat74. Simon ist alles andere als ein „Fels“, als Jesus ihm zum ersten Mal begegnet. Bei seinem „großen Bekenntnis“ (Matthäus 16:15-19) beginnt er felsenhafte Eigenschaften an den Tag zu legen, aber erst nach der Auferstehung unseres Herrn und nach Pfingsten wird Petrus wirklich zu einem „Fels“. Ich glaube nicht, dass unser Herr „felsenhafte“ Neigungen oder ein entsprechendes Potenzial in Simon sah. Vielmehr glaube ich, dass unser Herr beabsichtigte aus Simon einen Fels zu machen und dass Er Seine Absicht dann auch ausführte. Dieser Grünschnabel hat nichts Felsenhaftes; erst unser Herr macht einen Fels aus dem Mann. Simons Umbenennung ist damit prophetisch75.

In den synoptischen Evangelien erfahren wir nie, wie oder wann Simon den Namen „Petrus“ erhielt. Wir erfahren nur, dass sein Name Petrus war. Überall in diesen Evangelien wird er entweder „Simon“ oder „Petrus“ oder „Simon Petrus“ genannt. Allein unser Text versieht uns mit Informationen darüber, wie Petrus zu seinem Namen kam. Wieder einmal sehen wir hier den einmaligen Beitrag, den das Johannes-Evangelium zum Schriftenkanon leistet.

Der Ruf an Philippus
und das Bekenntnis des Nathanael
(1:43-51)

43 Am folgenden Tag wollte Jesus76 nach Galiläa aufbrechen. Er77 fand Philippus und sagte zu ihm: „Folge mir nach.“ 44 Philippus aber kam aus Bethsaida78, der Stadt des Andreas und des Petrus. 45 Philippus fand Nathanael und sagte zu ihm: „Wir haben den gefunden, über den Moses im Gesetz schrieb und über den auch die Propheten schrieben – Jesus von Nazareth, den Sohn Josephs79.“ 46 Nathanael sagte zu ihm: „Was kann aus Nazareth denn Gutes kommen?” Philippus erwiderte: „Komm und sieh.“ 47 Jesus sah Nathanael herankommen und sagte über ihn: „Siehe, ein wahrer Israelit, in dem kein Falsch ist!“ 48 Nathanael fragte ihn: „Woher kennst du mich?“ Jesus erwiderte: „Bevor Philippus dich rief, sah ich dich, als du unter dem Feigenbaum warst.“ 49 Nathanael antwortete ihm: „Rabbi, du bist der Sohn Gottes; du bist der König von Israel!“ 50 Jesus sprach zu ihm: „Weil ich dir sagte, dass ich dich unter dem Feigenbaum sah, glaubst du? Du wirst noch größere Dinge sehen als das.“ 51 Und er fuhr fort: „Ich sage euch die tiefe Wahrheit: Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes zu des Menschen Sohn auf- und niederfahren sehen80.“

Als Jesus nach Galiläa kommt, begegnet Er zunächst Philippus und ruft ihn als Jünger zu sich81. Interessanterweise ist es in diesem Evangelium nur Philippus, den unser Herr so einlädt. In den synoptischen Evangelien gibt es, wie erwähnt, noch andere Rufe zur Jüngerschaft. Aber im Johannes-Evangelium wird nur Philippus eingeladen, Jesus „nachzufolgen“, und zwar an dieser Stelle in unserem Text. Das ist ausgesprochen interessant, denn Philippus scheint gar nicht die Art Mensch zu sein, von dem man erwarten würde, dass er so durch unseren Herrn herausgehoben wird.

In den synoptischen Evangelien kommt Philippus einmal pro Evangelium vor, und zwar dort, wo die zwölf Männer namentlich aufgezählt werden, die Jesus zu Seinen Jüngern ernannt hatte. Ansonsten wird über ihn selbst als Individuum bei den Synoptikern nichts gesagt. Auf die Frage, was Philippus denn für ein Mensch war, wüssten wir allein aus den synoptischen Evangelien nichts zu sagen. Im Johannes-Evangelium erscheint Philippus’ Name 12 Mal, und es werden verschiedene Ereignisse beschrieben, die etwas über ihn aussagen:

4 (Das jüdische Passahfest war aber nahe.) 5 Als Jesus dann den Blick erhob und sah, dass eine große Volksmenge zu ihm kam, sagte er zu Philippus: „Wo können wir Brot kaufen, damit diese Menschen essen können?“ 6 (Jesus sagte dies aber, um ihn zu prüfen, denn er wusste wohl, was er tun wollte.) 7 Philippus erwiderte: „Für zweihundert Silbermünzen Brot wäre nicht genug für sie, dass jeder ein wenig bekomme“ (Johannes 6:4-7).

20 Es waren aber einige Griechen unter denen, die heraufgekommen waren, um auf dem Fest anzubeten. 21 Die traten dann an Philippus heran, der von Bethsaida in Galiläa war, und baten: „Mein Herr, wir möchten gerne Jesus sehen.“ 22 Philippus ging hin und sagte es Andreas, und sie beide gingen hin und sagten es Jesus. 23 Jesus erwiderte: „Die Zeit ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde“ (Johannes 12:20-23).

6 Jesus erwiderte: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich. 7 Wenn ihr mich erkannt habt, werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Und von nun an kennt ihr ihn und habt ihn gesehen.“ 8 Philippus sagte: „Herr, zeige uns den Vater und wir werden es zufrieden sein.“ 9 Jesus erwiderte: „So lange bin ich bei euch gewesen und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen! Wie kannst du sagen ‚Zeige uns den Vater’? 10 Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir ist? Die Worte, die ich zu euch spreche, sage ich nicht aus eigener Autorität heraus, sondern der Vater, der in mir wohnt, tut seine wunderbaren Werke. 11 Glaubt mir, dass ich im Vater bin und der Vater in mir ist; wenn ihr aber mir nicht glaubt, so glaubt es um der wunderbaren Werke selbst willen“ (Johannes 14:6-11).

Ich muss immer lachen, wenn ich Leon Morris’ ironischen Kommetar lese, dass Philippus in diesen Texten „etwas unsicheren Boden unter den Füßen“ zu haben scheint82. Philippus scheint nicht gerade der Typ zu sein, der in der Schule aus seinem Abschlussjahrgang zum „Most likely to succeed“ gewählt worden wäre. Ihm fehlten vielleicht das Selbstvertrauen und die Eigeninitiative, um sich selbst zu behaupten und Christus ohne entsprechende Einladung zu folgen. Der Ruf an Philippus illustriert also ein Prinzip, das in der Bibel oftmals zutage tritt, am deutlichsten aber von dem Apostel Paulus ausgesprochen wurde:

26 Bedenkt die Umstände eurer Berufung, Brüder und Schwestern. Nur wenige waren weise nach menschlichen Maßstäben, nur wenige waren mächtig, nur wenige gehörten zur Oberschicht. 27 Aber Gott erwählte, was die Welt für töricht hält, um die Weisen zu beschämen, und Gott erwählte, was die Welt für schwach hält, um die Starken zu beschämen. 28 Gott erwählte, was niedrig und verachtet ist in der Welt, was als Nichts erachtet wird, und ließ außer Acht, was als Etwas erachtet wird, 29 damit sich niemand in seiner Gegenwart rühmen kann. 30 Er allein ist der Grund dafür, dass ihr Gemeinschaft habt mit Christus Jesus, der für uns zur Weisheit von Gott geworden ist, und zur Gerechtigkeit und Heiligung und Erlösung, 31 damit es so sei, wie es geschrieben steht: „Wer sich rühmt, der rühme sich im Herrn“ (1. Korinther 1:26-31).

Nachdem wir alle Fakten berücksichtigt haben, wollen wir uns aber auch daran erinnern, dass Philippus auf die Einladung unseres Herrn hin zu einem der wenigen Privilegierten wurde, die Jesus als die Zwölfe folgen durften. Dieser Mann brachte außerdem, trotz seiner Begrenztheit, andere Menschen zum Erlöser, wie wir in Kürze für uns selbst sehen werden.

Als Nächster kommt Nathanael, ein ausgesprochen interessanter Charakter. Sein Name wird nur im Johannes-Evangelium genannt, fünf Mal in Kapitel 1 und einmal in Kapitel 21. Weder in den anderen Evangelien noch im restlichen Neuen Testament wird er je erwähnt. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass Nathanael der „Bartholomäus“ der synoptischen Evangelien ist83. Nathanael kommt im Johannes-Evangelium ganz anders daher als Philippus. Wo Philippus ein Mann mit offenbar „unsicherem Grund unter den Füßen“ ist, scheint Nathanael, mehr als die anderen, ein Mann von tief gründender Spiritualität zu sein.

Es ist Philippus, der Nathanael Jesus vorstellt: „Wir haben den gefunden, über den Moses im Gesetz schrieb und über den auch die Propheten schrieben – Jesus von Nazareth, den Sohn Josephs“ (Vers 45). Philippus stellt Jesus dar als die Erfüllung sämtlicher Prophezeiungen, die sich auf den Messias beziehen – von Moses angefangen bis hin zu den Propheten. Damit hat er natürlich vollkommen recht. Das erinnert mich an die folgenden Worte am Ende des Lukas-Evangeliums:

25 Also sprach er zu ihnen: „Ihr törichten Leute, die ihr trägen Herzens seid, an all die Dinge zu glauben, die die Propheten geredet haben! 26 Musste nicht der Christus alle diese Dinge erleiden und zu seiner Herrlichkeit eingehen?“ 27 Und ausgehend von Moses und all den Propheten legte er ihnen aus allen Schriften die Dinge aus, die über ihn geschrieben waren (Lukas 24:25-27).

Etwas von dem, was Nathanael hört, macht ihm sehr zu schaffen. Es ist nicht, dass Jesus „der Sohn Josephs“ ist, sondern dass Er „Jesus von Nazareth“ ist. Wir erkennen an dieser Stelle, dass es zu Jesu – geradeso wie in unserer eigenen – Zeit Vorurteile über bestimmte Orte gab. In den Vereinigten Staaten gibt es zum Beispiel noch immer Ressentiments zwischen den Nord- und den Südstaatenbewohnern. Es gibt bestimmte Vorurteile Menschen gegenüber, die in den Ozarks oder den Appalachen leben. Man geht davon aus, dass große Persönlichkeiten aus bestimmten Gegenden kommen müssen, während Menschen aus anderen Gebieten eher irgendwie zurückgeblieben sind. Solche „geographischen“ Vorurteile existieren, wenn auch vielleicht nur unterschwellig.

Galiläa scheint zu Jesu Zeiten so etwas wie „die Ozarks“ gewesen zu sein, und als Galiläer charakterisiert zu werden scheint kein Kompliment gewesen zu sein (siehe Markus 14:69-70). Auch für unseren Herrn scheint es kein Kompliment gewesen zu sein, dass Er als Nazarener (einer aus Nazareth, einer Stadt in Galiläa) bekannt war. Zumindest in Nathanaels Augen spricht es – was den Anspruch betrifft, der Messias zu sein – nicht für Jesus, dass Er aus Nazareth kommt. Der Apostel Johannes hat diese Worte aus gutem Grund eingefügt, und zwar um zu zeigen, wie skeptisch Nathanael Jesus gegenübersteht. Von dem Wenigen her, was er über Ihn weiß, ist Nathanael nicht geneigt zu akzeptieren, dass Jesus der Messias sein könnte. Die radikale Sinneswandlung, die wir dann innerhalb weniger Verse sehen, ist also ein Hinweis darauf, wie zwingend und gewichtig die Beweise sein müssen, die Nathanael dazu bringen, Jesus als den Messias zu bekennen. Johannes spart hier offensichtlich das Beste bis zum Schluss auf, denn Nathanaels Bekenntnis ist das tiefste und umfassendste: „Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König von Israel!“ (Vers 49). Lassen Sie uns nun betrachten, wodurch Nathanaels Meinung so rasch und so durchgreifend verändert wurde.

Um die Ausgangssituation klar zu machen, müssen wir ganz bis zum Buch Genesis im Alten Testament zurückgehen und das folgende Ereignis im Leben Jakobs nachlesen, dessen Namen Gott in „Israel“ umbenannte:

10 Und Jakob zog von Beerscheba fort und machte sich auf den Weg nach Haran. 11 So kam er an eine Stätte und blieb dort über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen von den Steinen an diesem Ort und setzte ihn als Kopfstütze hin und legte sich dort zum Schlafen nieder. 12 Da träumte ihm, und siehe, da wurde eine Leiter auf die Erde gestellt und ihre Spitze reichte bis zum Himmel, und die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. 13 Und siehe, der Herr stand oben und sprach: „Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks; das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. 14 Auch sollen deine Nachkommen wie die Staubkörner auf der Erde sein; du sollst dich ausbreiten zum Westen und zum Osten, zum Norden und zum Süden; und in dir und deinem Samen sollen alle Geschlechter der Erde gesegnet werden. 15 Siehe, ich bin bei dir, und ich will dich behüten, wo immer du hingehst, und ich will dich zurück in dieses Land bringen; denn ich werde dich nicht verlassen, bis ich getan habe, was ich zu dir geredet habe.“ 16 Da erwachte Jakob aus dem Schlaf und sagte: „Wirklich, der Herr ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht.“ 17 Und er fürchtete sich und sprach: „Wie Ehrfurcht gebietend ist dieser Ort! Dies ist nichts anderes als das Haus Gottes und es ist das Tor zum Himmel!“ (Genesis 28:10-17, NKJV).

Jakob war ein Intrigant und Betrüger. Es war ihm gelungen, seinen älteren Bruder und seinen Vater zu hintergehen, indem er Esau um sein Erstgeburtsrecht brachte (Genesis 25) und von Isaak und Esau einen Segen ergaunerte (Genesis 27). Er floh aus Kanaan, und insbesondere vor Esau, unter dem (teilweise zutreffenden) Vorwand, dass er eine Frau unter seinen Verwandten in Paddan-Aram suchen wolle. Auf seinem Weg nach Paddan-Aram verbrachte Jakob die Nacht unter freiem Himmel. In dieser Nacht hatte er einen Traum, in dem er eine Leiter sah, die sich von der Erde bis in den Himmel erstreckte. Auf dieser Leiter stiegen Engel auf und nieder. Dann sprach Gott zu Jakob und erneuerte den Bund, den Er mit Jakobs Vorfahren Abraham und Isaak geschlossen hatte. Gott verhieß Jakob, dass Er ein großes Volk aus ihm machen werde, und auch, dass Er ihn sicher in das Land zurückbringen werde, das er im Begriff war zu verlassen.

Als Jakob am Morgen erwachte, erinnerte er sich noch lebhaft an den Traum, den er in der Nacht geträumt hatte. Interessant an seiner Reaktion ist es, welche Aspekte dieses Traumes er als wichtig und eindrucksvoll empfand: Jakob war ganz auf den Ort fixiert, an dem ihm der Traum geschenkt worden war (Genesis 28:16-17). Er war vollkommen überwältigt von der Tatsache, dass Gott an diesem Ort gegenwärtig war und dass er das (bis zu seinem Traum) gar nicht erkannt hatte. Sein Sinn fixierte sich auf diesen Ort als einen Ort der Gegenwart und Wohnung Gottes, einen Ort, wo Himmel und Erde, Gott und Mensch zusammenkamen. Mit Jakobs Worten gesagt, war dieser Ort das Tor zum Himmel.

Der Traum hatte ganz unmittelbare Auswirkungen für Jakob, weil er die Wiederholung des Abrahamischen Bundes war – nur dass es dieses Mal Jakob war, durch den die Segnungen verliehen werden würden. Was aber vielleicht (zu diesem Zeitpunkt) noch wichtiger für Jakob war: der Traum stellte für ihn einen ganz realistischen Anreiz dar, nach Israel zurückzukehren. Wie leicht wäre es für Jakob gewesen, nach Paddan-Aram zu fliehen und niemals wieder in das verheißene Land zurückzukehren. Nun erkannte Jakob nicht nur, dass Gott ihm seinen Segen verheißen hatte, sondern auch, dass Er ihn letztendlich an diesem Ort segnen würde. Das Land Israel war, in gewisser Hinsicht, das Tor zum Himmel, ein besonderer Ort, wo Gott und die Menschen sich begegnen konnten, wo auch Himmel und Erde sich begegneten. Er konnte diesen heiligen Ort eine Zeit lang verlassen, aber er musste zurückkehren. So geschah es, dass Jakob schwor zurückzukehren und Gott den Zehnten zu geben, solange Gott ihm Schutz und Gedeihen gewährte.

Was hat all das mit unserem Text im Johannes-Evangelium zu tun und damit, dass Nathanael an Jesus als den verheißenen Messias glaubte? Eine ganze Menge! Ich beziehe mich dabei auf die Worte, die unser Herr in den Versen 47-51, insbesondere in Vers 51, zu Nathanael spricht: „Ich sage euch die tiefe Wahrheit: Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes zu des Menschen Sohn auf- und niederfahren sehen.“ Diese Worte können nichts anderes sein als eine Anspielung auf die Episode aus Genesis 28, die wir gerade gelesen haben. Ich möchte Ihnen also einen Vorschlag machen, wie sich die Dinge zugetragen haben mögen. Es kann natürlich sein, dass sie sich nicht genau so zugetragen haben – aber sie könnten sich doch so ähnlich zugetragen haben.

Wir wissen mit Sicherheit, dass Nathanael, als (oder unmittelbar bevor) Philippus ihn aufsuchte, „unter dem Feigenbaum“ war (Vers 48). Manche meinen, dass dies ein Ort war, den Nathanael, wie andere Israeliten auch, aufsuchte, um zu meditieren und zu beten:

Der Feigenbaum war fast so etwas wie ein Symbol für zuhause (vgl. Jes 36:16, Mi 4:4, Sach 3:10). Für spätere Zeiten steht fest, dass sein Schatten als Ort für Gebet und Meditation und Studium genutzt wurde; und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass solche Gewohnheiten nicht auch bis in diese Zeit zurückreichten. Wahrscheinlich hatte Nathanael in der Abgeschiedenheit seines Zuhause irgendeine außerordentliche Erfahrung der Gemeinschaft mit Gott gemacht, und dies war es, worauf Jesus sich bezog. Was immer es war: Nathanael erkannte die Anspielung.84

Ich neige zu der Ansicht, dass Nathanael unter dem Feigenbaum über Jakob, und insbesondere über den Text im Buch Genesis, gelesen und meditiert hatte (ähnlich wie der äthiopische Eunuch gerade im Buch Jesaja gelesen hatte, bevor Philippus zu ihm kam – Apostelgeschichte 8:26-40). Jakob war ein Mensch voller Falschheit. Die meiste Zeit seines Lebens intrigierte und manipulierte er, um auf Kosten anderer voranzukommen. Jakob war auch der erste „Israelit“, insofern als Gott ihn in Kürze in „Israel“ umbenennen würde (Genesis 32:28). Er war der erste „Israelit und voller Hinterlist“.

Nachdem Philippus auf Nathanael getroffen ist und ihm erzählt hat, dass sie den Messias gefunden haben, Den, der im Gesetz des Moses und der Propheten verheißen wurde, macht sich Nathanael auf den Weg, um diesen Jesus selbst in Augenschein zu nehmen. Als Nathanael näher kommt, spricht Jesus zu anderen Menschen über ihn, und er überhört die Worte: „Siehe, ein wahrer Israelit, in dem kein Falsch ist!“ Diese Worte lassen Nathanael auf dem Fleck stehenbleiben. Er hat noch nicht Jesu Bekanntschaft gemacht, noch nicht einmal mit ihm gesprochen, und doch beschreibt Jesus sein Herz und seinen Charakter ganz genau. Wenn Jesus so etwas von mir gesagt hätte, hätte ich geantwortet: „Wer? Ich?“ Nathanael aber akzeptiert die Worte unseres Herrn als die Wahrheit und daher antwortet er: „Woher kennst du mich?“ Anders ausgedrückt: „Woher weißt du, dass ich ein Israelit ohne Falsch bin?“

An dieser Stelle sollten verschiedene Dinge festgestellt werden. Erstens: Jesus sagt nicht: „Siehe, ein Israelit, in dem keine Sünde ist.“ Nathanael ist ein Sünder, wie jeder andere Mensch auch (mit Ausnahme unseres Herrn). Zweitens: Wenn die Worte unseres Herrn auch zutreffend und ein Lob für Nathanael sind, so sind sie doch nicht unbedingt ein Lob für die Juden im allgemeinen. Bestimmte Rassen haben bestimmte sündige Neigungen (siehe Titus 1:12-13), und Jesus spielt darauf an, dass Betrug bei den Israeliten vielleicht allzuoft anzutreffen ist. Drittens: Die Worte unseres Herrn schätzen Nathanaels Charakter in gewisser Weise so zutreffend ein, als könne unser Herr in seine Seele hineinschauen und ihn beurteilen, ohne ihn auch nur persönlich zu kennen. Das ist es, was Nathanael offensichtlich beeindruckt.

Und noch ein vierter Faktor sollte beachtet werden: Unser Herr gibt mit seinen Worten nicht nur eine zutreffende Beurteilung von Nathanaels Charakter ab, sondern er spricht wohl zudem genau das an, worüber Nathanael unter dem Feigenbaum meditiert hatte, als er Jesus noch gar nicht begegnet war. Jesus „sah“ Nathanael kommen (Vers 47), aber schon davor „sah“ Er Nathanael unter dem Feigenbaum, wo dieser dachte, dass niemand ihn sehen könne (Vers 48). Und um der Sache die Krone aufzusetzen, spricht Jesus Nathanael auch noch mit genau dem Text und Thema an, worüber dieser zuvor meditiert hatte. War Jakob, der erste Israelit, ein Intrigant, ein Mann voller Falschheit? Nathanael ist ein wahrer Israelit ohne Falsch. Er ist ein Mensch, der geradezu handelt und nicht unter der Hand taktiert.

Ich glaube, Johannes sagt hier sogar noch mehr. Nathanaels erster Eindruck von Jesus ist falsch. Er bezweifelt, dass aus Nazareth irgendetwas Gutes kommen könnte. Nathanael stellte Philippus’ Empfehlung allein aufgrund von Jesu Geburtsort infrage. Ist es nicht bemerkenswert, dass der „Ort“ auch das war, was Jakob in seinem Traum über die Leiter am meisten beeindruckt hatte? Jakob stellte fest, dass dieser „Ort“ heilig war, dass dort Gott den Menschen begegnete; er war das Tor zum Himmel. Das stimmte natürlich, aber es war doch nur ein Teil der Botschaft, die Gott Jakob vermitteln wollte.

Um Nathanael an Jesus glauben zu lassen, braucht es nicht mehr als dass unser Herr in seine Seele hineinsieht, seinen wahren Charakter ermisst, ihm sagt, dass Er ihn gesehen hat, wo ihn seines Wissens niemand gesehen hat, und ihm genau das Thema und den Text offenbart, über die er zuvor meditiert hat. Nathanael erwidert enthusiastisch: „Du bist der Sohn Gottes; Du bist der König von Israel.“ Als wäre das nicht genug, fährt Jesus fort: Davon ist Nathanael beeindruckt? Es ist dies nur die Spitze des Eisbergs, der Vorbote größerer Dinge, die erst noch bevorstehen. Nathanael wird noch viel größere Dinge erleben als dies.

Jesu nächste Aussage stellt den Höhepunkt seiner Rede an Nathanael dar und Er leitet sie ein mit den Worten: „Ich sage euch die tiefe Wahrheit…“ (wörtlich: „wahrlich, wahrlich,“; Vers 51). Was darauf folgt, sind Worte von großer Wichtigkeit, die mit Sorgfalt und Aufmerksamkeit gehört werden sollten. Der Ausdruck „wahrlich“ entspricht wörtlich der griechischen Übersetzung des hebräischen „Amen“. Faszinierend ist hierbei, dass Jesus diesen Ausdruck nimmt und ihm eine einmalige und besondere Bedeutung verleiht. Er modifiziert die übliche Bedeutung. Morris hat das am besten ausgedrückt:

‚Wahrlich’ ist nicht die Übersetzung eines griechischen Wortes, sondern die Übertragung eines aramäischen (oder hebräischen) Wortes, nämlich Amen. Es ist dies das Partizip eines Verbs mit der Bedeutung ‚bestätigen’, und es wurde benutzt, um Zustimmung auszudrücken. Beispielsweise war (und ist) es die Antwort der Gemeinde auf das Gebet dessen, der den Gottesdienst anführt; und sie macht es auf diese Weise zu ihrem eigenen Gebet (1. Ko 14:16). Nur sehr selten ist es auch der Abschluss des eigenen Gebets (z.B. Tobit 8:7f.), wenn dieses den Charakter eines Wunsches hat. In dieser Form wird es aber wirklich selten gebraucht; üblicherweise ist es die Zustimmung zu etwas, was ein anderer gesagt hat. In den Evangelien wird es nur von Jesus alleine benutzt, und zwar immer als Vorsatz zu einer wichtigen Äußerung. Vermutlich geschieht dies, um eine solche Äußerung als tiefgründig und wahr und wichtig zu kennzeichnen. Dieser Gebrauch von Amen als Einleitung seiner eigenen Worte scheint nur Jesu eigen zu sein; es kann keine wirkliche jüdische Parallele dazu angeführt werden.85

Hat Nathanael, in ähnlicher Weise wie Jakob, eine Affinität zu bestimmten Orten? Glaubt Nathanael, dass Gott den Menschen nur an einem bestimmten Ort begegnen will? Das stimmt ja in gewisser Weise, insbesondere in der Vergangenheit Israels. Von nun an aber geht es nicht mehr um den Ort, sondern um die Person86. Fixiert Jakob seine Aufmerksamkeit auf das Land, auf das die Himmelsleiter gestellt wurde? Nun gut. Jesus aber gibt Nathanael zu verstehen, dass er mit der Zeit erkennen wird, dass Jesus Selbst die Leiter ist. Den Zugang von der Erde zum Himmel gibt es durch Jesus Christus, Israels Messias. Durch Jesus Christus, Gottes einzigen Mittler, können Menschen in eine Beziehung zu Gott treten und den Weg in den Himmel finden. Es ist, als wolle unser Herr sagen: „Sieh nicht auf den Boden, auf den die Leiter gestellt ist; sieh auf die Leiter. Ich bin diese Leiter. Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Kein Mensch kommt zum Vater außer durch Mich.“

Schlussfolgerung

Unser Text lehrt uns viel über das Thema der Jüngerschaft. Als unser Herr auf die Erde kam, kam Er als Mensch dorthin. Er kam, um unter den Menschen zu leben und insbesondere um mit einigen Menschen enge Gemeinschaft zu pflegen. Die Marines hätten es sicher gerne, wenn wir sagen würden: „Er pflegte Gemeinschaft mit ‚einigen guten Menschen’.“ Das trifft aber eigentlich nicht zu. Es waren zwar einige Menschen, aber sie waren überhaupt nicht das, was man gute Menschen nennen würde. Sie waren nicht alle Spitzenklasse, nicht die Art von Menschen, denen alles gelingt, was sie in die Hand nehmen. Die ersten vier Männer, die Jesus in den synoptischen Evangelien zu sich ruft, sind Fischer, und der Apostel Johannes ist einer von diesen Männern. Simon ist dazu bestimmt, „der Fels“ zu werden; das liegt aber nicht in irgendwelchen Eigenschaften begründet, die schlafend und unberührt in ihm liegen und durch die Verbindung zu unserem Herrn beschleunigt entwickelt werden. Petrus wird zwar zum „Fels“ – dies aber größtenteils trotz seiner Anlagen. Es ist das Resultat dessen, was Gott in ihm und durch ihn wirkt.

Auch Philippus scheint nach dem, was wir im Johannes-Evangelium über ihn erfahren, nicht gerade ein „Schnäppchen“ gewesen zu sein. Vielleicht hatte er „keinen festen Boden unter den Füßen“. Verlieren Sie aber nicht den Boden unter den Füßen, wenn sie versuchen Zeugnis abzulegen, wenn Sie versuchen die Befehle Christi auszuführen, wenn sie sich darum bemühen, Ihre Feinde zu lieben? Unser Herr erwählte die „Schwachen“ dieser Welt zu Seinen Jüngern, damit es ganz klar würde, dass Er die Grundlage ihres späteren Erfolges ist (siehe Apostelgeschichte 4:13, 1. Korinther 1:26-31). Aber auch in einem anderen Sinne erwählte Er Menschen, einfach und souverän, trotz ihrer Schwächen und ihrer Fehler, um ihnen Seine Liebe und Gnade zuteil werden zu lassen.

Dieser und andere Texte, die vom „Ruf“ an die Zwölf sprechen, sollten unseren Glauben infrage stellen, dass Jesus diese Männer auf der Grundlage dessen zu Seinen Jüngern erwählte, was sie für Sein Königreich tun könnten und würden. Ich höre viel zu oft sagen: „Wenn der und der gerettet werden sollte – denk doch nur, was er (oder sie) für die Sache Christi tun könnte.“ Drei von den zwölf Männern, die Jesus erwählte, waren Petrus, Jakobus und Johannes. Diese Männer gehörten alle zu dem „inneren Kreis“ aus dreien der Jünger unseres Herrn. Jakobus und Johannes waren Brüder. Sie hatten denselben Background, dieselben Erfahrungen in der Nachfolge unseres Herrn. Und doch war Jakobus der erste und Johannes der letzte, der starb. Erwählte Jesus Jakobus zu den Zwölfen und zu den Dreien wegen des Beitrags, den er leisten würde? Wohl kaum87. Jesus erwählte Jakobus vielleicht allein deswegen zu den Inneren Drei, um ihm so das Privileg engster Gemeinschaft mit Ihm Selbst zu gewähren. Wenn Jesus die Zwölf danach aussuchte, was sie für das Königreich tun würden – warum sehen wir dann im Buch der Apostelgeschichte so wenig von den meisten von ihnen? Warum spielen Männer wie Stephanus und Philippus (und andere, die noch nicht einmal namentlich genannt werden; vgl. Apostelgeschichte 11:20-21) eine solch herausragende Rolle bei der Ausbreitung der Kirche? Gottes Erwählung der Zwölf war Seine souveräne Wahl, so wie Er immer diejenigen souverän erwählt, die mit Ihm in Gemeinschaft treten sollen. Es gibt also keinerlei Grund, sich dessen zu rühmen.

Ich hätte gedacht, dass Jesus Nathanael und nicht Petrus dazu erwählt hätte, „der Fels“ zu werden. Nathanael scheint der „geistlichste“ all derer zu sein, die Jesus in diesem Kapitel des Johannes-Evangeliums nachfolgen, und doch hören wir im restlichen Neuen Testament nirgendwo von irgendeinem wesentlichen Dienst oder Beitrag, den er (oder Bartholomäus, der wohl dieselbe Person war) geleistet hätte. Wir sind, glaube ich, gezwungen, unsere vorgefassten Meinungen über die zwölf Jünger unseres Herrn – vielleicht sogar die über die Inneren Drei (Petrus, Jakobus, Johannes) – teilweise zu überdenken. Meiner Erfahrung nach gibt es überall in der Gemeindeführung ein verbreitetes Missverständnis darüber, dass Führerschaft auf der Basis der Spiritualität verteilt würde – je höher jemand in der christlichen Leitung aufsteigt, umso spiritueller muss er wohl sein88.

Aber wenn man so in den Evangelien liest, erscheint es recht eindeutig, dass einige Frauen, die in Verbindung mit Jesus standen, ein wesentlich größeres spirituelles Verständnis für unseren Herrn und Seinen Dienst hatten als die Männer, die ihm nachfolgten. Es gibt zwar bestimmte spirituelle Qualifikationen, die jeder Älteste erfüllen sollte, aber ich möchte trotzdem nicht sagen, dass die Ältesten (allein aufgrund der Tatsache, dass sie Älteste sind) die spirituellsten Menschen in der Gemeinde sind. Um dieses Argument noch auf ein wichtiges Gebiet innerhalb der heutigen Kirche auszuweiten: einer der Irrtümer, die in der frühen Kirche (besonders in der Gemeinde von Korinth) vorherrschten, war das Missverständnis, dass der Besitz bestimmter geistlicher Gaben Beweis für eine besonders tiefe Spiritualität wäre. Man kann aber, glaube ich, nicht sagen, dass die Jünger deswegen ausgewählt wurden, weil sie spiritueller als andere gewesen wären.

Statt an ihre Qualitäten sollten wir vielleicht lieber an die Mängel denken, die die Jünger aufwiesen. Ein Gesichtspunkt bei ihrer Berufung war vielleicht reines Erbarmen. Haben Sie je einen Wurf junger Hunde betrachtet und versucht, einen davon für Sie selbst herauszusuchen? Erinnern Sie sich an den „Zwerg“ in diesem Wurf, wie klein er war, wie er vielleicht von den anderen herumgeschubst wurde, sich ängstlich duckte? Hatten Sie den Wunsch, genau diesen kleinen Welpen herauszugreifen und ihm ganz besonders viel Liebe und Zuneigung zukommen zu lassen um alldessen willen, was ihm fehlte? Ich glaube, etwas davon findet sich auch darin, wie unser Herr die Menschen erwählt; nicht nur die, die Seine Jünger werden sollen, sondern auch die, die Er Sich zu retten entschließt.

Als unser Herr diese Männer zu Sich holte, gab es keine Überraschungen. Er wusste genau, wen Er sich erwählte. An Simon Petrus’ Stelle wäre ich ausgesprochen erleichtert gewesen, dass Jesus sich entschieden hatte, den innersten Kern von Nathanael zu enthüllen und nicht meinen eigenen. Er hätte von mir wohl nicht gesagt: „Siehe, ein Mann, in dem kein Falsch ist.“ Ich glaube, ich möchte lieber nicht hören, was Er über mein Inneres sagen würde. Und ganz sicher würde ich nicht wollen, dass Sie hören, was Er über meinen Charakter und meine Eigenschaften sagt. Andererseits wollen Sie, glaube ich, auch nicht, dass ich höre, was Er über Sie zu sagen hätte.

Über die Jahre habe ich viele junge Paare sich verlieben und heiraten sehen. Manche schaffen es nicht, ihre „Liebe“ so zu sehen, wie er/sie wirklich ist. Andere scheinen ihren Geliebten oder ihre Geliebte gut zu kennen. Manchmal geht alles gut, wenn sie heiraten – zumindest eine Zeit lang. Ich weiß nicht, wie oft ich erlebt habe, dass ein oder beide Ehepartner irgendwann einmal eine radikale Wesensänderung durchmachten und scheinbar zu einem vollkommen anderen Menschen wurden. Manchmal ist das die Folge einer Belastung oder eines tragischen Erlebnisses, manchmal aber auch nicht. Ganz plötzlich fühlt sich einer der Ehepartner, als wäre er mit einem Fremden verheiratet, den er gar nicht mehr als den Menschen erkennt, den er einmal kennengelernt und zu heiraten beschlossen hat. Das ist tragisch, und es geschieht öfter, als wir das wahrhaben wollen.

Jesus ist niemals überrascht über die, die Er für die Erlösung und Nachfolge ausgewählt hat. Er wusste, was Er mit Simon (Petrus) bekam, weil Er wusste, was Simon war, und weil Er wusste, was Er in und durch Simon vollbringen würde. Er wusste, was in Philippus und Nathanael war, in Jakobus und Johannes. Er weiß, was in uns ist, wenn Er uns errettet. Er weiß auch, was Er in und durch uns tun wird, durch Seine Gnade und Macht. Gott wird niemals überrascht, weil Er alles weiß. Er kennt unseren Charakter und unsere Schwächen und Stärken. Vor allem aber weiß Er, was Er in uns zu vollbringen beabsichtigt, und Er wird es auch vollbringen. „Denn darüber bin ich voll Zuversicht, dass der, der ein gutes Werk in euch begonnen hat, es auch zur Vollendung bringen wird bis an den Tag Christi Jesu“ (Philipper 1:6).

Wie leicht könnten uns einreden, dass die Aufnahme dieser Jünger unter die Nachfolger Jesu in unserem Text wenig oder gar nichts mit uns selbst zu tun hat. Schließlich waren das Jünger. Elf von ihnen würden zu den Aposteln unseres Herrn werden, zur Grundlage der Kirche. Das stimmt wohl. Zuerst und vor allem wurden sie aber ausgewählt, um an Jesus als den Messias zu glauben, dann, um Ihm nachzufolgen und bei Ihm zu sein. Am Ende würden einige von ihnen dann auch große Dinge für Ihn vollbringen. Vor allem aber sollten sie Ihm einfach nachfolgen.

Für die Menschen heute ist es nicht anders. Jesus ruft uns zuerst, damit wir an Ihn als den Sohn Gottes glauben, als das Lamm, das die Sünde der Welt hinwegnimmt. Aber Er ruft uns auch, damit wir Ihm nachfolgen, damit wir bei Ihm sind, in Seiner Gesellschaft und Gemeinschaft. Johannes scheint die Gesellschaft unseres Herrn am meisten genossen zu haben. Er ist wohl derjenige gewesen, der beim Abendmahl „an Jesu Brust lag“. Er ist wohl derjenige, der in der Nähe bleibt, selbst als unser Herr festgenommen, vor Gericht gestellt und ans Kreuz gehängt wird. Das ist es, was unser Herr uns alle einlädt zu tun: näher zu kommen und in enge Gemeinschaft mit Ihm einzutreten. Was für ein Privileg wir doch darin haben, Seine Jünger zu sein! Um Sein Jünger zu sein, musst du zuallererst an Ihn als den Messias glauben, als Gottes einziges Mittel zur Errettung der verlorenen Sünder. Er ist das „Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“. Er ist es, der anstelle des Sünders am Kreuz von Golgatha starb und der von den Toten auferweckt wurde. Er trug die Strafe für all unsere Sünden und Er versieht uns mit der Gerechtigkeit, die wir selbst nicht haben und die Gott von jedem fordert, der in Sein Himmelreich eintreten will. Wir müssen an Ihn glauben, um Seine Kinder zu werden und in Sein Reich einzugehen. Wir haben nicht nur das Privileg, an Ihn zu glauben, sondern auch das Privileg, Ihm als Seine Jünger zu folgen und jeden Tag in Seiner Gesellschaft zu gehen. Ich bete darum, dass du deinen Glauben in Ihn gesetzt hast und nun Sein Jünger bist und in Seiner Gesellschaft wandelst.


66 Die „synoptischen Evangelien“ betrachten das Leben Christi alle mehr oder weniger aus derselben Perspektive. Johannes dagegen hat einen ganz anderen Ansatz. Dies wurde im Detail in der Einleitung zu dieser Reihe dargelegt.

67 Matthäus 4:18-21; Markus 1:16-20; Lukas 5:1-10.

68 Auch als das „Galiläische Meer“ (Markus 1:16) oder der „See von Tiberias“ (Johannes 5:1) bezeichnet.

69 Matthäus 10:1-4; Markus 3:13-19; Lukas 6:12-16.

70 Bei Johannes geschieht es allein Philippus gegenüber, dass unser Herr die Worte spricht „Folge Mir nach“ (Johannes 1:43). Die anderen werden sicherlich dazu ermutigt, Jesus zu folgen, aber sie werden nicht in der technischen Bedeutung des Wortes „gerufen“.

71 Ich sehe keinen Widerspruch zwischen unserem Text in Johannes 1:39 und dem in Lukas 9:57-58. In der ersten Zeit Seines Dienstes hatte Jesus eine Wohnung (siehe Johannes 2:12); als aber Sein Dienst sich ausweitete und an mehreren verschiedenen Orten stattfand, hatte Er keinen ständigen Wohnsitz mehr. Das erschwerte es übrigens auch den Gegnern unseres Herrn, Ihn „bevor Seine Zeit gekommen war“ gefangen zu nehmen oder zu töten, denn sie wussten nie, wo sie Ihn am nächsten Tag finden würden. Als er dem „Möchtegern“-Jünger in Lukas 9 sagte, dass Er keinen Ort habe, den er Sein Zuhause nennen könne, entsprach das nicht nur der Wahrheit, sondern es war auch alles, was es brauchte, um den Burschen abzuschrecken.

72 Da der Begriff, der hier mit „zuerst“ übersetzt wird, in den griechischen Manuskripten nicht einheitlich steht, gibt es Diskussionen darüber, welches Wort eigentlich benutzt wurde und wie es übersetzt werden sollte. Falls Sie es lohnend finden, diesen Punkt weiter zu verfolgen, möchte ich Sie an die exegetischen Kommentare verweisen. Aber ehrlich gesagt ändert es nicht viel an Sinn und Bedeutung des Textes.

73 1:20,25,41, 3:28, 4:29,42, 6:69, 7:26,27,31,41(2x),42, 10:24, 11:27, 12:34, 20:31.

74 „Die Verleihung eines neuen Namens durch einen Menschen ist Ausdruck der Autorität des Verleihenden (z.B. II. Könige 23:34, 24:17). Wo sie durch Gott geschieht, kündigt sie einen neuen Charakter an, in dem der entsprechende Mensch fortan erscheinen wird (z.B. Gen. 32:28).“ Leon Morris, The Gospel According to John [Das Evangelium nach Johannes], (Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans Publishing Co., 1971), S.160.

75 Das trifft auch für andere Umbenennungen in der Bibel zu. Gott änderte den Namen einer Person nicht, nachdem Veränderungen stattgefunden hatten, sondern bevor diese eintraten. Abram (was „erhabener Vater“ bedeutet) wurde vor der Geburt von Isaak in „Abraham“ („Vater einer großen Menge“) umbenannt (Genesis 17:5).

76 Wörtlich: „er“. „Jesus“ wird hier in der NET-Bibel aus Gründen der Klarheit ergänzt (siehe die Anmerkung zur Übersetzung). Es herrscht Uneinigkeit darüber, ob dieses „er“ sich tatsächlich auf Jesus bezieht. D.A. Carson (The Gospel According to John [Das Evangelium nach Johannes], S. 157-158) vertritt die Meinung, dass das „er“ („Jesus“ in der NET-Bibel) sich nicht auf Jesus, sondern auf Andreas bezieht. Wenn man diese Ansicht akzeptiert, ist es Andreas, der nun Nathanael aufsucht.

77 Die Anmerkung des Übersetzers in der NET-Bibel weist darauf hin, dass der Text wörtlich lautet: „und Jesus sprach zu ihm: ‚Folge mir nach.’

78 Wissenschaftler streiten darüber, ob es zwei Bethsaidas gab oder nicht. Ich glaube nicht, dass das Thema es wert ist, in dieser Lektion vertieft zu werden, wenngleich dieser Punkt in den Kommentaren recht ausführlich diskutiert wird. Die Anmerkung des Übersetzers in der NET-Bibel schlägt vor, dass die griechische Präposition, die an dieser Stelle mit „aus“ übersetzt wird, im Sinne von „herstammend aus“ verstanden werden sollte.

79 Mir gefällt Carsons Kommentar hierzu: „Philippus macht hier genau die Angaben, die im Palästina des ersten Jahrhunderts einen Mann eindeutig identifizierten: der Name seines Heimatortes und der Name seines (als solcher angesehenen) Vaters.“ Carson, S. 159. Manche haben Probleme damit, dass Philippus von Joseph als dem Vater Jesu spricht. Diesbezüglich gibt es hauptsächlich zwei Möglichkeiten: Erstens könnte Philippus tatsächlich angenommen haben, dass Joseph im biologischen Sinne der Vater unseres Herrn war. In diesem Falle würde er sich zwar irren, aber nicht deswegen, weil er die Jungfrauengeburt unseres Herrn bestritt, sondern weil er sie noch gar nicht in Betracht gezogen hatte. Wie alle seine Mitapostel hatte er am Anfang viele falsche Vorstellungen über Jesus. Zweitens könnte es sein, dass er Jesus einfach so definiert, wie man es eben normalerweise tut. Dann würde er Joseph im Hinblick darauf als den Vater Jesu bezeichnen, wie er allgemein wahrgenommen wurde. So würde er Jesus von anderen unterscheiden, die denselben Namen, aber nicht denselben (als solchen angesehenen) Vater haben.

80 Dies ist vermutlich nicht der richtige Ort und Zeitpunkt, um sich näher über Engel auszulassen. Ich möchte Ihnen aber einfach einmal einen Gedanken für die weitere Betrachtung nahelegen: Wir leben in einer Zeit, in der das Thema „Engel“ sehr populär ist. Dabei sollten wir aber daran denken, dass Engel nicht nur niedriger stehen als unser Herr Jesus Christus (Hebräer 1), sondern dass auch ihr Dienst eng mit dem unseres Herrn verbunden und ihm untergeordnet ist. Engel fahren auf und nieder zu Jesus: Wenn wir anfangen, die Engel unabhängig von unserem Herrn zu sehen, entfernen wir uns von dem Bild, das unser Herr hier zeichnet, und von dem, was die Bibel an anderen Stellen lehrt.

81 Carson (S. 154) weist darauf hin, dass „nachfolgen“ üblicherweise mehr bedeutet als nur jemandem „hinterherzulaufen“. Unser Herr bezeichnet damit die Jüngerschaft. Das trifft nicht immer zu, aber gewöhnlich schon. An dieser Stelle ist möglicherweise etwas von Beidem gemeint. Jesus lädt Philippus ein „mitzukommen“ und „sich Ihm als Sein Jünger anzuschließen“.

82 Leon Morris, The Gospel According to John [Das Evangelium nach Johannes], S. 162.

83 „Andere … schlagen vor, dass Nathanael mit Bartholomäus identisch ist, einem Apostel, der bei Johannes nie erwähnt wird – wie auch Nathanael nirgendwo bei den Synoptikern erwähnt wird. Bartholomäus hat in allen drei synoptischen Evangelien eine Verbindung zu Philippus (Mat 10:3, Mar 3:18, Luk 6:14). Eine andere Entsprechung besteht darin, dass er in Apostelgeschichte 1:13 unmittelbar nach Thomas aufgeführt wird und sich Nathanael in Johannes 21:2 in derselben Position findet. Zudem ist ‚Bartholomäus’ eigentlich kein Eigenname, sondern ein Patronym mit der Bedeutung ‚Sohn des Tolmai’ (vgl. Barjona = ‚Sohn des Jona’). Der Mann, der diesen Namen trug, hatte mit großer Sicherheit noch einen anderen Namen. Alle anderen Jünger, die in diesem Kapitel erwähnt werden, wurden zu Aposteln, und das legt die Vermutung nahe, dass entsprechend auch Nathanael wahrscheinlich einer geworden ist. Wenn er aber identisch mit einem der Apostel ist, dann ist wahrscheinlich Bartholomäus unser Mann.“ Morris, S. 164.
Ich sollte wohl noch darauf hinweisen, dass Morris diese Auffassung nicht vorbehaltlos teilt. Carson scheint da überzeugter zu sein: „Die wahrscheinlichste Interpretation ist die, dass Nathanael der Eigenname von Bartholomäus ist, was dann als aramäisches Patronym aufgefasst werden muss (d.h. als ein Name, der die Person als den Sohn von jemandem identifiziert: ‚der Sohn des Tholomäus’ oder so ähnlich).“ Carson, S. 159.

84 Morris, S. 167.

85 Morris, S. 169.

86 Diese Tatsache wird in Johannes 4 mit Nachdruck gelehrt.

87 Durch seinen Tod leistete Jakobus natürlich einen großartigen Beitrag.

88 Die Pharisäer verfielen eben diesem Irrtum in Bezug auf den Reichtum. Sie dachten wohl, dass jemand umso geistlicher sein musste, je reicher er war. Umgekehrt war ein Armer für sie ungeistlich. Diese Auffassung griff Jesus mit Seinen Worten über den Reichen und Lazarus in Lukas 16 an. Siehe auch die Seligpreisungen, in denen die gesegnet werden, die „verflucht“ erscheinen. Auch Psalm 73 befasst sich mit diesem Thema.

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5. Das erste Wunderzeichen: Jesus verwandelt Wasser in Wein (Johannes 2:1-11)

Einleitung

Meine Frau und ich wissen, wie es ist, wenn man mit wenig Geld heiratet. Als wir uns verlobten, legten Jeannette und ich zusammen, um ihren Verlobungsring kaufen zu können. Als wir heirateten, mussten wir einen der Schecks, die wir als Hochzeitsgeschenk erhielten, gleich einlösen, um unser Zimmer für die Nacht zu bezahlen. Die zweite Nacht unserer Flitterwochen verbrachten wir auf dem Wohnzimmersofa im Haus der Eltern meines früheren Zimmergenossen in Eastern Washington. Falls Sie das schon schrecklich finden: unsere dritte Nacht verbrachten wir auf einem öffentlichen Parkgelände: Jeannette schlief auf auf dem einen Sitz im Auto und ich auf dem anderen. Die folgende Nacht war dann etwas besser: wir übernachteten bei Karl und Martha Lind, unseren Freunden in Portland/Oregon.

Dort übernachteten wir – einige von Ihnen erinnern sich vielleicht an die Geschichte – im Zimmer ihres Sohnes David, der schon von zuhause ausgezogen war. Sein älterer Bruder John wohnte noch zuhause. Am Morgen wurden wir vom Klang einer dröhnenden Stimme geweckt, die aus der Sprechanlage verkündete: „Das Frühstück wird in zehn Minuten im Esszimmer serviert!“ Die Stimme klang sehr würdig und formell, aber ich hörte, dass es John war. Bevor er auch nur den Finger vom Knopf der Sprechanlage genommen hatte, hörten wir dann ein gewaltiges Krachen und Scheppern von Glas. Es klang, als wäre buchstäblich das gesamte Geschirr aus dem Schrank auf den Boden gefallen und zerbrochen. Und gleich nach diesem donnernden Krach bellte eine Stimme – von der ich wusste, dass sie zu Karl gehörte –: „John!“

Mit wenig Geld zu heiraten, ist gar nicht so leicht. Jeannette und ich hatten es nicht leicht, als wir heirateten, einige von Ihnen hatten es vielleicht auch nicht leicht, und genauso scheint es das namenlose Paar nicht leicht gehabt zu haben, an dessen Hochzeitsfeier Jesus, Seine Mutter und die Jünger in Kana in Galiläa teilnahmen. Die Geschichte von dieser Hochzeit in Kana in Galiläa findet sich nur im Johannes-Evangelium. Es ist dies der erste Anlass, bei dem unser Herr eine Demonstration Seiner Macht gibt. Dabei handelt es sich nicht um ein bloßes Wunder, nein, es ist ein Zeichen, ein Wunder, das eine Botschaft beinhaltet. Hören wir sorgfältig auf die Worte dieses Textes, um zu erfahren, was der Geist Gottes uns mit diesem Hochzeitswunder lehren will.

Die Situation
(2:1-5)

1 Am dritten Tage nun fand eine Hochzeit in Kana in Galiläa89 statt. Die Mutter Jesu90 war dort, 2 und Jesus und seine Jünger waren ebenfalls zu der Hochzeitsfeier eingeladen. 3 Als der Wein zur Neige ging, sagte Jesu Mutter zu ihm: „Sie haben keinen Wein mehr.“ 4 Jesus erwiderte: „Frau, warum sagst du mir das? Meine Zeit ist noch nicht gekommen.“ 5 Seine Mutter wies die Diener an: „Was immer er zu euch sagt, das tut.“

In der Welt des Alten und des Neuen Testaments war eine Hochzeit – geradeso wie heutzutage – ein froher und festlicher Anlass. Die Hochzeitsfeierlichkeiten dauerten erheblich länger als heute, und während dieser Zeit wurde getafelt und gefeiert. Zwei Stellen aus der Bibel geben einen Hinweis darauf, wie diese Feier im zweiten Kapitel des Johannes-Evangeliums abgelaufen sein mag. Die erste davon ist die Hochzeit von Jakob und Lea in Genesis 29. Jakob dachte eigentlich, dass er mit der jüngeren Schwester Rahel verheiratet würde, um die er sieben Jahre lang gedient hatte. Aber Laban täuscht und übervorteilt Jakob, indem er ihm die Bräute vertauscht. Die langen Feierlichkeiten, eine ganze Menge Wein und ein sehr dunkles Zelt erklären vielleicht, wie es geschehen konnte, dass Jakob mit Lea statt mit Rahel die Nacht verbrachte und die Ehe vollzog.

Die zweite und noch aufschlussreichere Hochzeitsfeier ist die von Samson in Richter 14. Diese Ehe wird niemals wirklich vollzogen werden, und am Ende wird die Braut aus dem Stamm der Philister Samsons Freund (und vielleicht sogar Trauzeugen; 14:20) gegeben. Samson findet diese Frau in Timna und fordert von seinen Eltern, dass sie die Hochzeit mit ihr arrangieren. Auf dem Weg dorthin wird Samson von einem jungen Löwen angegriffen und er zerreißt ihn mit seinen bloßen Händen. Samson erzählt niemandem etwas davon. Später kommt er auf dem Weg nach Timna zu seiner Hochzeit wieder an dem Kadaver des Löwen vorbei, in dem inzwischen ein Bienenschwarm seine Honigwaben gebaut hat. Samson schöpft etwas von dem Honig heraus, isst davon und gibt auch seinen Eltern etwas ab, ohne ihnen zu erzählen, wo der Honig herkommt. Während der einwöchigen Hochzeitsfeierlichkeiten gibt Samson den jungen Philistern, die bei dem Fest zu Gast sind, ein Rätsel auf. Er verspricht ihnen 30 Leinenkleider und 30 Obergewänder, wenn sie dieses Rätsel innerhalb der sieben Tage des Festes lösen können. Die Philister kriegen die Lösung des Rätsels nicht heraus und zwingen daher Samsons zukünftige Frau, die Antwort aus ihm herauszulocken. Als Samson erfährt, wie die jungen Männer des Rätsel Lösung zustande gebracht haben, geht er hinab in die Philisterstadt Askalon, tötet dort 30 Philister, nimmt ihre Kleidung und gibt sie den jungen Männern aus Timna. Infolge von Samsons Rache wird seine Ehe niemals vollzogen und die Frau wird einem anderen Mann gegeben. Durch diese Geschichten können wir Einblicke in die Dinge gewinnen, die sich vielleicht während der einwöchigen Hochzeitsfeier in unserem Text zugetragen haben.

Von Leon Morris erhalten wir zusätzliche Hintergrundinformationen aus den jüdischen Schriften:

Gemäß der Mischna sollte die Hochzeit an einem Mittwoch stattfinden, wenn die Braut eine Jungfrau war, und an einem Donnerstag, wenn sie eine Witwe war (Ket. 1:1). Der Bräutigam legte den Weg zum Haus der Braut in einer Prozession mit seinen Freunde zurück. Dies geschah oft bei Nacht, so dass man eine spektakuläre Fackelprozession abhalten konnte. Zweifellos gab es Ansprachen und gute Absichten wurden erklärt, bevor die Braut und der Bräutigam in einer Prozession zum Haus des Bräutigams gingen, wo das Hochzeitsbankett abgehalten wurde. Wahrscheinlich gab es auch eine religiöse Zeremonie, aber darüber wissen wir keine Details. Hauptsächlich sind es die Prozessionen und das Festmahl, worüber wir Informationen haben. Das Fest dauerte lange, bis zu einer Woche.91

Maria, die Mutter Jesu, ist bei der Hochzeit anwesend, und ihre Rolle scheint über die eines Gastes hinauszugehen. Man hat den Eindruck, dass es sich bei dem Hochzeitspaar um Freunde oder möglicherweise auch Verwandte von Maria handelt und dass sie bei der Organisation, besonders beim Anrichten von Essen und Wein, mithilft. Sie scheint eine der ersten zu sein, die bemerken, dass der Wein zur Neige geht. Sie weist die Diener an, alles zu tun, was Jesus ihnen sagt; und die Diener scheinen auch gewillt zu sein, ihre Anweisung zu akzeptieren.

Jesus und Seine Jünger sind als geladene Gäste ebenfalls bei der Hochzeit. Es scheint zu diesem Zeitpunkt erst fünf Jünger zu geben: Andreas, Simon Petrus, Philippus, Nathanael und Johannes (wenn der tatsächlich der andere Jünger des Johannes ist, der Jesus nachfolgt). Die Tatsache, dass Maria, Jesus und die Jünger alle zu dieser Hochzeitsfeier eingeladen sind, spricht dafür, dass es sich um die Hochzeit von jemandem handelt, der ihnen allen bekannt ist, vielleicht um einen Freund oder Verwandten. Als die Feierlichkeiten schon eine ganze Weile andauern, wird Jesu Mutter einer ganz peinlichen Lage gewahr, für die es keine Lösung zu geben scheint – der Wein ist zu Ende. Entweder ist kein anderer Wein mehr verfügbar oder es ist kein Geld da, um noch mehr Wein zu kaufen. Die Gäste scheinen noch nicht bemerkt zu haben, was los ist. Aber wenn nichts geschieht, werden alle beschämt werden. Manche Kommentatoren sagen sogar, dass es in solchen Fällen zu einem Rechtsstreit kommen konnte92. (Können Sie sich vorstellen, vor Gericht gestellt zu werden, weil Sie nicht genug Speisen und Getränke bei einer Hochzeitsfeier angeboten haben?)

Jesu Mutter scheint einzugreifen und die Verantwortung zu übernehmen, wenn sie zu Jesus sagt „Sie haben keinen Wein mehr“. Das ist keine bloße Feststellung – unser Herr weiß das, und Johannes erwartet auch von uns, dass wir es wissen. Nicht jeder fasst das so auf93, aber ich glaube doch, dass Maria Jesus in der Hoffnung informiert, dass Er etwas an der Situation ändern könnte. Von allen Anwesenden kennt die Mutter unseres Herrn Jesus am besten. Sie weiß besser als jeder andere um die wunderbaren Ereignisse im Zusammenhang mit Seiner Geburt. Sie weiß auch von der wunderbaren Geburt Johannes’ des Täufers und von dessen Dienst, bei dem er Jesus als den verheißenen Messias offenbart hat. Anscheinend hat Jesus bisher noch keine Wunder vollbracht, und wir wissen nicht mit Sicherheit, ob sie jetzt eines erwartet. Aber nach allem, was sie weiß, ist es sicher möglich, dass sie von Jesus eine über das Normale hinausgehende Handlung erwartet.

Maria mag diese Notlage als eine schicksalshafte Fügung empfunden haben. Vielleicht denkt sie, dass es an der Zeit für Jesus wäre, Sich der Welt als der Messias zu präsentieren94. Johannes der Täufer hat Ihn bereits als den Messias bezeichnet, und Er hat schon eine Gefolgschaft von Jüngern. Ein gut platziertes Wunder könnte das Mittel sein, um dem Volk Seine Identität zu offenbaren. Gleichzeitig wären die Jungvermählten höchst dankbar, wenn Er eine Lösung für ihr Problem bieten würde! Maria achtet sehr darauf, Jesus nicht vorzuschreiben, was Er tun soll, aber sie hofft doch offensichtlich darauf, dass Er etwas tun wird.

Jesus weiß, dass Seine Mutter irgendeine Reaktion von Ihm erwartet, und Er gibt ihr eine Antwort, die wohl kaum dem entspricht, was sie von Ihm erwartet hätte. Es ist keine unfreundliche Antwort – sie dient schlicht dazu, die Situation richtig zu stellen und Sein Verhältnis zu Maria, Seiner irdischen Mutter, neu zu definieren. Jesus nennt sie nicht „Maria“ oder „Mutter“, sondern „Frau“. Den gleichen Begriff wird Jesus gebrauchen, wenn Er zu ihr vom Kreuz herab spricht (Johannes 19:26). Hier, bei der Hochzeitsfeier, fragt Jesus Maria: „Warum sagst du Mir das?“95

Jesus gebraucht keinen neuartigen oder einmaligen Ausdruck, wenn Er Seine Mutter als „Frau“ anspricht. Dieser Ausdruck findet sich mehrere Male im Alten (Richter 11:12, 18:24; 2. Samuel 16:10, 19:23; 2. Könige 3:13; 2. Chronik 35:21) und einige Male im Neuen Testament (siehe auch Markus 5:7; Lukas 8:28). Der Ausdruck schafft gewissermaßen eine Distanz zwischen zwei Parteien. Beispielsweise wird Jephtha zum Führer Israels berufen, als die Ammoniten in die Schlacht gegen Israel ziehen wollen, und sendet eine Botschaft an den König von Ammon: „Was hast du gegen mich [wörtlich: ‚Was mit dir und mir ...’], dass du gekommen bist, um in meinem Land gegen mich zu kämpfen?“ (Richter 11:12b, NKJV).

Jephthas Frage „Was mit dir und mir?“ ist von der Bedeutung her identisch (im hebräischen Text und in Form und Bedeutung der griechischen Übersetzung der Septuaginta) mit der Redewendung, die unser Herr hier in unserem Text im Johannes-Evangelium benutzt. Jephtha fragt den König der Ammoniter, was es zwischen ihnen für ein Problem gibt. Was für ein Problem lässt uns gegeneinander antreten? Jephtha distanziert sich in jeder Hinsicht vom König der Ammoniter, die Anlass zu einem Krieg bieten könnte. Er erreicht das, indem er den König darauf hinweist, dass es zwischen ihnen gar nicht genügend Gründe gibt, um derentwegen man kämpfen müsste.

Im Neuen Testament, im Markus-Evangelium spricht der von den Dämonen Besessene zu Jesus über die Dämonen, die von ihm Besitz ergriffen haben: „Was gibt es zwischen dir und mir, Jesus, Sohn des Höchsten Gottes? Schwöre bei Gott, mich nicht zu quälen!“ (Markus 5:7). Das ist derselbe griechische Ausdruck wie oben, durch den sich der Dämon von Jesus zu distanzieren versucht. Er fleht Jesus an, ihm keine Schwierigkeiten zu bereiten und seine dämonische Existenz nicht noch erbärmlicher zu machen. Was haben sie denn zu diesem Zeitpunkt schon für Zwistigkeiten miteinander?

Denselben Ausdruck gebraucht nun auch Jesus, um Maria zu fragen, wie sie denn darauf komme, dass dieses Problem, das sie da erkannt hat, nicht nur ihr, sondern auch Sein Problem sei. Als Seine Mutter könnte sie ja auf die Idee kommen, sie habe eine gewisse elterliche Autorität über Ihn. Über Ihn als ihren souveränen Gott hat sie aber keinerlei Autorität! Das ist es, was Jesus mit Seinen Worten ausdrücken will. Es ist fast so, als habe Maria gesagt „Jesus, sie haben keinen Wein mehr. Wir müssen dringend etwas unternehmen“ und Jesus habe darauf geantwortet „Gnädige Frau, was meinen Sie mit ‚wir’?“

Diese Antwort erinnert mich an den abgedroschenen Witz über Lone Ranger und seinen getreuen indianischen Gefährten Tonto. Lone Ranger und Tonto sind von einen Indianerstamm mit großer Übermacht umzingelt. Lone Ranger wendet sich an seinen Gefährten und sagt: „Tonto, ich glaube, wir haben ein Problem.“ Tonto sieht Lone Ranger an und antwortet: „Was meinst du mit ‚wir’, weißer Mann?“

Lukas sagt in seinem Evangelium ausdrücklich, dass Jesus als Kind im Gehorsam Seinen Eltern gegenüber lebte (2:51). Wir wissen nicht, wann genau Joseph starb, aber anscheinend geschah das, noch bevor unser Herr erwachsen war, denn Joseph wird nach den ersten Jahren unseres Herrn überhaupt nicht mehr erwähnt. Jesus hat Seine Mutter immer geehrt und Sich ihrer Autorität untergeordnet; nun aber ist es an der Zeit, dass unser Herr Seiner Mutter gegenüber zum Ausdruck bringt, dass sich die Dinge ändern werden. Er ist nicht nur ein erwachsener Mann geworden, der Sein eigenes Leben leben wird, sondern Er ist auch der Messias, der eines Tages Sein Reich auf der Erde errichten wird. Er kann mit Maria nicht mehr so wie früher umgehen. Er kann nicht zulassen, dass der Gehorsam gegenüber Seinem Vater von den Anforderungen Seiner irdischen Mutter „überstimmt“ wird.

Die Notlage bei der Hochzeit gibt Jesus die Gelegenheit, einen Präzedenzfall zu schaffen, der Seiner Mutter eindeutig zeigt, dass Er Sich durch sie als Seine Mutter nicht mehr anleiten oder beeinflussen lassen wird. Bei der Hochzeit in Kana beginnt ein neues Verhältnis zwischen Jesus und Seiner Mutter. In diesem Punkt sind Katholiken und Protestanten sehr unterschiedlicher Meinung. Katholische Wissenschaftler sind – im Einklang mit ihrer übertriebenen Einschätzung der Bedeutung Marias – davon überzeugt, dass sie hier ihren Einfluss auf Jesus dazu benutzt, um Ihn dazu zu bringen, etwas zu tun, was Er sonst nicht getan hätte.96 Der Text scheint uns aber gerade das Gegenteil zu sagen. Jesus erinnert sie daran, dass sie nur eine Frau ist und dass Er, als Gott, ihren Wünschen nicht nachkommen kann, wenn es nicht „Seine Zeit“ ist.

Unser Herr weist Seine Mutter weder abrupt noch willkürlich ab. Er sagt nicht „Nein“ und er sagt auch nicht „Ja“. Er erinnert sie lediglich an die Veränderung, die in ihren Rollen und in ihrem Verhältnis stattgefunden hat. Er ist nicht mehr ihr „Kleiner“, der alles tun muss, worum sie ihn bittet. Er ist der Messias, der Seinem wahren Vater gehorsam sein muss. So reagiert er empfindlich im Hinblick auf das Timing Seines „Debüts“. Jesus informiert Seine Mutter, dass es noch nicht „Seine Zeit“ ist97. Er meint hier mit „Seiner Zeit“ den Zeitpunkt Seines öffentlichen Debüts als der verheißene Messias – nicht Seinen Tod am Kreuz von Golgatha98.

Nachdem sie in angemessener Form informiert wurde, ist Maria gewiss weder gekränkt, noch hat Jesus sie mit Seinen Worten ganz und gar abgewiesen. Sie wendet sich einfach an die Diener und weist sie an: „Was immer Er euch sagt, das tut.“ Sie streitet nicht mit Ihm, denn Er hat Seinen Standpunkt klar ausgedrückt. Sie verhandelt nicht mit Ihm. Aus ihren Worten kann man schließen, dass sie ihre Aufforderung in Seine Hände gelegt hat und Er damit tun soll, was Ihm passend erscheint. Vielleicht wird Er den Dienern überhaupt nichts sagen. Aber wenn Er ihnen etwas – irgend etwas – sagt, sollten sie seine Worte befolgen, denn dann wird es zu Seinem Wohlgefallen und zu Seiner guten Zeit getan sein.

Wasser zu Wein
(2:6-11)

6 Nun gab es dort sechs steinerne Wasserkrüge für die zeremonielle Waschung der Juden, und jeder von ihnen fasste zwei bis drei Maß. 7 Jesus sagte zu den Dienern: „Füllt die Wasserkrüge mit Wasser.“ Und sie füllten sie bis an den Rand. 8 Dann forderte er sie auf: „Schöpft nun etwas davon heraus und bringt es zum Festleiter“, und sie taten es. 9 Der Festleiter kostete das Wasser, das in Wein verwandelt worden war, aber er wusste nicht, woher es kam (nur die Diener, die das Wasser geschöpft hatten, wussten es); da rief er den Bräutigam 10 und sagte zu ihm: „Jeder reicht den guten Wein zuerst und dann den billigeren Wein, wenn die Gäste trunken geworden sind. Du hast den guten Wein bis jetzt aufgehoben!“ 11 So tat Jesus das erste seiner Wunderzeichen, in Kana in Galiläa. Auf diese Weise offenbarte er seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn.

Das alttestamentarische Gesetz forderte verschiedene Waschungen; für die Pharisäer und andere war das aber noch nicht genug:

1 Es versammelten sich nun bei ihm die Pharisäer und einige der Schriftgelehrten, die von Jerusalem gekommen waren. 2 Und sie sahen, dass einige der Jünger Jesu ihr Brot mit unreinen Händen – das heißt, ohne Waschung der Hände – aßen. 3 (Denn die Pharisäer und alle Juden essen nicht, bevor sie nicht eine rituelle Waschung vorgenommen haben; so halten sie an der Tradition der Alten fest. 4 Und wenn sie vom Markt kommen, essen sie nicht, bevor sie sich nicht gewaschen haben. Sie halten noch an vielen weiteren Traditionen fest, wie an der Waschung von Bechern, Töpfen, Kesseln und Esszimmerliegen.) 5 Die Pharisäer und die Schriftgelehrten fragten ihn: „Warum leben deine Jünger nicht nach der Tradition der Alten, sondern essen ihr Brot mit ungewaschenen Händen?“ (Markus 7:1-5)

Dementsprechend könnte eine Hochzeit zwischen überzeugten Juden vielerlei Reinigungszeremonien erfordert haben. Um diese Waschungen zu ermöglichen, wurde eine erhebliche Menge Wasser bereitgehalten. In der Nähe – es könnte sein, im Blickfeld unseres Herrn (aber vielleicht außer Sicht für die tafelnden Gäste) – sind sechs große steinerne Wasserkrüge. Jeder Krug hat ein Fassungsvermögen von 75 bis 100 Litern, insgesamt also rund 500 Liter.

Jesus weist die Diener an, jeden dieser sechs Wasserkrüge bis zum Rand zu füllen. Man kann wohl sagen, dass ein steinerner Wasserkrug schon ohne Inhalt schwer ist, und noch schwerer dann, wenn er voll ist (das Wasser in einem vollen Krug wiegt allein schon 75 bis 100 Kilogramm). Anscheinend wollte Jesus nicht, dass die Diener diese Krüge forttragen, ausleeren, wieder auffüllen und dann zurückbringen. Dafür sind sie viel zu schwer, insbesondere wenn sie mit Wasser gefüllt sind. Ich denke, dass zumindest einige der Krüge zu diesem Zeitpunkt teilweise voll waren – schließlich ging der Wein zur Neige und nicht das Wasser für die Reinigungszeremonien. Die Diener müssen Wasser in kleineren Gefäßen geholt und auf diese Weise nach und nach die großen Steinbehälter aufgefüllt haben.

Ich bezweifle, dass bis zu diesem Zeitpunkt irgendjemand – weder die Diener noch Maria noch die neuerworbenen Jünger unseres Herrn – eine Ahnung hat, was Jesus zu tun vorhat. Als die sechs Steinkrüge gefüllt sind, weist Jesus die Diener an, etwas „Wasser“ aus einem der Krüge zu schöpfen und es dem Festleiter vorzusetzen. An dieser Stelle werden die Diener durch Marias Worte auf eine harte Probe gestellt.

Ich weiß nicht, ob wir wirklich ermessen können, wie schwierig dieser Auftrag für die Diener eigentlich auszuführen war. Die Wasserkrüge aufzufüllen war eine Sache und gehörte wahrscheinlich in ihren üblichen Verantwortungsbereich. Aber wer würde je auf die Idee kommen, dieses „Wasser“ zu trinken? Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten für einen Caterer, der bei einem Bankett eine große Gesellschaft bedienen muss. In der Küche fällt eine der großen Kasserollen (Kochtöpfe) herunter und die Hälfte der Soße fließt auf den Boden. Einem der Angestellten gelingt es, den größten Teil der Soße vom Boden aufzunehmen, und er füllt damit die Saucieren. Würden Sie zulassen, dass ein Kellner diese „Soße“ über Ihre Kartoffeln gießt, wenn Sie wüssten, woher sie kommt? Wohl kaum.

Die Camper unter Ihnen waren vielleicht schon einmal auf einem abgelegenen Campingplatz, wo es Wasser aus einem Brunnen gibt, das aber nicht unbedingt sauber genug zum Trinken ist. Man sucht dann nach Hinweisen, um eindeutig trinkbares Wasser herauszufinden. Sie würden nicht auf die Idee kommen, Wasser zu trinken, das nicht vollkommen sauber ist. Damit kann sich die Hände waschen, aber Sie würden es bestimmt nicht trinken. Das „Wasser“ zur zeremoniellen Reinigung wurde wahrscheinlich nicht als trinkbar angesehen. Bei diesen Gelegenheiten hatte man Wein zu trinken. Ich bezweifle, dass ein überzeugter Jude auf die Idee gekommen wäre, Wasser aus einem dieser sechs Steinkrüge zu trinken.

Wenn man das bedenkt, kann man sich besser vorstellen, wie sich die Diener gefühlt haben müssen, als sie die steinernen Wassergefäße fertig gefüllt hatten und für weitere Anweisungen zu Jesus zurückkamen. Keiner von ihnen wäre je auf die Idee gekommen, dass Jesus daraufhin sagen würde: „Schöpft nun etwas davon heraus und bringt es zum Festleiter.“ Sie müssen ihren Ohren nicht geglaubt und gedacht haben: „Ich weiß ja, dass Maria gesagt hat, wir sollten alles tun, was Jesus sagt – aber das kann Er doch nicht ernst meinen! Wir sollen dieses „Wasser“ dem Festleiter vorsetzen? Wenn der merkt, dass es nur Wasser ist und kein Wein, wird er uns feuern. Und wenn er herauskriegt, woher das Wasser kommt, kriegen wir erst recht Probleme.“

Niemand konnte sich im Entferntesten vorstellen, was geschehen würde. Jesus schwenkt nicht die Arme über den Wasserkrügen und befiehlt dem Wasser, zu Wein zu werden. Anscheinend hat Er das Wasser oder die Krüge nicht einmal berührt. Jesus erzählt ihnen noch nicht einmal, dass das Wasser zu Wein geworden ist oder dass es zu Wein werden wird. Nach allem, was die Diener wissen, trägt Jesus ihnen nicht weniger auf, als dass sie dem Festleiter Wasser, zeremonielles Waschwasser vorsetzen sollen! Das ist entsetzlich! Ihnen noch mehr zu sagen, hätte die Grenzen ihres Fassungsvermögens überschritten.

So weit wir wissen, gehorchen die Diener unserem Herrn sofort. Wir lesen nichts von einem Zögern, kein Wort des Widerspruchs. Die Diener schöpfen aus den Krügen und beginnen den Wein zu servieren, zuerst dem Festleiter. Ich frage mich, zu welchem Zeitpunkt das Wasser wohl zu Wein wurde und die Farbe wechselte. (Oder was wäre, wenn es Weißwein wurde und die Farbe sich überhaupt nicht änderte? Dann hätte es keinerlei sichtbaren Hinweis darauf gegeben, dass das Wasser in Wein verwandelt worden war.) Der Festleiter hat keine Ahnung, woher sein Getränk kommt, aber die Diener wissen es. Die Spannung dieser Momente, zwischen dem Trinken des Festleiters und dem Zeitpunkt seiner Reaktion, muss für die Diener eine reine Qual gewesen sein. Der Festleiter schnuppert an dem Becher, dann nimmt er einen Schluck. Dann ruft er nach dem Bräutigam – was will er ihm sagen? Was den Dienern in diesem Moment an Möglichkeiten im Kopf herumgeht, wäre schon eine Geschichte für sich.

Mit einem Lächeln – vielleicht klopft er dabei dem Bräutigam auf den Rücken – erklärt der Festleiter, dass dieser Wein fabelhaft ist – der beste überhaupt bisher. Das Timing ist etwas unorthodox, sagt er zum Bräutigam, aber der Wein ist ausgezeichnet. Der übliche Trick ist, so bemerkt er, den schlechteren Wein bis zuletzt aufzuheben. Wenn alle schon ihr Quantum Wein – oder mehr – innehaben (wörtlich: „wenn sie betrunken sind“)99, ist ihr Geschmackssinn nicht mehr so fein und sie merken den schlechteren Wein vielleicht gar nicht. Dieser Wein aber ist der beste bisher! Der Bräutigam hat sich selbst übertroffen und das Allerbeste bis zum Schluss aufgehoben. Was nach einer sicheren Schande aussah, ist plötzlich zu einem Triumph für den Bräutigam und den Festleiter geworden.

Schlussfolgerung

Das Wunder von Kana in Galiläa kann uns heutigen Menschen vieles sagen. Erlauben Sie mir, einige Anmerkungen zu machen und Folgen und Anwendungsmöglichkeiten daraus für uns heutige Menschen vorzuschlagen.

Zuallererst: Dies ist das erste der Wunder unseres Herrn. Johannes nennt es in Vers 11 den „Anfang der Zeichen“. Liberale Wissenschaftler wollen die Worte der Schrift nicht gern für bare Münze nehmen. Sie glauben nicht, dass es sich überhaupt um ein Wunder handelte, und erklären die Geschichte so: Eine Hochzeit fand statt, und der Wein ging zur Neige. Jesus sagte den Dienern, dass sie Wasser auftragen sollten, als der Wein ausging. Es war so, wie wenn ein Kind Kaffeekränzchen spielt. In dem Versuch, die peinliche Situation herunterzuspielen, kostet der Festleiter von dem Wasser, das ihm anstelle von Wein vorgesetzt wird, und sagt (humorvoll): „Guter Wein!“ Dann erfasst ein anderer bei der Feier den Geist des Augenblicks und fügt hinzu: „Ja, das ist ja der beste Wein überhaupt bisher!“ Ich nehme Johannes’ Bericht lieber wörtlich. Es war ein Wunder. Jesus verwandelte Wasser – Waschwasser für religiöse Zeremonien – in den besten Wein, den Menschen je getrunken haben.

Zweitens: Jesus scheint bei diesem Wunder Seine übernatürlichen Kräfte widerwillig und nur aufgrund der Beharrlichkeit Seiner Mutter einzusetzen – das trifft aber nicht zu. Ich glaube, man darf zurecht bemerken, dass unser Herr in den Evangelien oft Selbst weniger erpicht darauf ist, Wunder zu tun, als es die anderen sind, die Ihn Wunder vollbringen sehen wollen. Er kennt die Grenzen solcher Machtäußerungen, wie wir am Ende des Kapitels sehen werden. Jesu Zögern bedeutet nicht, dass er dem Brautpaar in seiner Notlage nicht helfen wollte. Vielmehr legt Er Wert darauf, dass Seine Mutter versteht, dass sich ihr Verhältnis endgültig verändert hat und dass Seine Berufung nicht darin besteht, auf ihr Geheiß hin zu handeln, so als hätte sie einen direkten Draht zu Gott. Außerdem ist es Ihm wichtig, den Plan Seines Vaters zu der von Gott festgesetzten Zeit zu erfüllen, und nicht nach dem Zeitplan Seiner Mutter. Er weiß, dass es für Ihn noch nicht an der Zeit ist, Seine Macht öffentlich zu demonstrieren und Sich so öffentlich als der verheißene Messias darzustellen. Wer heutzutage übermäßig erpicht darauf ist, Gott Wunder vollbringen zu sehen (manche bestehen ja regelrecht darauf), sollte über diese Tatsache gründlich nachdenken: Jesus ist Selbst weniger erpicht darauf, Wunder zu tun, als es die anderen sind, die Ihn Wunder vollbringen sehen wollen.

Drittens: Dieses Wunder war keine „Notwendigkeit“, sondern eher „Luxus“. Halten Sie einen Moment inne und denken Sie darüber nach. Dieses Wunder ist nicht wie manches andere, das Jesus vollbrachte, wenn jemand jahrelang gelitten hatte oder das Leben eines Kindes in der Waagschale lag. Es handelt sich nicht um einen Notfall, der sofortiges und dramatisches Eingreifen vonseiten unseres Herrn erfordern würde.

Als ich vor Jahren mit meiner Familie auf Besuch bei guten Freunden in Kanada war, kam ein Telefonanruf für uns, als wir gerade nicht da waren. Man sagte uns, dass jemand mit einem starken Akzent angerufen hätte. Ich sehe keine Möglichkeit, Laute (insbesondere einen Akzent) in gedruckten Worten wiederzugeben; also schalten Sie ihre Vorstellungskraft, wenn Sie können, auf „Schwedisch“ um – dann können Sie das Gespräch vielleicht so „hören“, wie es sich für mich damals anhörte. Als ich zuhause anrief, wo in unserer Abwesenheit ein schwedisches Ehepaar wohnte, kam von Schel zurück: „Bob, es hat eine Tragödie gegeben ... Carmen ist tot.“ Carmen war unser kleiner Pudel, den wir sehr mochten. Sie war nach draußen gelaufen und von einem vorbeifahrenden Auto überrollt worden. Wir waren sehr traurig, aber eine Tragödie war das nicht. Wir fühlten uns keineswegs verpflichtet, unsere Reise abzubrechen und überstürzt für eine „Beerdigung“ nach Hause zu fahren. In ähnlicher Weise war es wohl ein Problem, dass der Wein zur Neige ging, aber es war keine Tragödie. Das erste Wunder Jesu diente der Lösung eines nicht-kritischen Problems – allerdings bin ich mir sicher, dass sich das Problem in den Augen des neuvermählten Paares, und vielleicht auch in Marias Augen, schon etwas kritischer darstellte, als ich die Situation von hier aus einschätze. Ein Notfall war es jedoch nicht.

Aus diesem Wunder kann man etwas lernen: Gott nimmt unsere „nicht-kritischen“ Probleme ernst. Ein Gebet ist kein Anruf auf 110. Manche Menschen haben vielleicht die Vorstellung, dass Gott so etwas wäre wie der Präsident der Vereinigten Staaten – eine Person, deren Zeit viele (zu viele) Menschen mit ihren Forderungen beanspruchen, so dass Er unmöglich auf jeden einzelnen eingehen kann. Sie stellen sich Gott dann vielleicht so vor, als säße Er an einem großen himmlischen Tisch, mit einer ganzen Reihe von Telefonen vor Sich, die alle wegen „Anforderungsgebeten“ läuten; und Er ist damit beschäftigt, die Anrufe anzunehmen. Wer sind wir, dass wir Gott mit unseren Problemen „belästigen“? Wenn das unsere Vorstellung von Gott ist, dann ist sie falsch. Gott ist allmächtig und allwissend. Er ist niemals überlastet, wenn wir Ihn um Hilfe anrufen.

Zudem ist Er ein mitleidiger und barmherziger Vater, der für Seine Kinder sorgt. Gott ist niemals verärgert, wenn wir mit unseren kleinen Problemen zu Ihm kommen. Um die Analogie zur „Belästigung“ eines vielbeschäftigten Präsidenten fortzusetzen: Gott sieht unsere „Anrufe“ (Gebete) an Ihn nicht als Störungen an, als riefe jemand den Präsidenten an, um die Uhrzeit oder die Temperatur zu erfragen. Wir sind Gottes Kinder. Ich sage Ihnen: ein Präsident, der seine Kinder liebt, wird (oder sollte) gerne eine Störung durch etwas hinnehmen, was seine Kinder sehr betrifft, wenn sie ihn damit als ihren Vater unterbrechen.

Ich finde es sehr ermutigend, dass das erste Wunder unseres Herrn eines ist, das viele Menschen als nicht-essenziell ansehen würden. Im weiteren Verlauf des Dienstes unseres Herrn fingen die Jünger an, sich wie der „Geheimdienst“ unseres Herrn aufzuführen; sie scheuchten kleine Kinder und Leute weg, die sie als eine Belästigung für den Erlöser ansahen – und Jesus tadelte sie dafür. Gott sorgt auch für die Kleinigkeiten in unserem Leben. Das erinnert mich an die Geschichte von dem „verlorenen Axteisen“ in 2. Könige 6, wo Elisa ein Axteisen für einen der Söhne des Propheten zurückholt. Es ist oft versucht worden, diesen Text spirituell zu deuten, um ihm Wichtigkeit zu verleihen. Ich glaube, er ist aber auch so sehr wichtig: Gott sorgt für verlorene Axteisen und verlorene Autoschlüssel und platte Reifen ... Gott sorgt sich um die Kleinigkeiten, die Seine Kinder betreffen.100

Viertens: Dieses Wunder ist wie manche meiner Witze – die meisten Zuschauer haben es gar nicht „mitgekriegt“. Man sollte meinen, dass Jesus alle wissen lassen wollte, was Er tat. Er hätte um allgemeine Aufmerksamkeit bitten und ansagen können, dass er jetzt Wasser in Wein verwandeln werde. Er hätte sich viel dramatischer gebärden können, Er hätte mit den Händen über den Wasserkrügen herumwedeln und den „guten Wein“ dann persönlich dem Festleiter kredenzen können. Tatsächlich aber scheint Jesus die Wasserkrüge oder den Wein noch nicht einmal berührt zu haben. Er gibt einfach die Anweisung an die Diener, die Krüge zu füllen und den Inhalt auszuschenken. Wenn Sie den Festleiter oder irgendeinen Gast darüber befragt hätten, was er denn so von der Feier hielt, hätte der vermutlich gesagt: „Oh, es war eine wirklich schöne Feier, und der Wein zuletzt war ja wirklich Klasse.“ Die meisten Leute erfuhren gar nie, dass ein Wunder geschehen war. Anscheinend waren sich nur Maria, die Diener und die Jünger dessen bewusst, was geschah. Johannes erzählt, dass die Jünger wegen dieses Wunders an Ihn glaubten (Vers 11). Die Diener, habe ich den Eindruck, wussten, „was“ geschehen war, waren sich aber nicht sicher, „wie“ es genau geschehen war; also hielten sie einfach den Mund und kratzten sich verwundert am Kopf.

Dass die erste Darstellung der Macht unseres Herrn so wenig sichtbar wie möglich geschah, war Absicht. Alles, was unser Herr bei der Verwandlung des Wassers in Wein tat, geschah in der Absicht, Sich so wenig wie möglich zu exponieren. So durchgeführt, konnte unser Herr das Wunder vollbringen, ohne gegen den Willen Seines Vaters bezüglich „Seiner Zeit“ zu verstoßen. Es war noch nicht der Augenblick, da unser Herr Seine Macht und Herrlichkeit öffentlich sichtbar machen sollte. Deshalb vollbrachte Er das Wunder nicht-öffentlich, auf eine Art, die mit Gottes Zeitplan im Einklang stand. In gewisser Hinsicht gibt es hier in den ersten Versen von Johannes 2 zwei Wunder. Das erste ist die Verwandlung von Wasser in Wein. Das zweite ist, dieses Wunder so zu vollbringen, dass es nicht für jeden offensichtlich ist.

Sehr wahrscheinlich ist das die Art, in der heutzutage viele Wunder geschehen. Sie geschehen auf eine Art, die so normal erscheint, dass viele sie gar nicht als etwas Übernatürliches erkennen. Dazu ist vielleicht ein Beispiel hilfreich: Kurz vor dem Abschluss des Priesterseminars kam für mich vor etlichen Jahren der Zeitpunkt, wo ich entscheiden musste, in welcher Gemeinde ich meinen Dienst antreten wollte. Ich hatte mehrere Möglichkeiten, aber eine davon wollte ich eigentlich am liebsten überhaupt nicht in Betracht ziehen – hauptsächlich des Ortes wegen, wo die Dienststelle sein würde. Das war nämlich genau der Ort in der ganzen Welt, an dem ich nicht leben wollte. Aber Gott bewirkte so viel in meinem Herzen, dass ich mich erweichen ließ und Ihm gegenüber meine Bereitschaft zum Ausdruck brachte, Ihm selbst an diesem Ort zu dienen. Eine Gemeinde in dieser Stadt hatte mit mir Kontakt aufgenommen und den Wunsch geäußert, mit mir über die Möglichkeit eines Pfarrdienstes bei ihnen in dieser Stadt zu sprechen. Gleichzeitig musste ich mich auch entscheiden, ob ich meinen gegenwärtigen Dienst fortsetzen wollte – und der war in dem Ort, in dem ich leben wollte. Da ich mich innerhalb einer bestimmten Frist festlegen musste, setzte ich eine Art Stichtag. Wenn Gott wollte, dass ich in die andere Stadt ziehen sollte – die, wo ich lieber nicht hinwollte –, sollte diese Gemeinde vor dem Stichtag wieder mit mir Kontakt aufnehmen müssen. Das taten sie nicht, und ich sagte dort zu, wo ich war. Nur wenige Tage später war ein Brief von der anderen Gemeinde in der Post. Interessanterweise war dieser Brief schon einen Monat zuvor aufgegeben worden, und aus den Stempeln auf dem Umschlag konnte ich ersehen, dass er überall gewesen war – nur nicht in unserem Briefkasten. Aus irgendwelchen Gründen war der Brief nicht pünktlich ausgeliefert worden, obwohl er korrekt adressiert war. Mancher mag vielleicht leichthin sagen, dass das nichts als ein Fehler bei der Post war. Ich aber glaube, dass es schicksalhaft war – ein Wunder – oder, wie einer meiner Freunde immer sagte, „wieder einer von diesen merkwürdigen Zufällen“.

Fünftens: Achten Sie insbesondere darauf, wie dieses Wunder „die Herrlichkeit unseres Herrn offenbarte“. So sagt Johannes: „Den Anfang der Zeichen machte Jesus in Kana in Galiläa und offenbarte Seine Herrlichkeit, und Seine Jünger glaubten an Ihn“ (Johannes 2:11, Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Diese Aussage ist sehr interessant, weil sie nicht mit dem im Einklang zu stehen scheint, was wir gerade festgestellt haben. Wie konnte die Herrlichkeit unseres Herrn manifestiert werden, wenn so wenige erfuhren, dass ein Wunder vollbracht worden war? Die Antwort auf diese Frage finden wir wohl in Kapitel 1:

10 Er war in der Welt, und die Welt wurde durch ihn erschaffen, aber die Welt erkannte ihn nicht. 11 Er kam zu dem, was sein Eigen war, doch sein eigenes Volk nahm ihn nicht auf. 12 Allen aber, die ihn aufnahmen – die an seinen Namen glaubten – gab er das Recht, Gottes Kinder zu werden 13 – Kinder, die nicht von menschlichen Eltern oder durch menschlichen Willen oder aus der Entscheidung eines Ehemannes heraus geboren werden sind, sondern aus Gott. 14 Nun aber wurde das Wort Fleisch und lebte unter uns. Wir sahen seine Herrlichkeit – die Herrlichkeit des Einzigen, voller Gnade und Wahrheit, der vom Vater herkam (Johannes 1:10-14, Hervorhebungen durch B. Deffinbaugh).

Die Worte des Paulus an die Philipper tragen vielleicht zur Erklärung dessen bei, was Johannes uns sagt:

5 Diese Gesinnung lasst in euch sein, die auch in Christus Jesus war, 6 der in Gottesgestalt existierte und es nicht als Raub ansah, Gott gleich zu sein, 7 sondern Sich Seines Ansehens entäußerte, indem er die Gestalt eines Sklaven annahm und im Bild eines Menschen kam. 8 Und nach der Erscheinung einem Menschen gleich, erniedrigte Er Sich Selbst und wurde gehorsam bis hin zum Tod, selbst zum Tod am Kreuz (Philipper 2:5-8).

Jesus war Gott. Er war am Anfang bei Gott. Er nahm aktiv an der Erschaffung dieser Welt teil (Johannes 1:1-5). Er war das wahre Licht, das Licht der Welt, aber die Welt erkannte Ihn nicht (Johannes 1:6-11). Die Jünger erblickten Seine Herrlichkeit, aber die ganz große Mehrheit derer, die Ihn sahen und hörten, sahen in Ihm nicht das, was Er war; sie erblickten Seine Herrlichkeit nicht.

Dieses Thema wird weiter hinten im Johannes-Evangelium noch einmal aufgenommen. Ich möchte jetzt aber nur kurz Ihre Aufmerksamkeit auf eine dieser wichtigen Textstellen des Johannes-Evangeliums lenken: „Ich habe dich auf der Erde verherrlicht, indem ich das Werk vollendet habe, was du mir zu tun gabst. Und nun, Vater, verherrliche mich an deiner Seite mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, bevor die Welt erschaffen wurde“ (Johannes 17:4-5). Unser Herr hatte im Himmel große Herrlichkeit, und diese sichtbare Herrlichkeit legte er ab, um in menschlichem Fleisch auf die Erde zu kommen. Er verherrlichte Gott durch Seine Demut und Seinen Gehorsam, die in Seinem (demütigenden) Opfertod gipfelten101. Deswegen hat Ihm der Vater noch größere Herrlichkeit gegeben. Diese Herrlichkeit wird öffentlich und sichtbar bei Seiner Wiederkunft und im Himmel manifest werden.

Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Ich fürchte, wir haben eine verzerrte Definition von „Herrlichkeit“, ganz ähnlich wie die Jünger in den Evangelien. Wir denken fälschlicherweise, dass Gottes Herrlichkeit sich in einer dramatischen Machtdemonstration äußert, einer Machtdemonstration, die offensichtlich und spektakulär ist, die von allen wahrgenommen und gewürdigt wird102. Ich möchte Sie aber noch einmal daran erinnern, dass die Herrlichkeit Gottes sich in diesem Wunder manifestierte, auch wenn es nur wenige als solches erkannten. Wir suchen vielleicht nach der falschen Art von „Herrlichkeit“. Nur allzu oft suchen wir im „Triumphalismus“ der neutestamentarischen Kirche (z.B. in der Gemeinde von Korinth) und in der heutigen Kirche nach der falschen Art von Herrlichkeit. Die Herrlichkeit Gottes, so wie ich sie verstehe, wird in den und durch die Heiligen manifestiert, indem sie – wie ihr Erlöser – demütig leben und geduldig leiden um Christi und des Evangeliums willen (siehe 1. Petrus 2, auch 2. Korinther 3 und 4).

Sechstens: Dieses Wunder wird ein „Zeichen“ genannt. Im Neuen Testament werden verschiedene Begriffe zur Bezeichnung von Wundern benutzt. Über den Begriff „Zeichen“ sagt D.A. Carson:

Das Neue Testament gebraucht verschiedene Worte, um das zu bezeichnen, was wir ‚Wunder’ nennen. Einer der gebräuchlichsten, dynameis (‚mächtige Werke’), kommt bei Johannes nicht vor; ein anderes, terata (‚Wunderdinge’, ‚Wunderzeichen’, ‚Wundertaten’) findet man nur in der Verbindung mit semeia (‚Zeichen’), beispielsweise in ‚Zeichen und Wunder’, aber diese Kombination kommt nur ein einziges Mal im Vierten Evangelium vor (4:48). Johannes zieht das einfache Wort ‚Zeichen’ vor: Jesu Wundertaten sind niemals nackte Machtäußerungen und noch viel weniger Zaubertricks, mit denen er die Massen beeindrucken will, sondern sie sind Zeichen, bedeutungsvolle Machtäußerungen, die über sich selbst hinaus auf die tieferen Wirklichkeiten weisen, die mit den Augen des Glaubens wahrgenommen werden könnten. Jesus selbst bezeichnet seine Wunder und seine sonstige Tätigkeit in diesem Evangelium als „Werk“ oder „Werke“ (z.B. 5:36; NIV ‚Wunder’ in 7:21, 10:25).103

Die Verwandlung von Wasser in Wein steht in enger Beziehung zu Kapitel 1. Gleich in den ersten Versen des Evangeliums teilt Johannes uns mit, dass Jesus von Nazareth der Logos ist, der nicht nur am Anfang bei Gott war, sondern der am Anfang Gott war. Er ist der Schöpfer, der alles, was existiert, ins Dasein brachte. Ist es also ein großes Wunder, wenn wir Jesus Wein aus Wasser „erschaffen“ sehen, gerade so, wie Er einst den Kosmos aus dem Chaos erschuf? Erstaunt es uns, dass die Jünger Seine Herrlichkeit in diesem Wunder erblickten, wenn der Apostel Johannes im ersten Kapitel schreibt „Und das Wort wurde Fleisch und lebte unter uns, und wir erblickten Seine Herrlichkeit, die Herrlichkeit des einzigen Gezeugten vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ (Johannes 1:14)?

Dieses Wunder lehrt uns, wie auch die anderen Zeichen des Johannes-Evangeliums, etwas über die Person unseres Herrn Jesus Christus. Die Absicht ist einfach: Auf dass ihr glaubet, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und dass ihr durch den Glauben ewiges Leben haben möget (Johannes 20:31). Glaubst Du? Es gibt keine wichtigere Entscheidung im Leben als die, was man über Person und Werk Jesu Christi glaubt. Er allein ist Gott, manifestiert in menschlichem Fleisch. Er allein ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt, das allein deine Sünden vergeben kann.

Siebtens: In diesem ersten Wunder unseres Herrn nimmt Jesus etwas nicht so Großartiges und verwandelt es in etwas ganz Wunderbares. Er nimmt das, was Quälerei verursacht, und macht es zu einem Quell großer Freude. Das alttestamentarische Gesetz forderte verschiedene Arten von Waschungen. Sie alle sollten den Israeliten zeigen, wie zutiefst sündig und unrein sie waren, wie untauglich also für die Gegenwart Gottes. Diese Waschungen waren eine Quälerei, und doch mussten die Israeliten sie durchführen, um Gottes Gesetz zu gehorchen. Als die legalistischen Juden immer noch mehr Waschungen hinzufügten, wurde der Judaismus zu einer richtig anstrengenden Religion. Jesus nahm dieses zeremonielle Waschwasser und machte es zu Wein. Jesus nahm, was eine Qual war, und machte es zu einem Vergnügen. Jesus nahm, was die Juden als ungeeignet zum Trinken empfunden hätten, und Er machte daraus den besten Wein, der je einem Menschen über die Lippen gegangen ist.

Was für ein Bild der Überlegenheit des Neuen Bundes über den Alten, der Gnade über das Gesetz. Weil Er das Gesetz vollkommen erfüllte und allen seinen Forderungen gerecht wurde, war unser Herr als Einziger qualifiziert dafür, am Kreuz von Golgatha für die Sünder zu sterben. Die Erlösung, die Er durch Sein Opfer am Kreuz von Golgatha herbeiführte, ermöglicht es den Menschen, die Quälerei hinter sich zu lassen und in das Glück Seiner Erlösung einzutreten.

Unser Herr ist in der Lage, das zu nehmen, was (zumindest zum Trinken) nicht ganz annehmbar ist, und es zu einem erlesenen Wein zu machen, zu dem besten Wein, den je ein Mensch getrunken hat. Er ist in der Lage, fehlbare Menschen wie Petrus, Jakobus, Johannes, Andreas, Philippus und Nathanael zu nehmen und aus ihnen Apostel zu machen. Er ist in der Lage, das „Schwache und Törichte dieser Welt“Menschen wie dich und mich – zu nehmen und uns so zu verwandeln, dass die Menschen Gottes Gnade und Macht bewundern. Was für ein wunderbarer Erlöser!

Achtens: Jesus erzeugt bei diesem Wunder nicht nur etwas Schönes und Gesegnetes, sondern Er tut das auch noch reichlich. Der Wein, den Jesus erschuf, war der beste überhaupt, aber Er erschuf nicht nur eine kleine Menge davon. Er machte viel mehr als gebraucht wurde. Können Sie sich die Freude dieses vielleicht armen Brautpaares vorstellen, als sie jetzt an die 400 Liter des allerbesten Weines übrig hatten? Als Jesus die Fünftausend (Matthäus 14:13-21) und dann noch einmal die Viertausend (Matthäus 15:32-39) speiste, war nachher jeweils noch eine Menge übrig (14:20, 15:37). Gottes Segnungen sind stets reichlich. „Gebt, und euch wird gegeben werden: ein gutes Maß, vollgedrückt, zusammengerüttelt und überfließend, wird euch in den Schoß gelegt werden. Denn mit demselben Maß, das ihr benutzt, wird euch wiederum gemessen werden“ (Lukas 6:38).

Gottes hat für Seine Kinder Güte und Gnade in Hülle und Fülle; sie sind ohne Maß. Was für ein wunderbarer Erlöser!

Heal then these waters, Lord; or bring thy flock, / since these are troubled, to the springing rock.
Look down, great Master of the Feasts! O shine, / and turn once more our water into wine!

[Heile also dieses Wasser, Herr; oder bringe deine Herde, / die so geplagt ist, zu der Felsenquelle.
Schau herab, großer Festmeister! O, leuchte / und verwandle noch einmal unser Wasser in Wein!]

Henry Vaughan (1622-1695), “RELIGION”104


89 In der ganzen Bibel wird Kana nirgendwo als im Johannes-Evangelium erwähnt (2:1,11, 4:46, 21:2). Es gibt eine Reihe von Theorien über die Lokalisation dieses Ortes, aber niemand kann mit Sicherheit sagen, wo er gelegen war. In Kapitel 21:2 werden wir erfahren, dass Nathanael aus Kana war; also kannte er wahrscheinlich das Paar, das hier heiratet.

90 Maria wird im Johannes-Evangelium nie „Maria“ genannt, sondern nur – wie hier in unserem Text – als die Mutter Jesu bezeichnet.

91 Leon Morris, The Gospel According to John [Das Evangelium nach Johannes], (Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans Publishing Co., 1971), S. 178-179.

92 „Wenn die Vorräte ausgingen, wäre das in einer Kultur der Schande eine furchtbare Beschämung; es gibt sogar Hinweise darauf, dass so etwas den Bräutigam rechtlich angreifbar machte, wenn die gekränkte Familie der Braut einen Rechtsstreit anstrengte.“ D.A. Carson, The Gospel According to John [Das Evangelium nach Johannes], (Grand Rapids: William B. Eerdmans Publishing Company, 1991), S. 169. Morris führt das sogar noch detaillierter aus. Leon Morris, The Gospel According to John [Das Evangelium nach Johannes], S. 177, siehe auch Fußnote 7.

93 Calvin schreibt: Man darf bezweifeln, dass sie irgendetwas von ihrem Sohn erwartete oder erbat, da er bisher noch keinerlei Wunder vollbracht hatte; und es ist gut möglich, dass sie ihn, ohne irgendeine Lösung dieser Art zu erwarten, anwies, einige fromme Ermahnungen zu geben, die den Gästen das unbehagliche Gefühl nehmen und den Bräutigam von der Schande befreien würden.“ Johann Calvin, Calvin’s Commentaries [Calvins biblische Kommentare], Band 7: The Gospels [Die Evangelien](Grand Rapids: Associated Publishers and Authors Inc., n.d.), S. 622. Für mich ist Calvins Erläuterung schwer einzusehen. Es scheint doch naheliegender zu sein, dass Maria hoffte, Jesus würde irgendetwas unternehmen, wenn sie auch nicht wusste, was das wohl sein könnte.

94 Die zynischen Halbbrüder Jesu schlagen das in Johannes 7:1-5 vor; also wäre es nicht überraschend, wenn Maria es schon vorher – ernst gemeint – zur Sprache bringen würde.

95 Wörtlich fragte Jesus: „Was mit Mir und mit dir, Frau?“ Die verschiedenen Übersetzungen geben diesen Ausdruck mit etwas unterschiedlichen Nuancen wieder: „Frau, was habe ich mit dir zu schaffen?“ (KJV), „Gute Frau, warum sprichst du mich deswegen an?“ (NIV), „Frau, was hat das mit uns beiden zu tun?“ (NAB), „Frau, was betrifft das dich und mich?“ (NRS).

96 Morris schreibt: „Manche römisch-katholischen Wissenschaftler sehen es so, dass Maria hier um ein Wunder bittet. Beispielsweise versteht J. Cortes die Worte Jesu in der Bedeutung: ‚Was hat sich zwischen uns verändert? Warum zögerst du, mich um ein Wunder zu bitten? Die Stunde meiner Passion, da du mich nicht mehr um Wunder bitten können wirst und ich keine mehr tun werde, ist noch nicht gekommen. Du bist immer meine Mutter und ich bin dein Sohn. Daher werde ich deiner Bitte gerne nachkommen’ (New Testament Abstracts, III, 1958-1959, S. 247). Die Schwierigkeit bei dieser Sichtweise liegt darin, dass es eine Veränderung gab. Jesus hatte niemals zuvor ein Wunder vollbracht (Vers 11), und so könnte Maria sehr wohl zögern, ihn um eines zu bitten.“ Morris, S. 180-181, Fußnote 20.

97 Jesus spricht an mehreren Stellen im Johannes-Evangelium von „Seiner Zeit“. In Kapitel 7 steht das jüdische Laubhüttenfest bevor, und die Brüder unseres Herrn drängen Ihn, mit Seinen Jüngern hinauf nach Jerusalem zu gehen und „sich der Welt zu zeigen“, Wunder zu vollbringen, damit Er als Der erkannt würde, der Er war. Sie sagten das nicht im Ernst, sondern meinten es ironisch, denn sie glaubten noch nicht an Ihn (7:1-5). Jesus lehnte es ab, mit ihnen hinauf nach Judäa zu gehen, weil Er dazu noch nicht bereit war, und Er hielt sie an, ohne Ihn zu gehen. Später ging Er dann heimlich zum Fest, weil Er keine Aufmerksamkeit erregen, sondern sie vielmehr vermeiden wollte (7:6-13). Weiter hinten in diesem Kapitel erfahren wir, dass die Juden Jesus ergreifen wollten, aber nicht dazu in der Lage waren, weil „Seine Zeit“ noch nicht gekommen war (Vers 30). Etwas Ähnliches geschieht in Kapitel 8, Vers 20. Bei anderen Gelegenheiten sprach Jesus davon, dass „Seine Zeit“ gekommen sei (12:23,27, 13:1, 16:32, 17:1).

98 Morris (S. 181) sagt, dass Jesus damit meint: „Es ist noch nicht Zeit für Mich zu handeln.“

99 Leider benutzen viele diesen Text primär, um ihren Standpunkt über das Trinken oder Nicht-Trinken alkoholischer Getränke zu untermauern; und dabei verfehlen sie den eigentlichen Kern der Geschichte. Man muss sich schon sehr anstrengen, um zu der Meinung zu gelangen, dass dieser „Wein“ nur Traubensaft war. Allerdings war der „Wein“ jener Tage wahrscheinlich schon etwas anderes als unser heutiger Wein. Die Bibel verbietet das Trinken alkoholischer Getränke nicht generell, aber sie verurteilt das Trinken „starker Getränke“ und die Trunkenheit (Sprüche 20:1; Jesaja 5:11,22, 28:1,7, 56:12; Epheser 5:18). Man sollte bedenken, dass Johannes der Täufer kritisiert wurde, weil er Abstinenzler war, und Jesus als „Trinker“ verunglimpft wurde, weil er keiner war (Lukas 7:33-34). Über den Alkoholmissbrauch heutzutage wie auch in früheren Zeiten lässt sich sicher vieles sagen; aber es geht zu weit, wenn man sagt, dass Alkohol generell verurteilt wird, oder wenn man zu behaupten versucht, dass der Wein, den unser Herr schuf, ganz und gar alkoholfrei war.

100 Ich sollte besser noch ein Caveat anfügen: Gott sorgt zwar für die Kleinigkeiten, die uns Schwierigkeiten bereiten, aber Er ist nicht erfreut über unsere eitlen, egoistischen Anliegen. Jakobus sagt uns, dass unsere Gebete unter Umständen nicht erhört werden, wenn sie selbstsüchtig sind - Jakobus 4:3. Viele unserer Gebete sind selbstsüchtig, und dann kann es geschehen, dass Gott nicht darauf antwortet.

101 Morris zitiert Richardson mit seiner Zusammenfassung dessen, was ‚Herrlichkeit’ in unserem Text bedeutet: „Richardson weist darauf hin, dass Johannes ‚keine Episode der Verklärung aufzeichnet, wie es die drei Synoptiker tun; er betrachtet das gesamte inkarnierte Leben Christi als Verkörperung der [Herrlichkeit] Gottes, wenngleich diese Herrlichkeit nur glaubenden Jüngern und nicht ‚der Welt’ offenbart wird’“ (An Introduction to the Theology of the New Testament [Einführung in die Theologie des Neuen Testaments], London, 1958, S. 65), wie bei Morris, S. 186, Fn. 38, zitiert.

102 Satan dachte ebenfalls in solchen Kategorien, wie wir aus Lukas 4:9-11 ersehen können.

103 Carson, S. 175.

104 Dieses Zitat fand ich auf einer der Vorsatzseiten von Michael Hortons Buch “In the Face of God: The Dangers & Delights of Spiritual Intimacy” [Im Angesicht Gottes: Die Freuden und Gefahren geistlicher Vertrautheit], (Dallas: Word Publishing, 1996).

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6. Die Reinigung des Tempels (Johannes 2:12-22)

Einleitung

Die Alten Hasen unter Ihnen erinnern sich wahrscheinlich an mein „Traumauto“. Nun ja, es handelte sich um einen Pickup. Genauer gesagt: Es war ein 1940er Ford Pickup mit einem neueren Modell eines V8-Motors mit verbesserter Leistung, mit einem frisierten Auspuff (schön laut), einem höhergelegten Hinterteil und individueller Lackierung (braunviolett mit weißem Muschel- und Pinstriping-Design). Es begann damit, dass mein Vater entschied, unser 1936er Ford Pickup wäre nicht mehr zu gebrauchen. Diese Entscheidung war sicher richtig, denn der Wagen blieb häufig liegen, er hatte keine Zulassung (wir fuhren damit nur auf unserem eigenen Gelände) und auf der Fahrerseite fehlte die Tür. Wir besaßen einen kleines Fischereigelände und deshalb brauchten wir einen Pickup, um Feuerholz, Abfälle oder andere Dinge zu transportieren. Der alte 1936er Pickup gehörte, jedenfalls in meinen Augen, mir und er erfüllte seine Aufgabe nicht mehr. Wir brauchten etwas Besseres.

So kam es, dass mein Dad und ich mehr als einhundert Meilen weit nach Portland/Oregon trampten, weil wir dachten, dass man dort sicher einen guten gebrauchten Kleinlaster finden könnte. Wir begannen am einen Ende einer Straße, an der ein Gebrauchtwagenhändler neben dem anderen lag. Als der Tag zu Ende ging, näherten wir uns dem letzten Autohändler an dieser Straße und auch dem Zeitlimit, das wir uns gesetzt hatten, um uns – wiederum per Anhalter – auf den Heimweg zu machen. Wir beschlossen, es noch bei einem allerletzten Händler zu probieren, bevor wir uns dann auf den Rückweg machen würden. „Sie haben nicht zufällig einen älteren, gebrauchten Pickup?“ fragte mein Vater. „Nur einen ziemlich heißen Schlitten“, erwiderte der Verkäufer. Hatte er „heißer Schlitten“ gesagt? Ich konnte es kaum glauben! Ich war noch nicht ganz 16, aber ich war (auf unserem Gelände) schon einige Jahre lang gefahren. „Heißer Schlitten?“ Ich war ganz Ohr.

Der Autohändler nahm meinen Dad und mich mit auf die Rückseite des Hauses, wo dieser wundervolle kleine Pickup abgestellt war. Er war einfach vollkommen. Mein Dad sagte dem Mann, dass wir 400 Dollar in bar hätten und mehr als das nicht zahlen könnten – und der Mann akzeptierte es. Auf dem Heimweg konnte mein Dad es sich nicht verkneifen, etwas Gummi auf dem Pflaster zu hinterlassen (er war einen 6-Zylinder-Plymouth gewöhnt). Wir waren mächtig stolz, als wir in unsere Einfahrt fuhren. Meine Mutter aber war skeptisch, und das mit gutem Grund. Nicht dass an dem Laster irgendetwas auszusetzen gewesen wäre. Aber gerade das war das Problem. Er war einfach perfekt – zu perfekt. Wir sträubten uns dagegen, dieses herrliche Fahrzeug dadurch zu „verschandeln“, dass wir Feuerholz oder Müll darin transportierten. Das wäre einfach nicht richtig gewesen. Unnötig zu sagen, dass der Laster uns nicht sehr lange auf dem Fischereigelände erhalten blieb. Er wurde zur Legende, nachdem er den Besitzer gewechselt hatte. Wir tauschten ihn gegen einen 1951er Dodge Pickup mit Automatikgetriebe; und falls Sie nicht wissen, was das bedeutet, kann ich es Ihnen in wenigen Worten sagen: „pathetisch und kraftlos“. Ich hatte keinerlei Schwierigkeiten, Abfälle auf diesen Laster zu laden; er konnte kaum verschandelt werden.

Ich nehme an, jeder von uns hat schon einmal etwas besessen, das er als etwas ganz Besonderes ansah, als etwas, das er auf keinen Fall durch Missbrauch „verschandelt“ sehen wollte. Was immer dieser kostbare Gegenstand aber auch gewesen sein mag, er konnte doch nicht so kostbar für uns sein, wie es der „Tempel“ für unseren Herrn war. Unsere Lektion beschäftigt sich mit der „Reinigung“ des Tempels durch unseren Herrn, wie sie im zweiten Kapitel des Johannes-Evangeliums beschrieben wird. Johannes zählt dieses Ereignis zu den wichtigeren Handlungen unseres Herrn zu Beginn Seines öffentlichen Dienstes. Unsere Aufgabe besteht nun darin zu lernen, warum er damit Recht hat und was diese Reinigung des Tempels mit Männern und Frauen zu tun hat, die Jahrhunderte danach leben. Ich kann Ihnen versichern dass dieses Ereignis tatsächlich von Wichtigkeit ist und dass es uns heutigen Menschen viel zu sagen hat. Ich bitte Sie dringend, den Text und seine Botschaft für uns heutige Menschen – insbesondere auch seine Botschaft an Sie persönlich – zu bedenken.

Ein wenig Hintergrundinformation

Bei dem „Tempel“ in unserem Text handelt es sich um den Tempel in Jerusalem. Es war nicht der erste, von Salomon errichtete Tempel (siehe 1. Könige 6-7) und auch nicht der zweite Tempel, den die Juden nach ihrer Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft wieder aufbauten (Esra 6:15)105. Es war der dritte Tempel, genannt der „Tempel des Herodes“. Dieser Tempel war von Herodes gebaut worden; weniger um den Gottesdienst für Israel zu unterstützen, als vielmehr um die Juden mit ihrem idumenäischen König zu versöhnen. Der Bau des Tempels begann 19 v.Chr. und dauerte 46 Jahre. Zu Zeiten unseres Herrn war der Tempel weitgehend fertiggestellt; vollständig fertiggestellt wurde er aber gerade einmal 6 Jahre vor seiner Zerstörung im Jahre 70 n.Chr.. Er war vielleicht nicht so herrlich wie der erste, von Salomon errichtete Tempel, aber er muss den zweiten Tempel an Schönheit und Pracht übertroffen haben (vergleiche Esra 3:12, Markus 13:1).

In Seiner frühen Kindheit war Jesus zu Seiner Darstellung vor Gott zum Tempel in Jerusalem gebracht worden, und dort hatten Ihn Simeon und Anna beide als den verheißenen Messias angebetet (Lukas 2:21-38). Als unser Herr 12 Jahre alt war, begleitete Er Seine Eltern nach Jerusalem und versetzte dort sie und andere in äußerstes Erstaunen:

41 Nun gingen Jesu Eltern jedes Jahr zur Passah-Feier nach Jerusalem. 42 Als er zwölf Jahre alt war, gingen sie dem Brauch gemäß hinauf. 43 Aber als die Feierlichkeiten zu Ende waren und sie nach Hause zurückkehrten, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem zurück. Seine Eltern wussten es nicht; 44 sondern da sie annahmen, er sei in der Gruppe der mit ihnen Reisenden, gingen sie eine Tagesreise weit. Dann begannen sie, unter ihren Verwandten und Bekannten nach ihm zu suchen. 45 Da sie ihn nicht finden konnten, kehrten sie nach Jerusalem zurück, um nach ihm zu suchen. 46 Nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel, wo er unter den Lehrern saß und ihnen zuhörte und Fragen stellte. 47 Und alle, die Jesus hörten, staunten über sein Verständnis und seine Antworten. 48 Als seine Eltern ihn sahen, waren sie überwältigt. Seine Mutter sagte zu ihm: „Kind, warum hast du so an uns gehandelt? Sieh, dein Vater und ich haben voller Sorge nach dir gesucht.“ 49 Er aber erwiderte: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in meines Vaters Haus sein muss?“ 50 Doch seine Eltern verstanden nicht, was er ihnen damit sagte. 51 Anschließend ging er mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen gehorsam. Seine Mutter aber bewahrte alle diese Dinge in ihrem Herzen (Lukas 2:41-51).

Die Eltern unseres Herrn fanden gewiss, dass Jesus ein Musterkind war und ein junger Mann, auf den sie sich verlassen konnten. Sie sahen keine Notwendigkeit, ihn ständig zu überwachen, und da sie mit einer Karawane reisten, vermissten sie Ihn noch nicht einmal auf ihrer Rückreise von Jerusalem. Schließlich stellten sie fest, dass Er nicht bei ihnen war und gingen den ganzen Weg nach Jerusalem zurück, wo sie Ihn im Tempel fanden. Dort saß Er, mitten unter den Gelehrten des Alten Testaments, denen er nicht nur intelligente Fragen stellte, sondern auch ihre Fragen beantwortete. (Würden Sie nicht auch gerne wissen, was das für Fragen und Antworten waren?) Die Gelehrten waren erstaunt, und ganz sicher waren das auch die Eltern unseres Herrn.

Ungeachtet dessen hatte Jesus ihnen erhebliche Ungelegenheiten verursacht, als Er ihnen nichts von Seinem Zurückbleiben sagte. Sein Fehlen hatte dazu geführt, dass sie die Karawane der Anbeter verlassen und eine Tagesreise weit nach Jerusalem zurückgehen mussten. Sicher klang in ihrer Zurechtweisung auch Enttäuschung mit, als sie Ihn für Sein Zurückbleiben tadelten, aber Jesus fühlte sich davon nicht betroffen. Er war überrascht, dass sie Ihn suchen mussten. Wussten Sie denn nicht, wo Er zu finden sein würde? Hielten sie es für falsch, dass Er hier war? Er war in Seines Vaters Haus106 und „mit den Angelegenheiten Seines Vaters beschäftigt“ (Vers 49, NKJV). Nicht Er war im Unrecht, sondern sie, die sie die Situation an sich falsch einschätzten. Selbst schon im Alter von 12 Jahren hatte unser Herr genau erfasst, wer Er war und wozu Er gesandt worden war. Der „Tempel“, den Jesus in Lukas 2 aufsuchte, war ein Ort, wie er es sein sollte, ein Ort zur Anbetung Gottes und zum Studium Seines Wortes. Der „Tempel“, den Jesus annähernd 20 Jahre später vorfindet, scheint sich beträchtlich verändert zu haben und bedarf daher der Reinigung.

Ein kurzes Zwischenspiel in Kapernaum
(2:12)

12 Danach ging er hinab nach Kapernaum107, mit seiner Mutter108 und seinen Brüdern109 und seinen Jüngern, und blieb dort einige Tage lang.

Man mag sich fragen, warum Johannes diesen Vers aufnimmt. Johannes ist nicht der Mensch, der Zeit oder Platz verschwendet. Er wählt seine Worte sorgfältig (Johannes 20:30-31, 21:25). Warum also fügt er diese Worte ein? Ein Grund liegt darin, dass Kapernaum, wie wir wissen, der Stützpunkt werden wird, von dem aus unser Herr Seinen Dienst versieht (siehe Matthäus 4:13, 9:1). Dorthin scheint sich Seine Familie verlagert zu haben110. Dort sucht der Offizier (und andere – siehe Johannes 6:24) Jesus auf, um die Heilung seines Dieners von Ihm zu erflehen (Matthäus 8:5-13). Kapernaum wird größerer Verdammnis wert erachtet, weil die Menschen in dieser Stadt mehr als andere von unserem Herrn und Seinen Wundertaten gesehen haben (Matthäus 11:23; siehe Lukas 4:23). Ein weiterer Grund liegt darin, dass dies anscheinend der letzte Aufenthalt unseres Herrn bei Seiner Familie gewesen ist. Seine „Familie“ wird nun eine andere sein (siehe Markus 3:31-35).

Und schließlich will Johannes uns dadurch auch zeigen, dass die Ereignisse kurz hintereinander ablaufen111. Er hält in seinem Bericht die Zeitpunkte der entscheidenden Ereignisse zu Beginn des Dienstes unseres Herrn recht genau fest. So beschreibt Johannes die ersten paar Tage des öffentlichen Dienstes unseres Herrn in Kapitel 1 und in den ersten 11 Versen von Kapitel 2. Dann sagt er uns, dass Jesus, Seine Jünger und Seine Familie nach der Hochzeit hinab nach Kapernaum gingen. Die Jünger wurden für die Tage ihres Aufenthalts in Kapernaum anscheinend bei der Familie unseres Herrn aufgenommen. Nach allem, was wir über die Brüder unseres Herrn wissen, glaubten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht an Jesus als den verheißenen Messias (Johannes 7:5). Sie hatten möglicherweise sogar etwas gegen die Störung durch Jesus und Seine Jünger. Jesus und die Männer in Seiner Begleitung bleiben nicht lange in Kapernaum. Nach einigen („nicht ... vielen“) Tagen machen sie sich auf den Weg nach Jerusalem zu den Passah-Feierlichkeiten.

Die Reinigung112 des Tempels
(2:13-17)

13 Nun war das jüdische Passahfest nahe113 und Jesus ging daher hinauf114 nach Jerusalem. 14 Im Tempelhof fand er Menschen vor, die Ochsen und Schafe und Tauben verkauften, und die Geldwechsler an Tischen sitzen. 15 So machte er aus Schnüren eine Peitsche und trieb sie alle aus dem Tempel hinaus, zusammen mit ihren Ochsen und Schafen. Er schüttete die Münzen der Geldwechsler aus und stieß ihre Tische um. 16 Zu denen, die die Tauben verkauften, sagte er: „Schafft diese Dinge fort von hier! Macht doch meines Vaters Haus nicht zu einem Marktplatz!“ 17 Seine Jünger dachten daran, dass geschrieben steht: „Leidenschaft für dein Haus wird mich verzehren.

Die Feier des jüdischen Passah [engl.: Passover, Anm.d.Ü.] erinnert an die Befreiung der Israeliten aus Ägypten, als der Engel des Todes an jedem Haus vorüberging [hebr.: pesach, engl.: passed over; Anm.d.Ü.], wo das erste Passah mit seinen Vorschriften befolgt und das Blut des Passah-Lamms auf beide Türpfosten und den Türsturz aufgebracht worden war (siehe Exodus 12 und 13). Die Passah-Feier bildete auch den Beginn des Festes der Ungesäuerten Brote, so dass die gesamten Passah-Feierlichkeiten eine Woche lang dauerten115. Für jeden erwachsenen männlichen Israeliten war die Teilnahme Pflicht116:

Von jedem männlichen Juden ab dem Alter von zwölf Jahren wurde erwartet, dass er in Jerusalem am Passah teilnahm, einem Fest, das in Erinnerung an die Befreiung des Volkes Israel aus der ägyptischen Knechtschaft gefeiert wurde. Am zehnten des Monats Abib oder Nisan (der weitgehend unserem März entspricht; nur die letzten Tage erstrecken sich manchmal in den April hinein) wurde ein männliches Lamm, in seinem ersten Lebensjahr und ohne Makel, ausgewählt; und am vierzehnten Tag wurde es zwischen drei Uhr und sechs Uhr am Nachmittag getötet.117

Man kann sich nur schwer das Bild vorstellen, das sich den Augen unseres Herrn bietet, als Er in die Stadt Jerusalem kommt und auf den Tempel zugeht. Wir wissen aus der Pfingstszene in Apostelgeschichte 2, dass eine große Menschenmenge zur Passah-Feier nach Jerusalem strömte, so wie das auch zum Laubhüttenfest und zum Pfingstfest (oder Wochenfest) der Fall war. Es ist schwer abzuschätzen, wie viele Menschen – nicht nur aus dem übrigen Israel, sondern aus der ganzen Welt (siehe Apostelgeschichte 2:4-12) – nach Jerusalem kamen. Die Juden und die Proselyten hatten die Tempelsteuer von einem halben Schekel in der Währung des Tempels zu entrichten; das heißt, ausländische Währungen wurden nicht akzeptiert und mussten zuerst in die richtigen Münzen gewechselt werden. Außerdem mussten die Anbetenden ihre Opfer darbringen, und viele der Reisenden hatten nur die Möglichkeit, ihr Opfertier dort in Jerusalem selbst zu kaufen.

In früheren Zeiten hätten sie an einem Ort außerhalb des Tempelbezirks ein Tier kaufen und ihr Geld wechseln können: „Es gab Zeiten, da die Tierverkäufer ihre Ställe jenseits des Kidron-Tals an den Hängen des Ölbergs aufgeschlagen hatten; damals aber standen sie im Tempelhof, zweifellos im Hof der Heiden (dem äußersten Hof).“118 Aus irgendwelchen Gründen waren die Tiere also inzwischen in den Tempelbezirk gebracht worden. Das war natürlich „bequemer“: Die Menschen konnten nun ihre Opfertiere direkt beim Tempel kaufen und dort auch ihr Geld wechseln. Allerdings kann man schwerlich glauben, dass das der wirkliche Grund war.

Theoretisch traf es zu, dass jeder Anbeter ein Tier seiner eigenen Wahl zum Tempel bringen durfte. Aber er sollte das nur einmal versuchen! Aller Wahrscheinlichkeit nach würde es nicht die Billigung der Richter finden, der privilegierten Verkäufer, die die Münzkisten des Annas füllten! Um sich also Schwierigkeiten und Enttäuschung zu ersparen, kaufte man die Opfertiere eben hier im Vorhof, der der Hof der Heiden genannt wurde, weil diese ihn betreten durften. Natürlich waren die Vieh- und Schafhändler versucht, exorbitante Preise für diese Tiere zu verlangen und die Anbeter auszunehmen. Und die Taubenverkäufer taten wohl dasselbe und verlangten vielleicht vier Dollar für ein Paar Tauben, das nur fünf Cent wert war (A. Edersheim, The Life and Times of Jesus the Messiah [Leben und Zeit des Messias Jesus], New York, 1897, Bd. I, S. 370). Und dann gab es da die Geldwechsler, die mit gekreuzten Beinen hinter kleinen Tischen voller Münzen saßen. Sie gaben dem Anbeter die dem Gesetz entsprechenden jüdischen Münzen im Austausch für ausländische Währung. Man muss bedenken, dass nur jüdische Münzen im Tempel geopfert werden durften, und jeder Gottesdienstbesucher – Frauen, Sklaven und Minderjährige ausgenommen – musste die jährliche Tempelabgabe von einem halben Schekel bezahlen (vgl. Ex. 30:13). Die Geldwechsler verlangten für jede Transaktion eine bestimmte Gebühr. Auch hierbei gab es reichlich Gelegenheit für Täuschung und Missbrauch. In Anbetracht dieser Zustände war der Heilige Tempel, der ein Haus des Gebetes sein sollte, zu einer Räuberhöhle geworden (vgl. Jes. 56:7; Jer. 7:11; Mar. 11:17).119

Das hier dargestellte Bild wird von denen, die sich mit den neutestamentarischen Evangelien befassen, allgemein akzeptiert. Wenn jemand versuchte, seine eigenen Opfertiere mitzubringen, konnte es ihm sehr wohl passieren, dass diese von den Tempelpriestern „abgelehnt“ wurden und er dadurch gezwungen war, „genehmigte“ Tiere zu einem viel höheren Preis zu kaufen. Die gleiche Art von Erpressung fand zweifellos an den Tischen der Geldwechsler statt. Ich bezweifle sehr, dass unser Herr den Tempel später als „Räuberhöhle“ bezeichnet hätte (Markus 11:17), wenn er dabei nicht an derlei Korruption gedacht hätte. In unserem Text konzentriert sich Johannes allerdings nicht auf die Art, wie die Kaufleute ihren Geschäften nachgingen, sondern vielmehr darauf, wo sie ihre Geschäfte machten – nämlich im Tempelbezirk.

Auch Markus nimmt sich in seinem Evangelium dieses Themas an und weist darauf hin, dass ein wesentlicher Zweck des Tempels dadurch behindert wurde, „wo“ diese Geschäftsleute ihre Geschäfte machten. Der Tempel sollte ein „Haus des Gebetes für alle Völker“ sein (Markus 11:17). Die äußeren Vorhöfe des Tempels sind der einzige Ort, wo die Heiden anbeten können. Sie dürfen nicht weiter als bis zu einem bestimmten Punkt in den Tempel hineingehen (siehe Apostelgeschichte 21:27-30). Wenn nun die äußeren Vorhöfe voller Ochsen und Lämmer und Tauben sind, gibt es keinen Platz mehr, wo die Heiden beten und Gott verehren können. Können Sie sich vorstellen, mitten in so etwas wie einem Viehhof zu beten, mit dem ganzen Lärm der Tiere und der zankenden Händler um Sie herum? Können Sie sich vorstellen, wie es ist, sich zwischen lauter Rindern hindurchzuzwängen, die im Vorhof angebunden stehen? Stellen Sie sich vor, sie müssten bei jedem Schritt aufpassen, damit Sie nicht in etwas Unschönes treten120. Es ist wohl so, dass de facto die Anbetung der Heiden verhindert wird; aber ich bezweifle, dass das den Juden wirklich Sorge bereitete, von denen viele ja von vorneherein gar nicht davon angetan waren, dass die Heiden an ihrer Anbetung teilnahmen.

Was Jesus sich im Tempelbezirk abspielen sieht, stört Ihn sehr! Der Ort des Gebetes ist zu einem Ort des Profits geworden. Es hört sich an wie der Handelssaal der New Yorker Börse statt wie ein Vorhof von Gottes Tempel. Es riecht wie ein Bauernhof statt wie ein Ort, an dem man Gottes Gegenwart sucht121. Jesus betritt den Vorhof des Tempels und macht Sich eine Peitsche aus dem, was dort gerade griffbereit ist (wahrscheinlich aus dem Seil, mit dem die Tiere angebunden wurden). Dann treibt Er alle aus dem Tempelbezirk hinaus. Das Wort „alle“ verstehe ich so, dass Er nicht nur die Tiere hinaustrieb, sondern auch diejenigen, die diese Tiere verkauften. Die Münzen der Geldwechsler liegen verstreut am Boden und ihre Tische sind umgestoßen. Zu den Taubenverkäufern sagt Jesus: „Schafft diese Dinge fort von hier! Macht doch meines Vaters Haus nicht zu einem Marktplatz!“122

Nach dem Tod und der Auferstehung unseres Herrn erinnerten sich Seine Jünger daran, dass geschrieben war123: Leidenschaft für dein Haus wird mich verzehren (Vers 17). Die Jünger sahen die Reinigung des Tempels dann im Licht von Psalm 69124:

8 Ich bin meinen Brüdern ein Unbekannter geworden / und ein Fremder den Kindern meiner Mutter, 9 denn Eifer für Dein Haus hat mich gefressen / und die Schmähungen derer, die Dich schmähen, sind auf mich gefallen (Psalm 69:8-9, NKJV).

In diesen zwei Versen wecken mehrere Dinge meine Aufmerksamkeit. Das erste ist, dass dieser messianische Psalm von der Entfremdung des Messias gegenüber den „Kindern seiner Mutter“ spricht. Könnte darin ein Grund dafür liegen, dass Johannes das kurze Familientreffen in Kapernaum erwähnt (Johannes 2:12)? Die Mutter unseres Herrn wird von dort an nicht mehr erwähnt bis zum Kreuz, und die Erwähnung der „Brüder“ unseres Herrn in Johannes 7:3-5 enthüllt deren Skepsis Jesus und Seinem Dienst gegenüber. Hat Jesus bereits begonnen, Sich Seinen eigenen Brüdern entfremdet zu fühlen?

Zudem wird Ihnen auffallen, dass David in Psalm 69:9 in der Vergangenheit schreibt: „Denn Eifer für Dein Haus hat mich gefressen.“ Es gibt bei den griechischen Johannes-Texten Unterschiede, und so benutzen die KJV und die NKJV die Vergangenheit: „Eifer für Dein Haus hat Mich gefressen.“ Die anderen Versionen geben den Vers in der Regel im Futur wieder und folgen damit den wahrscheinlich besten griechischen Texten125. Ich mag die Übertragung der New English Bible am liebsten:

„Eifer für Dein Haus soll mich vernichten.”

Psalm 69 ist ein Psalm Davids. Er betet darum, dass er um seiner Frömmigkeit willen frei gemacht werde. Der Psalm spricht von der dräuenden Gefahr vonseiten der Feinde Gottes, die David wegen seiner leidenschaftlichen Hingabe an Gott hassen und darum seinen Tod wollen. Weitere Teile dieses Psalms stellen Ereignisse dar, die sich bei der Kreuzigung unseres Herrn zutragen (siehe Ps 69:21). In diesem Psalm ist offenbar eindeutig eine Prophezeiung über den Opfertod enthalten, den unser Herr aufgrund Seines Eifers für die reine Anbetung erleidet.

Jesus handelt aus dem Eifer für Seines Vaters Haus heraus; Er erhebt Anspruch auf den Tempel und reinigt ihn im Namen Seines Vaters. Indem Er das tut, erfüllt Er die Prophezeiung, dass der Eifer für Seines Vaters Haus den Tod unseres Herrn herbeiführen wird. Die zweite Tempelreinigung126 (Matthäus 21:10-17; Markus 11:15-19; Lukas 19:45-46) setzt dann tatsächlich die Ereignisse in Gang, die zur Kreuzigung unseres Herrn führen127.

Die Antwort auf die Herausforderung
(2:18-22)

18 Da sagten nun die jüdischen Führer [wörtlich. „die Juden“128] zu ihm: „Was für ein Wunderzeichen kannst du uns zeigen, dass du so etwas tust?“ 19 Jesus erwiderte ihnen: „Zerstört diesen Tempel, und in drei Tagen will ich ihn wieder aufrichten.“129 20 Da sagten die jüdischen Führer zu ihm: „An diesem Tempel ist sechsundvierzig Jahre lang gebaut worden, und du willst ihn in drei Tagen aufrichten?“ 21 Jesus aber redete von dem Tempel seines Leibes. 22 Als er dann von den Toten auferweckt worden war, erinnerten sich seine Jünger daran, dass er dies gesagt hatte, und sie glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesagt hatte.

Die Juden – insbesondere die jüdischen Religionsführer, die durch das Tun unseres Herrn bei der Tempelreinigung unmittelbar herausgefordert werden – konfrontieren Jesus nun ihrerseits mit einer Herausforderung. Sie fordern ein Zeichen dafür, dass Er die Autorität hat, so zu handeln, wie Er es getan hat. Das Paradoxe dabei ist, dass die Tat Jesu selbst ja das Zeichen ist:130

1 „Siehe, Ich sende Meinen Boten / und er wird vor Mir her den Weg bereiten. / Und plötzlich wird zu Seinem Tempel kommen / der Herr, den ihr sucht, / ja, der Bote des Bundes, / an dem ihr euch erfreut. / Siehe, Er kommt“, / sagt der Herr der Heerscharen. 2 „Wer aber kann den Tag Seines Kommens ertragen? / Und wer kann bestehen, wenn Er erscheint? / Denn Er ist wie das Feuer eines Läuterers / und wie die Lauge eines Wäschers. 3 Er wird als ein Läuterer und ein Reiniger von Silber sitzen, / Er wird die Söhne Levi reinigen / und läutern wie Gold und Silber, / damit sie dem Herrn darbringen / ein Opfer in Gerechtigkeit“ (Maleachi 3:1-3, NKJV).

Ich finde die Worte der Juden ausgesprochen interessant. Sie argumentieren Jesus gegenüber gar nicht dagegen, dass es eine Untat ist, den Tempel zu einer Kaufhalle zu machen. Ich vermute, dass die Pharisäer in diesem Punkt sogar mit Ihm übereinstimmen. Es geht nicht darum, was getan worden ist, sondern wer es getan hat. Die Pharisäer werfen die Frage nach Jesu Identität und Autorität auf, und das ist eigentlich nicht schwer zu verstehen. Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Stopzeichen missachtet und werden von einem Polizisten angehalten. Wenn Sie klug sind, hören Sie dem Beamten höflich zu, geben ihren Fehler zu, nehmen ihren Strafzettel entgegen und bezahlen ihn. Wenn Sie jedoch ein Stopzeichen missachtet hätten und daraufhin von einem erbosten Passanten angehalten würden, wären Sie bestimmt viel weniger geneigt, höflich zuzuhören. Selbst wenn Sie im Unrecht wären, würden Sie wahrscheinlich protestieren: „Was glauben Sie denn, wer Sie sind, dass Sie mich hier einfach anhalten und über meine Fahrweise belehren?“

In einer Hinsicht betrachten die Juden die Handlung unseres Herrn schon als ein Zeichen. Wenn jemand den Tempel reinigt und die Vergehen rügt, die er dort vorfindet, dann setzt das eigentlich voraus, dass er dazu autorisiert ist. Wenn Jesus im Namen Gottes handelt (dass Er als Gott handelt, sind sie noch nicht in der Lage zu verstehen), dann soll Er Sich doch durch eine Vorführung Seiner göttlichen Macht ausweisen. Wenn Er mit Gottes Autorität handelt, soll Er doch ein Zeichen vollbringen, um das zu beweisen. Es gibt bei uns eine respektlose Formulierung, die die Geisteshaltung der (ja ebenfalls nicht sehr respektvollen) Juden bei ihrer Herausforderung widerspiegelt: „Put up, or shut up!“ [„Finde dich damit ab oder halte den Mund!“] Sie haben den Fehdehandschuh hingeworfen. Jetzt ist es an Jesus zu antworten.

Jesus lässt ihnen kein Zeichen zukommen. Er verweist noch nicht einmal auf die Zeichen, die Er anscheinend in Jerusalem schon vollbracht hat (siehe 2:23, 3:2). Er wird nicht durch den Reifen springen, den sie Ihm hinhalten. Er versucht noch nicht einmal, sie davon zu überzeugen, wer Er wirklich ist. Statt dessen spricht Er von dem „ultimativen Zeichen“, Seinem Tod und Seiner Auferstehung: „Zerstört diesen Tempel, und in drei Tagen will ich ihn wieder aufrichten“ (Vers 19). Es ist typisch für die Juden, dass sie nur in ganz konkreten Begriffen denken können (siehe Nikodemus in Kapitel 3). Sie nehmen an, dass Er vom Tempel des Herodes spricht, einem Tempel, an dem „sechsundvierzig Jahre lang“ gebaut worden ist. Denkt Jesus etwa, er könnte in drei Tagen einen Tempel errichten, an dem schon sechsundvierzig Jahre lang gebaut wurde und der noch immer nicht fertig ist?

Johannes sagt seinen Lesern, was wir schon wissen: Jesus spricht nicht von diesem irdischen Tempel. Er weiß, dass auch der bald zerstört werden wird (Markus 13:1-2). Er spricht vielmehr von Sich Selbst als dem Tempel Gottes und von Seiner bevorstehenden Kreuzigung. Er versucht hier nicht, die Juden dazu zu überreden, dass sie an Ihn glauben, sondern prophezeit vielmehr, dass sie nicht glauben werden und dass sie Ihn auf Golgatha töten werden. Und dann wird sein Triumph nach drei Tagen offenbar werden, wenn Er von den Toten „aufgerichtet“ wird131.

Die Juden verstehen kein Wort. Wahrscheinlich gehen sie kopfschüttelnd auseinander und sind davon überzeugt, dass Jesus vollkommen verrückt ist. Auch die Jünger verstehen es nicht. Erst nach dem Tod und der Auferstehung unseres Herrn kommt ihnen diese Prophezeiung wieder in den Sinn und sie sehen, dass sie sich durch Ihn genau so erfüllt hat, wie Er es gesagt hat. Dann glauben sie an die Schrift und an das, was Jesus gesagt hat. Man könnte sagen, dass das, was Jesus gesagt hat, und das, was in der Schrift geschrieben steht, ein und dasselbe ist und dass beides erfüllt wurde132. Die Jünger gelangten zum Glauben an Jesus und an Seine Worte als Erfüllung der Schrift.

Es wird hier nicht ausdrücklich gesagt, was für eine „Schrift“ Johannes meint, an die sich die Jünger erinnern und an die sie glauben. Nach der Auferstehung unseres Herrn benutzten die Apostel die Schriften, um zu beweisen, dass Jesus der Messias war und dass Sein Tod und Seine Auferstehung vorhergesagt worden waren (siehe Apostelgeschichte 2:14-36, 13:16-41). Jesus Selbst gibt Seinen Jüngern diesbezüglich eine Lektion aus dem Alten Testament, bevor Er zum Vater in den Himmel fährt (Lukas 24:44-49).

Schlussfolgerung

Die Reinigung des Tempels schafft den Missbrauch, der in unserem Text beschrieben wird, nicht auf Dauer ab. Wir wissen, dass die Zustände im Tempel zum Zeitpunkt der (in den synoptischen Evangelien beschriebenen) zweiten Reinigung genau dieselben waren wie bei der ersten (von Johannes beschriebenen) Reinigung. Ich fürchte, dass die ganzen Tempelhändler unmittelbar nachdem unser Herr Jerusalem verlassen hatte sogleich wieder ihre Läden einrichteten und mit ihren Schandtaten weitermachten. Unser Herr beabsichtigt mit dieser ersten Reinigung, glaube ich, „eine Erklärung abzugeben“ – über Sich Selbst, über den Tempel und über das jüdische Glaubenssystem – und nicht das Problem, das Er angreift, auf Dauer zu lösen.

Der Tempel wird missbraucht, und Jesus reagiert zurecht auf diesen Missbrauch. Selbst die hartherzigen jüdischen Glaubensführer kriegen aber mit, dass sich daneben aber noch mehr abspielt. Sie erkennen, dass Jesus einen Anspruch geltend macht. Er beansprucht zur Abschaffung des Frevels autorisiert zu sein, der im Tempel begangen wird. Er nennt den Tempel „Seines Vaters Haus“. Niemand von denen, die dieses Ereignis unmittelbar miterlebten, erfasste das ganze Ausmaß seiner Bedeutung und Wichtigkeit. Die Jünger werden verstehen – aber erst nach dem Tod und der Auferstehung unseres Herrn, erst nach dem Kommen des Heiligen Geistes (siehe Johannes 16:12-14). Jesus kam nicht nur mit Gottes Autorität (wie es bei einem Propheten der Fall wäre); Er kam als Gott. Ja, Er ist Gott, der unter den Menschen wohnt, wie Johannes sagt (Johannes 1:14). Später spricht Er von Sich als von dem Tempel, und der ist Er tatsächlich:

21 Und die zwölf Tore sind zwölf Perlen – jedes der Tore ist aus einer einzigen Perle gemacht! Die Hauptstraße der Stadt ist reines Gold, wie durchsichtiges Glas. 22 Und ich sah keinen Tempel in der Stadt, denn der Herr Gott der Allmächtige ist ihr Tempel und das Lamm. 23 Die Stadt hat es nicht nötig, dass die Sonne oder der Mond auf sie scheine, denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm. 24 Die Völker werden in ihrem Lichte wandeln und die Könige der Erde werden ihre Pracht in sie hineinbringen. 25 Ihre Tore werden bei Tag niemals geschlossen werden (denn es wird dort keine Nacht geben). 26 Man wird die Pracht und den Reichtum der Völker in sie hineinbringen, 27 aber nichts rituell Unreines wird je in sie hineinkommen noch irgendjemand, der Abscheuliches tut oder Falschheit verübt, sondern nur die, deren Namen im Lebensbuch des Lammes eingeschrieben sind (Offenbarung 21:21-27; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Bei der Reinigung des Tempels kommt unser Herr, um symbolisch in Besitz zu nehmen, was Ihm – als Gott – gehört. Da Er der Sohn Gottes ist, ist der Tempel Seines Vaters Haus; und so hat Er das Recht, den Missbrauch des Tempels abzustellen. Er hat das Recht, Menschen und Tiere aus dem Tempelbezirk zu vertreiben. Wenn ich den Bericht über die erste Tempelreinigung lese, fällt mir ein Kommentar von Leon Morris über Johannes 1:11 ein, der direkt mit unserem Text zu tun hat. Lassen Sie uns diesen Vers zunächst noch einmal ansehen:

9 Das wahre Licht, das jedem Menschen Licht gibt, kam in die Welt. 10 Er war in der Welt, und die Welt wurde durch ihn erschaffen, aber die Welt erkannte ihn nicht. 11 Er kam zu dem, was sein Eigen war, doch sein eigenes Volk nahm ihn nicht auf (Johannes 1:9-11; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Es folgt, was Morris über den Ausdruck „Sein Eigen“ zu sagen hat:

Mit einem Anflug von Lebhaftigkeit beleuchtet Johannes die Tragödie der Ablehnung. Man könnte die Anfangsworte auch mit ‚er kam nach Hause’ übersetzen. Es ist dies genau der gleiche Ausdruck, den der geliebte Jünger benutzte, als er auf das Wort hin, das Jesus vom Kreuz herab sprach, Maria ‚in sein eigenes Haus’ aufnahm (19:27; vgl. 16:32). In gewisser Hinsicht kam das Wort nicht als ein Fremder in diese Welt. Er kam nach Hause. Zudem kam Er auch noch nach Israel. Es wäre schon schlimm genug gewesen, wäre Er in irgendein anderes Volk gekommen, aber Israel war ja ganz besonders Gottes eigenes Volk. Das Wort ging nicht dorthin, wo Er nicht hätte erwarten können, dass man Ihn kennt. Er kam nach Hause, wo die Menschen Ihn hätten kennen müssen.133

Einige Übersetzungen versuchen die Bedeutung der feinen begrifflichen Änderung festzuhalten, die Johannes in Vers 11 bewusst vorgenommen hat. Andere geben dagegen leider die beiden Begriffe mit ein und demselben Ausdruck, „Sein Eigen“, wieder. Die New English Bible überträgt diesen Satz: „Er kam in sein eigenes Reich und die Seinen wollten ihn nicht aufnehmen.“ Die NET-Bibel übersetzt: „Er kam zu dem, was sein Eigen war, doch sein eigenes Volk nahm ihn nicht auf.“ Morris würde übersetzen: „Er kam nach Hause und die Seinen wollten Ihn nicht empfangen.“ Merken Sie etwas? Als Jesus in den Tempel kommt, kommt Er „nach Hause“. Es ist Seines Vaters Haus. Er handelt im Auftrag Seines Vaters; und im Verlaufe dessen erklärt Er, dass Er Selbst Gott ist. Als Reaktion darauf weist man Ihn zurück – „die Seinen nahmen ihn nicht auf“.

Gott hat das Recht, in Besitz zu nehmen, was Ihm gehört. Hier beansprucht Jesus das Besitzausübungsrecht am Tempel, weil der Tempel Ihm gehört. Dieses Ereignis mag einem sehr weit entfernt vorkommen, so als hätte es mit uns heutigen Menschen nichts zu tun. Wir leben weit entfernt von Jerusalem, an einem Ort, wo es keinen Tempel (wie den von Herodes, der zerstört wurde) gibt. Warum also sollte uns dieses Ereignis überhaupt irgendetwas angehen? Das sollte es schon, mein Freund, das sollte es wirklich.

Die erste Herabkunft unseres Herrn geschah – zum Teil –, um Anspruch zu erheben auf das, was Ihm gehört. Die Zweite Herabkunft unseres Herrn, die als Ereignis noch in der Zukunft liegt, ist die Zeit, da Er kommen und vollständig in Besitz nehmen wird, was Ihm gehört. Jesus spricht, wie wir in den Evangelien sehen können, oft von Güterverwaltung. Der Grund dafür ist eigentlich klar: Wir besitzen letztendlich gar nichts; es ist alles Sein Besitz. Diese Erkenntnis wirft ein ganz neues Licht auf alles, was wir als unsere „Besitztümer“ ansehen. Manche Menschen denken anscheinend, sie besäßen tatsächlich alles, was sie haben, und könnten Gott, wenn ihnen großzügig zumute ist, vielleicht einen Anteil davon abgeben. In Wahrheit aber hat Gott auf alles einen Anspruch, und wir sind lediglich Verwalter Seiner Besitztümer. Wenn wir diese nur dazu benutzen, um darin zu schwelgen, werden wir der Verwalterschaft nicht gerecht. Wenn wir keinen guten Gebrauch von ihnen machen, versagen wir als Verwalter. Hören wir also auf damit, irgendetwas als unser Eigentum zu betrachten. Wir sollten viel weniger an den Dingen festhalten, die wir unsere Besitztümer nennen. Und wir sollten sie, als Seine Verwalter, gut nutzen.

Jesus kam, um in Besitz zu nehmen, was Ihm gehörte – Seinen Tempel. Jesus hatte das Recht festzulegen, wie die Menschen Seinen Tempel benutzen durften, und das Recht, diejenigen zurechtzuweisen, die ihn missbrauchten. Und nun wird die Kirche als Sein Tempel errichtet:

19 So seid ihr denn nicht länger Fremdlinge und Nicht-Eingebürgerte, sondern ihr seid Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes, 20 weil ihr auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut worden seid, mit Jesus Christus selbst als Eckstein. 21 Durch ihn wird der ganze Bau ineinandergefügt und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn; 22 in ihm werdet auch ihr zusammen erbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist (Epheser 2:19-22; siehe auch 1. Petrus 2:4-10).

Demzufolge macht sich jeder, der der Kirche, Gottes Tempel, in irgendeiner Weise Schaden zufügt, eines besonders schwer wiegenden Vergehens schuldig:

16 Wisst ihr nicht, dass ihr134 Gottes Tempel seid und dass Gottes Geist in euch wohnt? 17 Wenn jemand Gottes Tempel verdirbt, den wird Gott verderben. Denn Gottes Tempel ist heilig, und der seid ihr (1. Korinther 3:16-17).

Und was für eine Übereinkunft gibt es zwischen Gottes Tempel und den Götzen? Denn wir sind doch der Tempel des lebendigen Gottes; wie Gott gesagt hat: „Ich will in ihnen wohnen und unter ihnen wandeln, und ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein” (2. Korinther 6:16).

Wenn es so ist, dass die Kirche kollektiv den Tempel unseres Herrn darstellt, dann stellen auch wir individuell „Tempel“ des Heiligen Geistes dar. Und weil das so ist, werden unsere Sünden im Leib sehr ernst genommen.

19 Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist, den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euer Eigen seid? 20 Denn ihr wurdet um einen teuren Preis erkauft. Verherrlicht daher Gott mit eurem Leib (1. Korinther 6:19-20).

Wir sind Gottes Besitz; Er besitzt unseren Leib als Seinen Tempel. Wir gehören uns nicht selbst135. Im Zusammenhang von 1. Korinther 6 sagt uns Paulus, dass sexuelle Unmoral – auch wenn sie von der Gesellschaft sehr leicht genommen wird (siehe 6:13) – insbesondere für einen Christen eine schwer wiegende Sünde darstellt. Wenn unser Leib der Tempel Gottes ist, dann schänden wir Gottes Tempel, indem wir unseren Körper schänden. Wenn Jesus die Verschandelung des Herodes-Tempels so ernst nahm – was, glauben Sie, hält Er dann von der Art, wie Sie und ich mit unseren Körpern umgehen? Unsere Körper zu missbrauchen oder zu entehren bedeutet Gott zu beleidigen, dem sie gehören und der durch Seinen Geist in unseren Leibern wohnt.

Worte und Taten unseres Herrn haben auch einen Bezug zu unserem Umgang mit den Kirchengebäuden (oder anderen Orten der Anbetung). Lassen Sie es mich einmal ganz klar sagen: Kirchengebäude sind nicht „Gottes Haus“ in dem Sinne, wie es der Tempel war. Gott ist bei Seinem Volk, wenn es zusammenkommt; aber es ist nicht das „Gebäude“, in dem Er weilt, sondern die Gemeinde, Sein Leib. Ungeachtet dessen hat uns unser Text etwas über die Versammlung zum Gottesdienst zu sagen.

Kann es sein, dass wir die Kirche (das Gebäude) zu einem Kaufhaus, zu einem Ort des Handels machen? Wann immer wir damit beginnen, irgendetwas in der Kirche zu verkaufen, besteht diese Gefahr. Zuerst tun wir das vielleicht, weil wir den Gottesdienstbesuchern die Anbetung erleichtern wollen. Genau das hätten, denke ich, die Tempelhändler über ihre Motivation gesagt. Ob es Liederbücher, Kassetten und Videos sind, die ein Gastredner oder Musiker verkauft, oder aber Süßigkeiten, die verkauft werden, um ein Jugendlager zu bezahlen – wir müssen uns sehr vorsehen, dass die Kirche dadurch nicht in ein Einkaufszentrum verwandelt wird. Heutzutage werden in Kirchen eine Menge Sachen verkauft; die Gefahr ist also gegeben136.

Lassen Sie mich einmal kurz über die Kirchenmauern hinausgehen und ein Wort der Warnung über die Kommerzialisierung des Christentums anbringen. Ein großer Teil des Pfarrdienstes, der früher als der Dienst von der Kirche und durch die Kirche angesehen wurde, wird nunmehr „professionellen“ christlichen Dienstleistern überlassen. Das mag zum Teil unter biblischen Gesichtspunkten gerechtfertigt und sogar gut sein, zum Teil aber auch nicht. Ich fürchte, wir haben manche christlichen Dienste schon zu Industrien gemacht, zur „Firma Christentum“, in der einige Christen dazu übergehen, die Bedürfnisse anderer als Gelegenheit zum Profit anzusehen anstatt als Möglichkeit, ein Opfer zu bringen und den anderen zu dienen. Es betrifft mich zutiefst, wenn solche „Christlichen Dienste“ nur denen zu dienen bereit sind, die die Mittel haben, um dafür zu bezahlen, und die Armen, die es vielleicht am dringendsten brauchen, bewusst abweisen oder übergehen.

Wir müssen uns auch sehr vorsehen, dass wir nicht „kaufmännische Prinzipien“ übernehmen, um zu gewährleisten, dass unser Dienst „ein Erfolg“ wird137. Von solchen Dingen ist heutzutage viel die Rede, so als ob weltliche Handelsprinzipien der Schlüssel zu einem wirkungsvollen Dienst wären. Wenn, zum Beispiel, eine Kirchengemeinde ein Bauprojekt plant und zu Spenden für die Erweiterung aufruft, dominieren allzuoft Schaubilder, „Thermometer“-Säulen und Werbeplakate im Kirchenraum (das Wort „Heiligtum“ will ich hier gar nicht gebrauchen) und lenken von der Anbetung ab, die eigentlich dort stattfinden sollte. Diejenigen Prinzipien aus der Geschäftswelt, die wahrhaft biblisch sind, können vielleicht in der Kirche angewendet werden. Viele Leitsätze des weltlichen Handels aber stehen im Widerspruch zu biblischen Prinzipien. Ein großer Teil der Verkaufsmethoden nach der Madison-Avenue-Taktik basiert auf dem Appell an das Fleisch. Wo das aber der Fall ist, kommt der christliche Dienst besser ohne die entsprechenden Verkaufsprinzipien und –methoden aus.

Lassen Sie mich schließlich noch ein Wort über Jesus und Sein Gericht sagen. Viele Menschen stellen sich Jesus gerne als einen „Gott der Liebe“ vor, der nie kritisiert, nie beurteilt, nie verurteilt und dessen Ruf darauf abzielt, jeden zu bestätigen und glücklich zu machen. Ich muss Sie darauf hinweisen, dass unser Herr für Seine öffentliche Darstellung vor der Welt nicht die Verwandlung von Wasser in Wein oder die Erweckung der Toten oder die Heilung der Kranken wählte; Jesus offenbarte Sich Israel als der Messias, indem Er den Tempel reinigte. Ich möchte Sie daran erinnern, dass Johannes der Täufer zwar das Kommen von Einem voraussagte, der das „Lamm Gottes“ sei, „das die Sünde der Welt hinwegnimmt“. Genauso drängte er andererseits aber auch Männer und Frauen zur Buße, weil der Messias kommen werde, um die Welt zu richten. Der Jesus der Bibel, der „wirkliche“ Jesus, ist Einer, der barmherzig und gnädig zu denen ist, die an Ihn glauben und Ihm gehorchen. Er ist aber auch Der, der über diejenigen richten wird, die sich Ihm widersetzen und Ihn abweisen.

Die Verwandlung von Wasser in Wein und die Reinigung des Tempels zeigen uns ein breites Spektrum von Person und Werk unseres Herrn Jesus Christus. Er ist der sanftmütige und gnädige Erlöser, der das frischvermählte Paar vor der Schande bewahrte, indem Er Wasser in Wein verwandelte. Und Er ist auch der heilige und gerechte Richter, der Seine Feinde strafen und die Menschen für ihre Übeltaten zur Rechenschaft ziehen wird. Paulus schreibt:

Sieh also die Güte und die Härte Gottes: Härte gegenüber denen, die gefallen sind, aber Gottes Güte dir gegenüber; vorausgesetzt, du bleibst in seiner Güte, sonst wirst auch du abgehauen werden (Römer 11:22).

Hast du schon einmal über die Härte Gottes nachgedacht, die du als Sünder zu Recht verdient hast? Hast du schon die Güte Gottes empfangen in dem Geschenk Jesu Christi, der für deine Sünden am Kreuz von Golgatha starb? Ich bitte dich dringend, zum „Glauben“ an Ihn zu kommen, denn das ist der Zweck, zu dem Johannes dieses Evangelium geschrieben hat.

Anhang:
Gab es zwei Tempel-Reinigungen oder nur eine?

Wenn man den Bericht der Evangelien so nimmt, wie er geschrieben steht, gibt es offensichtlich zwei Tempelreinigungen. Die erste trug sich zu Beginn des irdischen Dienstes unseres Herrn zu und wird von Johannes beschrieben. Die zweite findet am Ende des öffentlichen Dienstes unseres Herrn statt und scheint der Auslöser für Seine Hinrichtung am Kreuz gewesen zu sein. Erstaunlicherweise haben viele Wissenschaftler anscheinend große Schwierigkeiten damit, dass es zwei Reinigungen geben soll. D.A. Carson bemerkt dazu: „Nur sehr wenige sehen es als wahrscheinlich an, dass es zwei Tempelreinigungen gab, eine kurz nach Beginn des öffentlichen Dienstes Jesu und die andere an dessen Ende (z.B. Hendriksen, S. 120; Morris, S. 188-191)“ (Carson, S. 177).

Meiner Meinung nach gibt es nur ausgesprochen schwache Gründe dafür, den „Eine-Reinigung“-Standpunkt zu vertreten.

Viele moderne Wissenschaftler haben große Schwierigkeiten mit der Aussage, dass Jesus den Tempel zweimal ‚reinigte’. So schreibt V.H. Stanton: ‚Wenn wir in unterschiedlichen alten Dokumenten zwei Berichte finden, die über verschiedene Zeitpunkte in vielerlei Hinsicht so ähnlich schreiben, dann ist es insgesamt äußerst wahrscheinlich, dass wir es mit verschiedenen Überlieferungen desselben Ereignisses zu tun haben.’ Und Bernard bemerkt: ‚Abgesehen von der Tatsache, dass das zweimalige Auftreten des gleichen Ereignisses unwahrscheinlich ist, fällt es uns auch schwer zu behaupten, dass sich speziell dieses Ereignis – oder irgend etwas in der Art – in einem so frühen Stadium während des Dienstes Jesu hätte zutragen können, wie es die traditionelle Kapitel-Reihenfolge im Vierten Evangelium nahelegt.’138

Den „Zwei-Reinigungen“-Standpunkt sollen wir auch deshalb verwerfen, weil es unlogisch sei anzunehmen, dass – nachdem es Jesus das erste Mal gelungen war, den Tempel zu reinigen – man dasselbe noch ein zweites Mal zugelassen hätte. Auch wenn Carson zur „Zwei-Reinigungen“-Ansicht neigt, zögert doch selbst er, dieses Thema dogmatisch zu behandeln:

Kurz gesagt: es ist nicht möglich, mit Sicherheit zu entscheiden, ob nur eine Reinigung des Tempels stattfand oder zwei; aber die Argumente für eine sind schwach und subjektiv, und die geradlinigste Auslegung der Texte spricht für zwei.139

Hendriksen (S. 120) bezieht eindeutig Stellung für zwei Reinigungen; ebenso wie Morris (S. 188-190) und Tasker. Taskers Einschätzung der Dinge finde ich sehr gut:

Johannes korrigiert nicht eine falsche Chronologie der früheren Evangelisten und er verändert auch nicht absichtlich deren Geschichte im Interesse seines theologischen Entwurfs. Wir dürfen vielmehr vernünftigerweise davon ausgehen, dass er eine zusätzliche ‚Reinigung’ beschreibt, die zu erwähnen die synoptischen Schreiber keine Gelegenheit hatten, weil sie nicht Teil der petrischen, galiläischen Überlieferung war, die sie verkörperten.140

Es bekümmert mich, dass die Theorie der einen Reinigung überhaupt von der konservativen Wissenschaft unterstützt wird. Der Text ist klar; und wer ihn als das inspirierte Wort Gottes akzeptiert, sollte auch seine Aussagen akzeptieren und sich nicht verpflichtet fühlen, sie zu verändern. Es ist überhaupt nicht schwer zu glauben, dass es zwei Reinigungen gab, eine zu Beginn und die andere am Ende des Dienstes unseres Herrn. Warum nur wollen manche Menschen – allein auf der Grundlage ihrer eigenen Voreingenommenheit – den Text in Frage stellen?

Müssen wir (wie Stanton gemäß dem Zitat in Fußnote 50) davon ausgehen, dass zwei Ereignisse, nur weil sie etwas ähnlich beschrieben werden, dasselbe Ereignis darstellen, auch wenn uns die Verfasser etwas anderes sagen? Wenn Jesus an einem Ort 5000 speiste und an einem anderen Ort 4000 – können wir dann nicht glauben, dass es zwei ähnliche, aber voneinander verschiedene Wunder gab? Wagen wir es wirklich, den inspirierten Text zu „korrigieren“, weil wir denken, dass dieses Wunder „zu früh“ im Verlaufe des Dienstes unseres Herrn kommt? Wer sind wir, dass wir sagen könnten, was Gott tun kann oder wann? Glauben wir wirklich, dass Jesus es nicht schaffen könnte, den Tempel zweimal zu reinigen? Niemand konnte Ihn festnehmen oder hinrichten, bevor es nicht „Seine Zeit“ war. Die Soldaten, die kamen, um Ihn festzunehmen, fielen vor Ihm nieder, als Er sprach. Wie können wir es also wagen zu denken, Er könnte nicht jeden Tag in den Tempel gehen und ihn reinigen, wenn Er es nur wollte? Die Einwände, die gegen ein wörtliches Verständnis der Texte vorgebracht werden, sind nicht nur schwach, sie sind anmaßend.


105 Bei diesem Tempel fand eine Art Reinigung durch Nehemia statt (Nehemia 13:4-9). Der Priester Eljaschib war ein Verwandter des Tobija und hatte diesem erlaubt, einen der großen Räume auf dem Tempelgelände zu nutzen. Der Raum war zuvor für die Lagerung von Opfergetreide, Gerätschaften, Weihrauch und anderen für die Opferung und den Gottesdienst benötigten Gegenständen benutzt worden. Nehemia warf Tobijas Güter hinaus, ließ den Raum reinigen und übergab ihn wieder seiner ursprünglichen Bestimmung.

106 Diese Worte sind in Lukas 2 nicht ausdrücklich zu finden; aus dem Zusammenhang heraus wird es aber so verstanden. In Johannes 2, Vers 16 wird es dann ganz eindeutig gesagt.

107 „Kapernaum … lag an der Nordwestküste von Galiläa, etwa sechzehn Meilen ost-nordöstlich von Kana; also gingen Reisende buchstäblich ‚hinab’ nach Kapernaum. Heute liegt an dieser Stelle Tell-Hum.” D.A. Carson, The Gospel According to John [Das Evangelium nach Johannes], (Grand Rapids: William B. Eerdmans Publishing Company, 1991), p. 176.

108 Hier wird Maria, die Mutter Jesu zum letzten Mal in diesem Evangelium erwähnt, bevor wir sie am Fuße des Kreuzes wiederfinden (Johannes 19:25-27).

109 Ich werde hier meine Zeit nicht damit verbringen, die Ansichten anderer zu widerlegen, die uns davon überzeugen wollen, dass die „Brüder“ unseres Herrn nicht Seine irdischen Halbbrüder Jakobus, Joseph, Judas und Simon sind (siehe Markus 6:3).

110 Morris glaubt, dass die Familie unseres Herrn möglicherweise nach Kapernaum gezogen ist und schreibt dazu: „Dafür könnte sprechen, dass in Markus 3:31ff. die Mutter und die Brüder unseres Herrn in Kapernaum erscheinen und dass in Markus 6:3 Jesu Brüder zwar namentlich genannt werden, aber nur von seinen Schwestern gesagt wird, dass sie in Nazareth bleiben. So etwas wäre zu erwarten, wenn die Schwestern inzwischen geheiratet hätten und der Rest der Familie später nach Kapernaum gezogen wäre.“ Leon Morris, The Gospel According to John [Das Evangelium nach Johannes], (Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans Publishing Co., 1971), S.187, Fn. 42.

111 Danach – Der nächstliegende Gedanke ist der, dass sich die im Folgenden berichteten Ereignisse kurz nach der Hochzeit in Kana zutrugen. Das scheint allein aufgrund des Ausdrucks so, der hier gebraucht wird, denn der weist an anderer Stelle im Vierten Evangelium auf ein sich wenig später anschließendes Ereignis hin (11:11, 19:28). Diese Schlussfolgerung wird durch die unmittelbar folgenden Verse bestätigt, wo wir lesen: ‚Und das Passahfest der Juden war nahe, und Jesus ging hinauf nach Jerusalem.’ Nun, das ist ganz logisch: Jesus verwandelte im Februar oder Anfang März das Wasser in Wein; von der Hochzeit in Kana aus geht er weiter nach Kapernaum, wo er einige Tage verbringt; dann folgt das Passahfest, das im frühen Frühjahr (etwa im April) abgehalten wurde. Wir können der Auffassung daher nicht zustimmen, dass die hier berichtete Reinigung des Tempels gegen Ende des Dienstes Christi stattfand und der entsprechen sollte, über die wir in Matthäus 21 lesen.“ William Hendriksen, Exposition of the Gospel According to John [Der Entwurf des Evangeliums nach Johannes], 2 Bd. (Grand Rapids: Baker Book House, 1953-1954), S. 120.

112 Im ersten Teil von Kapitel 2 verwandelte Jesus Wasser zur Reinigung in Wein. In der zweiten Hälfte des Kapitels reinigte Jesus den Tempel und die religiösen Führer „weinten“. Es scheint, als stelle Johannes der zeremoniellen jüdischen Reinigung Jesu Reinigung des zeremoniellen Judentums gegenüber.

113 „Johannes führt genau Buch über die jüdischen Feste. Außer den anderen Festen erwähnt er drei Passah-Feste (2:13, 6:4, 11:55), vielleicht sogar noch ein viertes (5:1). Dieses findet wahrscheinlich 28 n.Chr. statt.“ Carson, S. 176.

114 „… stimmt in diesem Falle sogar buchstäblich (indem man tatsächlich von 200 Meter unter dem Meeresspiegel am Galiläischen Meer bis auf 750 Meter über dem Meeresspiegel, die Höhe der Heiligen Stadt, hinaufging), es trifft aber niemals in einem religiösen Sinne zu.“ Hendriksen, S. 122.

115 „Das eigentliche Passah-Mahl ist so eng mit dem unmittelbar anschließenden Fest der Ungesäuerte Brote verbunden, dass der Begriff Passah häufig für beides zusammen benutzt wird. So lesen wir in Lukas 22:1, einer ganz entscheidenden Textstelle: ‚Nun kam das Fest der Ungesäuerten Brote heran, das das Passah genannt wird.’ Auch in Apostelgeschichte 12:4 (siehe den vorangehenden Vers) umfasst der Begriff Passah eindeutig das gesamte siebentägige Fest. Das Alte Testament bezeichnet das Passah ebenfalls als ein Fest von sieben Tagen“ (Hes. 45:21). Hendriksen, S. 121-122.

116 Siehe Deuteronomium 16:16.

117 Hendriksen, S. 121. Hendriksen fährt dann mit einer detaillierten Beschreibung der Vorgänge beim eigentlichen Passah-Mahl fort.

118 Carson, S. 178.

119 Hendriksen, S. 122.

120 „Bei dieser Gelegenheit nun stellt Jesus fest, als er den Tempel in Jerusalem betritt, dass der Hof der Heiden geradezu in einen Viehhof verwandelt worden war. Da waren der Gestank und der Dreck, das Blöken und Muhen der für das Opfer bestimmten Tiere.“ Hendriksen, S. 122.

121 Lebensmittelläden haben oft eine Bäckerei, und der Duft des frisch Gebackenen lockt einen in die Bäckerei, um dort einzukaufen. Wenn man zum Tempel kam, roch man die Opfergaben und den Duft der Räucherwaren (Lukas 1:9-11). Das roch sicher angenehm – nicht aber, wenn der Tempelhof zu einem Viehmarkt gemacht wurde.

122 Das griechische Wort, das Johannes hier benutzt, könnte man mit ‚Handelszentrum’ übersetzen. Die Tempelhöfe waren in ein Einkaufszentrum verwandelt worden.

123 Meiner Meinung nach will Johannes uns nicht zu verstehen geben, dass die Jünger dies sofort verstanden hätten, sondern dass sie am Ende – im Lichte Seines Todes und Begräbnisses und Seiner Auferstehung sowie durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes – zu diesem Verständnis gelangten (siehe Johannes 16:12-14).

124 „Dieser Gedanke wird unter Bezug auf Ps. 69 zum Ausdruck gebracht, der zu den sechs am häufigsten im Neuen Testament erwähnten Psalmen gehört (neben Pss. 2, 22, 89, 110 und 118). Verschiedene Stellen aus diesem Psalm (der in der LXX der 68. Psalm ist) hört man außerdem in Mat. 27:34 und 48, Mar.15:36, Luk. 23:36, Joh. 15:25 und 19:28, Rö. 11:9,10 und 15:3, Heb. 11:26, und in Off. 3:5, 13:8, 16:1, 17:8, 20:12 und 15 und 21:27 anklingen. Während einiges davon Zitate sind, handelt es sich an anderen Stellen um Anspielungen und mehr oder weniger indirekte Erwähnungen. Jesus selbst (15:25) zitiert Ps. 69:4, ‚Sie hassten mich ohne Grund’, und bezieht das auf seine eigenen Erfahrungen. In Erfüllung von Ps. 69:21 äußert er am Kreuz die Worte ‚Mich dürstet’ (19:28).“ Hendriksen, S. 123. Siehe auch Hesekiel 10:15-19, 11:22-23; Sacharja 14:21; Maleachi 3:1,3.

125 „Aus der Tatsache, dass man nicht erkannte, dass die Jünger die Worte des Psalmisten als Prophezeiung über Christi Tod ansahen, und statt dessen annahm, dass sie hier von der Kraft und Furchtlosigkeit Jesu sprachen, entsprang die spätere, unzulänglich bestätigte Lesart nach AV hat mich gefressen in Vers 17.“ R.V.G. Tasker, The Gospel According to St. John: An Introduction and Commentary [Das Evangelium nach St. Johannes: Einführung und Kommentar], (Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans Publishing Company, 1980 [zehnter Nachdruck]), S. 63.

126 Siehe Appendix: „Gab es zwei Tempelreinigungen oder nur eine?“

127 „Gemeinsam mit anderen neutestamentarischen Schreibern entdeckt Johannes jedoch in den Erfahrungen Davids ein prophetisches Paradigma, das vorausnimmt, was sich im Leben von ‚des großen Davids noch größerem Sohn’ ereignen muss. Das erklärt, warum in 2:17die grammatische Zeit der Worte, die aus der LXX zitiert werden, ins Futur wechselt: Eifer für dein Haus wird mich verzehren. ... Für Johannes stellt zweifellos Jesu Tod die Art dar, wie dieser ‚verzehrt’ werden wird.“ Carson, S. 180.

128 „Dieser Ausdruck [‚die Juden’] kommt in den synoptischen Evangelien selten vor. In jedem von diesen wird einige Male der ‚König der Juden’ erwähnt und der Begriff ‚Juden’ ansonsten kaum benutzt. Im Johannes-Evangelium aber wird er über siebzig Mal benutzt. Dabei kann der Evangelist diesen Begriff manchmal in neutralem Sinne (z.B. 2:6, ‚die jüdische Sitte der Reinigung’), manchmal sogar in positivem Sinne gebrauchen (z.B. ‚Erlösung kommt aus den Juden’ 4:22). Noch öfter aber benutzt er ihn, um die jüdische Nation zu charakterisieren, wo sie Jesus gegenüber feindselig eingestellt ist. Damit muss er nicht notwendigerweise die gesamte Nation meinen. Tatsächlich bezieht es sich charakteristischerweise auf die Juden von Judäa, insbesondere auf die in und um Jerusalem.“ Morris, S. 130-131. Morris zitiert dann G.J. Cuming in einer Fußnote: Insbesondere trifft das auf die Hohepriester und die Pharisäer zu, die er als die erbittertsten Gegner unseres Herrn darstellt.’“ (S. 131, Fn. 2).

129 „Nach dem Bericht der Synoptiker beschuldigten falsche Zeugen Jesus bei seinem Prozess vor dem Sanhedrin der Worte: ‚Ich will diesen von Menschenhand gemachten Tempel zerstören und in drei Tagen einen neuen erbauen, der nicht von Menschenhand gemacht ist’ (Mar. 14:58 par.; vgl. Mar. 15:29). Der einzige Ort, an dem eine derartige Aussage aufgezeichnet ist, ist dieser Bericht von Johannes: Das Vierte Evangelium bietet hier ein Detail, das die Aussagen der Synoptiker bestätigt.“ Carson, S. 181.

130 „’Das ist nicht bloß die Tat eines jüdischen Reformers; es ist ein Zeichen dafür, dass der Messias gekommen ist’ (Hoskins).“ Morris, S. 196.

131 In unserem Text erweckt Sich unser Herr Selbst von den Toten: „Zerstört diesen Tempel, und in drei Tagen will ich ihn wieder aufrichten“ (Vers 19, siehe auch Johannes 10:18). An anderen Stellen wird die Auferstehung unseres Herrn als das Werk des Vaters (Apostelgeschichte 2:24 u.a.) und des Geistes (Römer 8:11) angesehen. Die Auferstehung ist, wie die Schöpfung, ein Werk der Dreieinigkeit.

132 „Wir sollten hier auf die Verbindung der Worte achten, sie glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesagt hatte; denn der Evangelist meint, dass der Vergleich zwischen der Schrift und dem Wort Christi ihnen half, Fortschritte im Glauben zu machen.“ Johann Calvin, Calvin’s Commentaries [Calvins biblische Kommentare], Band 7: The Gospels [Die Evangelien], (Grand Rapids: Associated Publishers and Authors Inc., n.d.), S. 630.

133 Morris, S. 96.

134 Paulus spricht hier kollektiv von der Kirche als dem Tempel Gottes.

135 Diesen Vers sollte man in Stein gravieren und in Neonlettern schreiben für jede Frau, die auf ihrem Recht zur Abtreibung besteht, weil es ja um „ihren“ Körper geht.

136 Ob bestimmte Dinge überhaupt je von Kirchenmitgliedern oder an Kirchenmitglieder verkauft werden sollten, ist eine andere Frage. In unserem Text geht es Jesus darum, wo die Tiere und Vögel verkauft wurden.

137 Verstehen Sie das bitte nicht als eine pauschale Verurteilung. Ich glaube aber schon, dass Christen viele säkulare Einrichtungen gerne annehmen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob diese wirklich eine biblische Basis haben.

138 Tasker, S. 61.

139 Carson, S. 178.

140 Tasker, S. 61.

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7. ”Glauben zweiter Klasse“ (Johannes 2:23-25)

Einleitung

Eine Zeit lang hatte Johannes der Täufer dem Volk Israel gepredigt und die Menschen zur Buße in Vorbereitung auf das Kommen des Messias aufgerufen. Zu dieser Zeit hatte aber selbst Johannes der Täufer noch nicht mit Sicherheit gewusst, wer der Messias war, und daher sprach er in allgemeinen Begriffen über Ihn.

6 Ein Mann kam, von Gott gesandt, der hieß Johannes. 7 Er kam als ein Zeuge, um Zeugnis abzulegen über das Licht, damit jeder durch ihn zum Glauben käme. 8 Er selbst war nicht das Licht, sondern er kam, um über das Licht Zeugnis abzulegen. 9 Das wahre Licht, das jedem Menschen Licht gibt, kam in die Welt (Johannes 1:6-9).

Johannes legte Zeugnis über ihn ab und rief aus: „Dieser war es, von dem ich sagte: ‚Der nach mir kommt, ist größer als ich es bin, denn er existierte schon vor mir.’“ (Johannes 1:15)

26 Johannes antwortete ihnen: „Ich taufe mit Wasser. Unter euch steht Einer, den ihr nicht erkennt, 27 der nach mir kommt. Ich bin nicht wert, ihm den Riemen seiner Sandale zu lösen!“ (Johannes 1:26-27)

Als Johannes Jesus taufte, enthüllte ihm Gott schließlich die Identität des Messias:

30 „Dieser ist es, von dem ich sagte: ‚Hinter mir her kommt ein Mann, der größer ist als ich es bin, weil er vor mir existierte.’ 31 Ich kannte ihn nicht, sondern damit er Israel offenbart werden könne, kam ich und taufte mit Wasser.“ 32 Dann bezeugte Johannes: „Ich sah den Geist als eine Taube vom Himmel herabkommen, und er blieb auf ihm. 33 Und ich kannte ihn nicht; aber der mich gesandt hat, mit Wasser zu taufen, sprach zu mir: ‚Der, auf den du den Geist herabkommen und auf ihm bleiben siehst, der ist es, der mit dem Heiligen Geist tauft.’ 34 Ich habe es gesehen und ich habe es bezeugt, dass dieser Mann der Auserwählte Gottes ist“ (Johannes 1:30-34).

Johannes wies seine Jünger und andere sofort darauf hin, dass Jesus derjenige war, von dem er zuvor gesprochen hatte. Und so dauerte es nicht lange, bis sich mehrere Jünger Jesus anschlossen und mit Ihm reisten, ja sogar bei Seiner Familie in Kapernaum wohnten (Johannes 1:35ff.) Sie begleiteten unseren Herrn zu der Hochzeitsfeier in Kana in Galiläa (2:1-2). Man konnte meinen, es sei an der Zeit, dass Jesus nun Sein Debüt als der Messias Israels geben sollte. So etwas mag auch Maria im Sinn gehabt haben, als sie Jesus mitteilte, dass der Wein für die Hochzeitsgesellschaft zur Neige ging. Jesus sorgte für Wein; aber Er tat es in einer Weise, die das Geheimnis Seiner Identität – und sogar Seiner Fähigkeiten – wahrte.

Einige Tage später gingen Jesus und Seine Jünger hinauf nach Jerusalem, wo unser Herr Seine Identität dann auf höchst ungewöhnliche Weise öffentlich verkündete. Er reinigte den Tempel, das heißt, Er trieb die Schafe und die Ochsen hinaus und auch die Menschen, die das Haus Seines Vaters zu einem Ort des Kommerzes gemacht hatten. Das bezeichnet Johannes zwar nicht als „ein Zeichen“, dennoch war es doch zumindest eine „Mitteilung“ unseres Herrn, und zwar eine ganz öffentliche Mitteilung. Jesus korrigierte hier nicht einfach irgendeinen Makel, sondern Er tat das als Jemand, der das Recht dazu hat – Israels Messias.

In Jerusalem gewann Jesus eine zunehmende Anhängerschaft. Es sah ganz wie der Anfang von etwas Größerem aus. Und das ist genau das, worauf die Jünger gehofft haben. Es ist das, was die Brüder unseres Herrn fast aufsässig von Ihm fordern (siehe Johannes 7:1-5). Man sollte erwarten, dass unser Herr die „Flamme“ Seiner zunehmenden Popularität vielleicht „anfachen“ und die Reihen Seiner Anhänger noch erweitern würde. Statt dessen lesen wir die folgenden Worte, die in keinem anderen als dem Johannes-Evangelium aufgezeichnet sind: „Aber Jesus vertraute sich ihnen nicht an, weil er alle Menschen kannte. 25 Er hatte es nicht nötig, dass irgendjemand Zeugnis über einen Menschen ablegte, denn er wusste, was im Menschen war” (Johannes 2:24-25).

Was hat Jesus gegen Popularität und viele Menschen? Was soll es bedeuten, wenn Johannes uns sagt, dass Jesus Sich diesen Menschen, die an Ihn glaubten, nicht „anvertrauen“ wollte? Warum wahrt Jesus Abstand gegenüber denen, die Ihm nahe sein wollen? Was sollen wir aus alledem lernen? Es ist der Zweck der vorliegenden Lektion, eine Antwort auf diese Fragen zu finden und dann die Konsequenzen daraus für uns heutige Christen auszuloten. Meine Überzeugung ist, dass die drei Verse, die das zweite Kapitel des Johannes-Evangeliums beschließen, den Weg für die nachfolgenden Kapitel bereiten. Hören wir also genau auf die Worte des Johannes und schauen wir auf den Geist Gottes, wenn wir sie dann interpretieren und auf unser Herz und Leben anwenden.

Die Situation
(2:23)

Und als Jesus während der Feier des Passah in Jerusalem war, glaubten viele Menschen an seinen Namen, weil sie die Wunderzeichen sahen, die er tat.

Einige Tage zuvor hatte unser Herr das zeremonielle Waschwasser in Wein verwandelt. Dann ging Er mit Seinen Jüngern hinauf nach Jerusalem. Nach Seiner Ankunft beim Tempel vertrieb Jesus die Menschen, die „Seines Vaters Haus“ zu einem Ort des Handels gemacht hatten. Man könnte meinen, dass diese Tempelreinigung – was die Popularität unseres Herrn betrifft – eher kontraproduktiv gewesen wäre. Aber abgesehen davon, dass sie Jesus bei der religiösen Elite unpopulär machte, scheint das überhaupt nicht der Fall gewesen zu sein. Wenn man die Evangelien liest, gewinnt man nicht unbedingt den Eindruck, dass die jüdischen Religionsführer ausgesprochen populär waren. Sie waren, scheint es, arrogante Snobs, die sich weniger um das gemeine Volk kümmerten als um ihre eigene Position und Macht. Hören Sie sich die Antwort dieser Führer an, als die Beamten, die ausgesandt worden waren, um Jesus zu verhaften, mit leeren Händen zurückkamen:

45 Danach kehrten die Beamten zu den Oberpriestern und Pharisäern zurück, und diese sagten zu ihnen: „Warum habt ihr ihn nicht mitgebracht?“ 46 Die Beamten erwiderten: „Niemand hat je so gesprochen, wie dieser Mann es tat!“ 47 Da antworteten die Pharisäer: „Seid ihr etwa auch irregeführt worden? 48 Glaubt denn irgendeiner der Obersten oder Pharisäer an ihn? 49 Aber dieser Pöbel, der das Gesetz nicht kennt, ist verflucht!“ (Johannes 7:45-49; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh)

Man hat nicht den Eindruck, als teilte die religiöse Elite die Einstellung des einfachen Volkes gegenüber dem römischen Gesetz. Das einfache Volk scheint ganz versessen gewesen zu sein, „die Halunken rauszuwerfen“, und sie erwarteten wohl vom Messias, dass Er dies tun werde. Aber hören Sie sich andererseits an, was die Oberpriester und Pharisäer sagen, als ihnen klar wird, wie populär Jesus geworden ist – zum Teil deswegen, weil Er kurz zuvor den Lazarus auferweckt hat:

47 Da riefen die Oberpriester und die Pharisäer den Rat zusammen und sagten: „Was sollen wir tun? Denn dieser Mann vollbringt viele Wunderzeichen. 48 Wenn wir ihn weiter gewähren lassen, wird jeder an ihn glauben, und dann werden die Römer kommen und unser Heiligtum und unsere Nation wegnehmen“ (Johannes 11:47-48).

Als Jesus es mit den religiösen Führern aufnahm und ihre Ignoranz, Arroganz und Heuchelei entlarvte, scheint das Volk dies richtig genossen zu haben:

35 Während seiner Lehren im Tempelhof sagte Jesus: „Wie kommt es, dass die Schriftgelehrten sagen, der Christus sei Davids Sohn? 36 David selbst sagte durch den Heiligen Geist: ‚Der Herr sprach zu meinem Herrn: „Setze dich zu meiner Rechten, bis dass ich deine Feinde unter deine Füße lege.“’
37 David selbst nennt ihn ‚Herr’. Wie kann er also sein Sohn sein?“ Und die große Menschenmenge hörte ihm mit Freude zu (Markus 12:35-37; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

In diesem ganz frühen Stadium des Dienstes unseres Herrn gefiel, so könnte ich mir denken, selbst den Pharisäern, was Jesus bei Seiner Tempelreinigung tat. Anscheinend waren an dem Tempelmarkt, den Jesus bei Seinem Debüt im Tempel „schloss“, die Hohepriester und die Sadduzäer am stärksten beteiligt. Die Hohepriester waren wohl Sadduzäer (siehe Apostelgeschichte 5:17) und die Pharisäer waren, im Gegensatz zu den Priestern und religiösen Würdenträgern, offenbar Laien. Zwischen den Pharisäern und Sadduzäern141 gab es einige sehr unterschiedliche Auffassungen (siehe Apostelgeschichte 23:6-8). Zusammenfassend könnte man diese Unterschiede so beschreiben, dass die Sadduzäer Liberale und die Pharisäer – theologisch gesehen – sehr konservativ waren.

Als Jesus den Tempel reinigte, stellte das eine Konfrontation und Herausforderung für die Sadduzäer dar. Die Pharisäer, als Rivalen der Sadduzäer, genossen es wahrscheinlich zu sehen, wie ein „Mann“ (von scheinbar einfacher Herkunft) das religiöse Establishment alt aussehen ließ. Dieser „Jesus“ kam den Pharisäern vielleicht sogar ganz gelegen – zumindest dachten sie das wohl. Solche Gedanken vergingen ihnen sicher schnell wieder; doch während der ersten Zeit des Dienstes unseres Herrn, während Er noch in Jerusalem war, mag es sie wohl gegeben haben.

Und noch etwas trug zur Popularität unseres Herrn bei. Während Jesus in Jerusalem war, tat Er eine Reihe von Zeichen:

Und als Jesus während der Feier des Passah in Jerusalem war, glaubten viele Menschen an seinen Namen, weil sie die Wunderzeichen sahen, die er tat (Johannes 2:23; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Er kam bei Nacht zu Jesus und sprach zu ihm: „Rabbi, wir wissen, dass du alsLehrer von Gott gekommen bist. Denn niemand könnte die Wunderzeichen tun, die du tust, es sei denn, Gott ist mit ihm“ (Johannes 3:2; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Als er nun nach Galiläa kam, nahmen ihn die Galiläer auf, weil sie alles gesehen hatten, was er in Jerusalem auf dem Fest getan hatte (denn sie waren auch zum Fest gekommen) (Johannes 4:45; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Johannes ist sehr wählerisch in Bezug darauf, welche Wunderzeichen er in sein Evangelium einarbeitet. Das erste öffentliche Zeichen unseres Herrn war wohl die Verwandlung von Wasser in Wein. Und nun sagt uns Johannes, dass Jesus eine ganze Reihe von weiteren Zeichen tat, während Er in Jerusalem war. Diese Zeichen machten großen Eindruck auf viele, die sie sahen. Viele, die davon Zeuge wurden, „glaubten an Seinen Namen“ (Vers 23).

Werden diese „Gläubigen“ wirklich gerettet?

Wenn Sich Jesus diesen Leuten nicht anvertrauen wollte, müssen wir uns fragen, ob diese „Gläubigen“ wirklich wahre Gläubige waren. Manche Menschen sehen es so, dass diese „Gläubigen“ gar nicht unbedingt gerettet wurden. Es stimmt schon, dass es an anderen Stellen in der Bibel „Gläubige“ gibt, die offenbar nicht „gerettet“ werden. Jakobus spricht von den Dämonen, die „glauben ... und zittern!“ (Jakobus 2:19). Diese Dämonen sind natürlich keine wahren Gläubigen! In Apostelgeschichte 8 lesen wir über einen „Simon“, der gemeinsam mit zahlreichen Samaritern „gläubig wurde“ (8:13). Die Worte des Petrus an diesen Mann, der die Macht zur Verleihung des Heiligen Geistes zu kaufen versuchte, lassen uns aber fragen, ob „Simon“ wirklich ein Gläubiger war:

20 Aber Petrus sagte zu ihm: „Möge dein Silbergeld mit dir zugrunde gehen, weil du denkst, du könntest Gottes Gabe mit Geld erwerben! 21 Du hast weder Anteil noch Anrecht daran, denn dein Herz ist nicht rechtens vor Gott. 22 Bereue daher diese deine Bosheit und bete zum Herrn, dass er dir womöglich das Trachten deines Herzens vergeben möge. 23 Denn ich sehe, dass du voll bitteren Neides und in Sünde verstrickt bist“ (Apostelgeschichte 8:20-23).

Abgesehen von diesen Stellen komme ich aber aus dem Johannes-Evangelium zwangsläufig zu dem Schluss, dass diejenigen, von denen im Text gesagt wird, dass sie „glaubten“, wahre Gläubige wurden. Dafür gibt es mehrere Gründe:

Erstens: Johannes sagt uns, dass diese Menschen „an Seinen Namen glaubten“. Derselbe Ausdruck findet sich in Kapitel 1 des Johannes-Evangeliums: „Allen aber, die ihn aufnahmen – die an seinen Namen glaubten – gab er das Recht, Gottes Kinder zu werden“ (Johannes 1:12; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh). Johannes sagt uns, dass die, die „an Seinen Namen glauben“, „Ihn aufgenommen haben“ und also Kinder Gottes geworden sind. Wenn in Kapitel 1 gesagt wird, dass alle, die „an Seinen Namen glauben“, gerettet werden – wie können wir dann sagen, dass solche Leute nicht gerettet werden, wenn sie mit denselben Worten in Kapitel 2 beschrieben werden?

Zweitens: Johannes verfolgt mit seinem Evangelium die Absicht, Menschen zum rettenden Glauben zu bringen. Um seine Leser dazu zu bringen, „an Seinen Namen zu glauben“, setzt Er das Mittel der Wunderzeichen ein: „Und Jesus tat vor seinen Jüngern noch viele andere Wunderzeichen, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind. 31 Diese aber sind aufgeschrieben worden, auf dass ihr glaubet, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und dass ihr durch den Glauben in seinem Namen Leben haben möget“ (Johannes 20:30-31; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Wenn Johannes solche ausgewählten „Zeichen“ aufschreibt und sie benutzt, um die Menschen zum Glauben zu bringen, sollte man doch kaum annehmen, dass er den Glauben derer in Frage stellt, die aufgrund dieser Zeichen „an Seinen Namen glauben“.

Drittens: Die beiden Beispiele, die sich anschließen (Nikodemus in Kapitel 3 und die Frau am Brunnen in Kapitel 4) geben Gespräche wieder, die unser Herr mit Personen führte, die zum Glauben kamen. Nikodemus versteht das Evangelium nicht unmittelbar und kommt auch nicht sofort zum Glauben, aber am Ende tut er es offenbar doch. In Kapitel 3 erzählt uns Johannes nicht, wann Nikodemus Jesus verlässt; er ist einfach weg. Nikodemus spricht mit unserem Herrn, und irgendwann nach Vers 9 wird uns bewusst, dass er inzwischen fort ist. Wann er aber gegangen ist, wissen wir nicht genau. Ich glaube, als er geht, , kratzt er sich den Kopf und fragt sich, was Jesus ihm eigentlich hat sagen wollen. Er ist verwirrt über das, was Jesus gerade gesagt hat, und vielleicht demütig geworden ob seiner eigenen Unwissenheit in diesen Dingen. Wenn Johannes in Kapitel 3 fortfährt, ist man nicht sicher, ob es sich dabei um die Worte unseres Herrn oder die des Apostels Johannes handelt142. In Kapitel 7 wird Nikodemus dann von seinen Kollegen bestraft, weil er Jesus verteidigt. Sie fragen ihn, ob er auch ein Galiläer sei (7:50-52). Nikodemus scheint daraufhin den Mund einfach nicht aufzumachen. Und wenn wir Nikodemus zum letzten Mal begegnen, bemächtigt er sich gemeinsam mit Joseph von Arimathia (noch so einem heimlichen Gläubigen) in aller Stille des Leichnams Jesu, um ihn für das Begräbnis herzurichten (Johannes 19:38-39). Wenn wir Nikodemus zum letzten Mal begegnen, ist er ein „Undercover“-Christ, aber ungeachtet dessen doch ein Gläubiger.

Nikodemus ist bei Johannes das erste Beispiel für einen Menschen, der aufgrund der Wunderzeichen unseres Herrn „glaubt“; aber er gehört auch zu denen, denen Sich unser Herr nicht „anvertraut“. Hier haben wir einen Mann, der sicher enorme Möglichkeiten hat, dem Dienst unseres Herrn förderlich zu sein. Nikodemus ist ein Jude, ein Pharisäer, ein Mitglied des Sanhedrin und einer der berühmtesten Lehrer seiner Zeit. Wow! Ganz schön beeindruckend! Es sieht ganz danach aus, als könnte er eigentlich viel dazu beitragen, dass der Dienst unseres Herrn vorankommt. Aber Jesus „vertraut“ Sich Nikodemus nicht an. Er „vertraut“ Sich allerdings der samaritischen Frau am Brunnen und den Einwohnern von Sychar an. Infolge des Dienstes unseres Herrn an der Frau am Brunnen kommt die gesamte Stadt heraus, um Ihn zu hören. Jesus verbringt dann zwei Tage bei diesen Samaritern143. Ich glaube, ihnen „vertraute“ Sich Jesus – mit Johannes’ Worten gesagt – an.

Aus allen diesen Gründen gelange ich also zu dem Schluss, dass Johannes uns zu verstehen geben will, dass diese Menschen, die „an Jesu Namen glaubten“, tatsächlich wahre Gläubige wurden. Es ergibt sich dann aber die Frage: „Warum vertraut Sich unser Herr ihnen nicht an?“ Lassen Sie uns versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu finden.

Warum vertraut Sich unser Herr
manchen Heiligen nicht an?
(2:24-25)

24 Aber Jesus vertraute sich ihnen nicht an, weil er alle Menschen kannte. 25 Er hatte es nicht nötig, dass irgendjemand Zeugnis über einen Menschen ablegte, denn er wusste, was im Menschen war.

Zunächst einmal muss ich Sie auf etwas hinweisen, das in der Übersetzung dieses Textabschnitts nicht ausreichend klar wird: Johannes benutzt den gleichen griechischen Ausdruck144 für den Glauben derer, die an Seinen Namen glaubten (um dieses Wort geht es), und das Sich-nicht-Anvertrauen (hier ist es wieder) unseres Herrn. Am nächsten käme man dem griechischen Text wohl mit einer Übersetzung wie: „Und als Jesus während der Feier des Passah in Jerusalem war, vertrauten viele Menschen auf Seinen Namen, weil sie die Wunderzeichen sahen, die Er tat. Aber Jesus vertraute Sich ihnen nicht an, ...“.

Wir wollen versuchen zu verstehen, was Johannes meint, wenn er sagt, dass Jesus Sich einigen Gläubigen nicht anvertraute. Ich glaube, das können wir am besten erreichen, indem wir die folgenden zwei Fragen beantworten: (1) Warum vertraute Sich Jesus diesen Gläubigen nicht an? und (2) Wem, wenn überhaupt, vertraute Sich Jesus denn an? Lassen Sie uns diese beiden Fragen bearbeiten, wobei wir von der zweiten ausgehen wollen.

Johannes sagt in 2:23-25 nur, dass Sich Jesus bestimmten Menschen nicht anvertraute. Das lässt aber doch den Umkehrschluss zu, dass es Menschen gab, denen Er Sich anvertraute. Meinen Sie nicht, dass – wenn Sich unser Herr überhaupt irgendwelchen Menschen anvertraute – das Seine Jünger gewesen wären? Wir können uns also nun der ersten Frage, in leicht abgeänderter Form, zuwenden: „Warum vertraute Sich Jesus Seinen Jüngern, nicht aber diesen Jerusalemer Gläubigen an?“

Johannes sagt uns, warum. Jesus ist Gott. Als Gott weiß Er alles. Unter anderem weiß Er, was in den Herzen der Menschen ist. Aus den Evangelien erfahren wir, dass unser Herr die Gedanken der Menschen kannte:

3 Einige Menschen kamen und brachten einen Gelähmten zu ihm, der von Vieren getragen wurde. 4 Weil sie wegen der vielen Menschen nicht in der Lage waren, ihn hineinzutragen, deckten sie das Dach auf über Jesus; und nachdem sie es aufgerissen hatten, ließen sie die Trage hinab, auf der der Gelähmte lag. 5 Da Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ 6 Nun saßen dort einige der Schriftgelehrten, die erwogen dies in ihrem Sinn: „Warum redet er so? Er lästert Gott. Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?“ 8 Aber Jesus erkannte sofort in seinem Geiste, dass sie solche Gedanken hegten, und so sagte er zu ihnen: „Warum denkt ihr so? 9 Was ist leichter: zu dem Gelähmten zu sagen ‚Deine Sünden sind vergeben’ oder zu sagen ‚Stehe auf, nimm deine Trage und gehe’? 10 Damit ihr aber erkennt, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf der Erde Sünden zu vergeben –“ und er sprach zu dem Gelähmten: – 11 „Ich sage dir, stehe auf, nimm deine Trage und gehe heim“ (Markus 2:3-11; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Ein eindrucksvolles Beispiel für die Omniszienz145 unseres Herrn hat Johannes schon in Kapitel 1 beschrieben. Jesus nahm die zwei Jünger Johannes’ des Täufers auf, von denen einer Andreas war (1:35-40). Er wusste, was in den Herzen der Menschen war, die Er zu Seinen Jüngern erwählte. Er änderte Simons Namen in „Petrus“ (der Fels). Er wusste, was Petrus für einen Charakter haben würde. Das eindrucksvollste Beispiel der Omniszienz unseres Herrn aber war, dass Er Nathanael als einen Mann erkannte, in dem kein Falsch war, dass Jesus diesen Mann „sah“, als niemand ihn sah, unter dem Feigenbaum (1:45-51). Die Herzen der Jünger waren unserem allwissenden Herrn „ein offenes Buch“. Ebenso wusste er, was im Herzen von Judas war, der Ihn verraten würde (siehe Matthäus 9:3-5; Johannes 6:70-71, 13:26).

Ich entnehme dem, dass Jesus – da Er die Herzen aller Menschen ganz und gar kennt – Sich denen nicht anvertraut, die einen zweitklassigen Glauben haben. Darin liegt ein Widerspruch, den ich nicht übersehen oder abstreiten kann. Auf der einen Seite haben wir nichts, womit wir uns Gott empfehlen könnten. Er errettet uns nicht um dessentwillen, was wir sind, was wir getan haben (siehe Titus 3:4-5) oder was wir für Sein Reich tun könnten (entgegen manchen landläufigen aber falschen Vorstellungen). Er erwählt das Schwache und das Törichte, um die Weisen ins Unrecht zu setzen (1. Korinther 1:26-31). Wir haben nichts als das, was wir von Ihm Selbst empfangen haben (1. Korinther 4:7). Auf der anderen Seite sieht Gott auf das Herz. Er verwirft Saul und Er erwählt David, nicht aufgrund von dessen Statur oder gutem Aussehen, sondern wegen seines Herzens (1. Samuel 16:7). Es geht hier nicht um die Menschen, die Gott zur Erlösung erwählt, sondern um die, die Er in Dienstämter und zur vertrauten Gemeinschaft und zum Dienst mit Ihm erwählt.

Nachdem Johannes-Markus Paulus hatte sitzen lassen, weigerte sich der Apostel, den jungen Mann mit auf seine folgende Missionsreise zu nehmen. Paulus wollte sich und seine Mission nicht einem Menschen anvertrauen, der ihn im Stich gelassen hatte, als es darauf ankam (siehe Apostelgeschichte 15:36-41). Paulus wies Timotheus an: „Und was du unter vielen Zeugen von mir gehört hast, das vertraue getreuen Menschen an, die in der Lage sind, auch andere zu lehren“ (2. Timotheus 2:2; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh). Die Führung der lokalen Gemeinden ist denjenigen vorbehalten, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen, wovon viele den Charakter betreffen (siehe 1. Timotheus 3:1-13; Titus 1:5-9). Die Jünger, denen Sich unser Herr anvertraut, sind es, denen Er dann auch den Großen Auftrag geben und die Er zum Fundament Seiner Kirche machen wird (Matthäus 28:18-20; Epheser 2:17-22).

Was an diesen Jerusalemer „Gläubigen“ bringt unseren Herrn dazu, Sich von ihnen zu distanzieren, während Er Sich andererseits Seinen Jüngern anvertraut und viel Zeit mit ihnen zusammen verbringt? Ich glaube, unser Text sagt uns den Grund: Ihr Glaube war „Zeichen-Gläubigkeit“. Johannes sagt: „Und als Jesus während der Feier des Passah in Jerusalem war, glaubten viele Menschen an seinen Namen, weil sie die Wunderzeichen sahen, die er tat (Johannes 2:23).

Der Glaube dieser Heiligen beruht auf den Zeichen, die unser Herr vollbringt. Und wenn ihr Glaube nicht über diese Zeichen-Abhängigkeit hinauswächst, dann werden sie, so vermute ich, auf ein neues Zeichen warten, sobald irgendwelche Schwierigkeiten auftauchen. Natürlich gab es, wie wir wissen, viele Menschen, die ein Zeichen forderten, um zu glauben. Diese Leute aber konnten wohl nie genug Zeichen-Beweise bekommen, um zu glauben. Allerdings gibt es dann da auch noch Menschen wie Nikodemus, die „heimliche Gläubige“ bleiben und aus Furcht vor den Juden über ihren Glauben an Jesus Stillschweigen bewahren:

Niemand aber redete offen über ihn aus Furcht vor den jüdischen Machthabern (Johannes 7:13).

Danach bat Joseph von Arimathia, der ein Jünger Jesu war (aber nur im Geheimen, da er die jüdischen Machthaber fürchtete), den Pilatus, dass er den Leichnam Jesu abnehmen dürfte. Pilatus gab ihm die Erlaubnis, und so ging er hin und nahm den Leichnam herab (Johannes 19:38).

Wenig später würde Jesus Seine Jünger in Zweiergruppen zur Verkündigung des Evangeliums aussenden. Dabei würden sie mit Widerstand, Ablehnung und Verfolgung konfrontiert werden. Jesus wollte Sich niemandem anvertrauen, der unter solchen Widrigkeiten welken und weichen würde. Jesus kannte die Herzen der Menschen, und deshalb vertraute Er Sich Seinen Jüngern an und hielt Abstand von anderen Menschen, deren Glaube von Zeichen abhängig war.

Schlussfolgerung

Die drei Verse, die das zweite Kapitel des Johannes-Evangeliums beschließen, können uns einige wichtige Dinge lehren. Die erste Lektion betrifft ein „heißes“ Thema unter Christen: die „Zeichen und Wunder“. Es wird sehr viel über die Rolle debattiert, die „Zeichen und Wunder“ im Leben eines Christen spielen sollten. Und es wird viel darüber debattiert, ob „Zeichen und Wunder“ auch heute noch vorkommen.

Lassen Sie mich zuerst einmal festhalten, dass Gott souverän ist. Er braucht nicht unsere Erlaubnis, um jederzeit „Zeichen und Wunder“ hervorzubringen, wenn Er es denn will. Ebenso wenig braucht Er unsere Aufforderung dazu. Wer selbst die Möglichkeit abstreitet, dass eine wunderbare Intervention auch in unserer Zeit noch geschehen kann, geht offensichtlich über die Schriften hinaus. Wer darauf beharrt, dass es heutzutage derartige Phänomene geben muss, geht ebenfalls über die Schriften hinaus. Damit will ich sagen: Ich würde schon die Möglichkeit einräumen, dass heutzutage „Zeichen“ geschehen können – unabhängig davon, ob sie das wirklich tun. Unser Text sagt ein paar Dinge über „Zeichen“, die für uns Heutige wichtig sind zu hören. Erstens: Jesus war nicht darauf aus, „Zeichen“ zu vollbringen – schon gar nicht auf Aufforderung. Die Menschen wollten gerne, dass Jesus „Zeichen“ vollbrächte; und fast immer hatten diejenigen, die solche Zeichen forderten, einen schwachen oder gar keinen Glauben. Das „Zeichen“-Wirken unseres Herrn brachte keinen weit verbreiteten Glauben hervor und verstärkte auch nicht unbedingt den Glauben derer, die glaubten.

Auch heute gibt es Menschen, die uns glauben machen wollen, dass „Zeichen und Wunder“ eine Notwendigkeit seien. Diese Menschen scheinen nicht gewillt zu sein, ihr christliches Leben ohne solche „Zeichen und Wunder“ zu leben. Schlimmer noch, sie erheben ihre spirituelle Nase hoch über diejenigen, die keine erleben. Kurz, wer „Zeichen und Wunder“ erlebt, fühlt sich denen geistlich überlegen, die das nicht tun. Das klingt doch sehr nach den Verhältnissen bei den Christen in Korinth, die ihre spirituellen Gaben missbrauchten und stolz waren auf Dinge, die sie eigentlich hätten demütig machen sollen.

Man kann Johannes’ Worte in Johannes 2:23-25 schwerlich lesen, ohne zu dem Schluss zu gelangen, dass „Zeichen-Glaube“ ein zweitklassiger Glaube ist. Jesus wollte Sich denen nicht „anvertrauen“, deren Glaube bloßer „Zeichen-Glaube“ war. Warum halten dann die, die behaupten, auch heute noch „Zeichen und Wunder“ zu erleben, sich und ihren Glauben für etwas Besseres? „Zeichen-Glaube“ ist ein ganz guter Anfang – aber ein ziemlich armseliges Ende.

Bei der Betrachtung der ersten Kapitel des Johannes-Evangelium erkenne ich, dass dort der “Zeichen-Glaube” dem gegenübergestellt wird, was man als „Wort-Glauben“ bezeichnen könnte. Nikodemus (ein Zeichen-Gläubiger) ist spirituell kein Riese. Er bringt niemanden zu Christus. Auch er selbst kommt nur heimlich zu unserem Herrn. Die Verwandlung von Wasser in Wein geschah durch den Gehorsam der Diener gegenüber dem gesprochenen Wort Jesu. Er sprach, sie gehorchten, und das Wasser wurde zu Wein. Die Frau am Brunnen und die Menschen von Sychar glaubten aufgrund der Worte unseres Herrn:

39 Und viele der Samariter aus dieser Stadt glaubten an ihn um der Rede der Frau willen, die bezeugte: „Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe.“ 40 Als daher die Samariter zu ihm kamen, baten sie ihn, dass er bei ihnen bleibe. Er blieb dort zwei Tage lang, 41 und viele weitere glaubten um seines Wortes willen. 42 Sie sagten zu der Frau: „Wir glauben nun nicht mehr um deiner Worte willen, denn wir haben selbst gehört und wir erkennen, dass dieser wirklich der Erlöser der Welt ist“ (Johannes 4:39-42).

Soweit wir wissen, tat Jesus in Sychar keine Zeichen. Das war nicht nötig. Es war das gesprochene Wort, das die Schöpfung ins Dasein brachte (Genesis 1; Johannes 1; Hebräer 11:3). Es ist das Wort Gottes, das, durch den Heiligen Geist, neues geistliches Leben ins Dasein bringt:

63 „Der Geist ist es, der Leben gibt; die menschliche Natur ist gar nicht von Nutzen! Die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und sind Leben. 64 Aber es sind einige unter euch, die nicht glauben.“ (Denn Jesus wusste schon von Anfang an, wer nicht glaubte und wer ihn verraten würde.) (Johannes 6:63-64; siehe auch 3:5-8)

17 Alle reichliche Gabe und jede vollkommene Gabe ist von oben und kommt herab vom Vater der Lichter, bei dem es kein Schwanken noch den geringsten Hinweis auf einen Wandel gibt. 18 Nach seinem souveränen Plan hat er uns hervorgebracht durch das Wort der Wahrheit, dass wir wie die Erstlingsfrucht alldessen seien, was er geschaffen hat (Jakobus 1:17-18).

Ihr seid wiedergeboren worden, nicht von vergänglichem sondern von unvergänglichem Samen, durch das lebendige und bleibende Wort Gottes (1. Petrus 1:23).

Thomas musste „sehen“, um zu glauben. Das war eine Art von „Zeichen-Glaube“. Jesus und die Schreiber des Neuen Testaments loben dagegen einen Glauben, der nicht auf dem basiert, was man sieht, sondern auf etwas Unsichtbarem – dem Wort Gottes:

26 Acht Tage später waren die Jünger wiederum zusammen im Haus, und Thomas war bei ihnen. Obwohl die Türen verschlossen waren, kam Jesus und trat unter sie und sprach: „Friede sei mit euch!“ 27 Dann sagte er zu Thomas: „Lege deinen Finger hierher und untersuche meine Hände. Strecke die Hand aus und lege sie in meine Seite. Verharre nicht in deinem Unglauben, sondern glaube.“ 28 Thomas erwiderte: „Mein Herr und mein Gott!“ 29 Jesus sprach zu ihm: „Bist du zum Glauben gekommen, weil du mich gesehen hast? Selig sind die Menschen, die nicht gesehen und doch geglaubt haben“ (Johannes 20:26-29).

Das elfte Kapitel des Hebräer-Briefes ist eine “Ruhmeshalle” für die alttestamentarischen Heiligen. Diese Heiligen glaubten an Gottes Wort und handelten entsprechend. Sie glaubten nicht dem, was sie sahen, sondern sie glaubten dem, was Gott sagte. Diese Art von Glauben ist es, die Jesus lobt. Solchen Heiligen, deren Glaube auf Seinem Wort beruht, vertraut Sich unser Herr an, in vertrauter Gemeinschaft und zum Dienst. Lassen Sie uns danach streben, über den Glauben an das Sichtbare hinaus zu einem Glauben an das zu gelangen, was Gott sagt.

Ich sollte Ihre Aufmerksamkeit auch auf das lenken, was unser Text nicht sagt. Allzu oft gehen Menschen eilends weiter zu Johannes 3 und 4, zu den Gesprächen unseres Herrn mit Nikodemus und mit der Frau am Brunnen, und sehen diese als Muster dafür, wie man evangelisieren sollte. Darüber gibt es schon etwas zu lernen – aber ich möchte Sie daran erinnern, dass Johannes diese Gespräche nicht als Muster für eine Evangelisation, sondern als Beweis für die Einmaligkeit Jesu wiedergibt, und eine Seiner einmaligen Eigenschaften wird in Johannes 2:24-25 aufgeführt: Jesus weiß, was in den Herzen der Menschen ist. Wir können unseren Herrn darin nicht nachahmen und versuchen, ebenfalls allwissend zu sein. Unser Herr kannte die Herzen der Menschen; wir nicht. Eben deshalb warnt Paulus Christen davor, über die Motive anderer zu richten:

1 So sollten uns die Menschen sehen: als Diener Christi und Verwalter der Geheimnisse Gottes. 2 Und was man an einem Verwalter sucht, ist, dass er sich als treu erweise. 3 Für mich ist es also ein Geringes, wenn ihr oder irgendein menschliches Gericht über mich ein Urteil fällt. Ja, noch nicht einmal ich selbst fälle ein Urteil über mich. 4 Denn mir ist nichts bewusst, was gegen mich vorläge, doch dadurch werde ich nicht freigesprochen. Der Herr ist es, der über mich richtet. 5 Urteilt also über nichts vor der Zeit. Wartet, bis der Herr kommt. Er wird ans Licht bringen, was im Finsteren verborgen liegt, und die Beweggründe der Herzen offenbar machen. Dann wird ein jeder seine Anerkennung von Gott erhalten (1. Korinther 4:1-5; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Unser Herr wusste alles über das Herz des Menschen. Er konnte Sich manchen Menschen anvertrauen und anderen eben nicht. Wir sollen „uns getreuen Menschen anvertrauen“, aber wir müssen erkennen, dass unser Urteil in dieser Hinsicht fehlbar ist. Viele Jahre des Dienstes haben mir dies immer wieder bewiesen. Manche, von denen ich fürchtete, dass sie scheitern würden, haben ausgeharrt und sogar Fortschritte gemacht. Manche, von denen ich sicher war, dass sie im christlichen Leben und Dienst erfolgreich sein würden, sind erbärmlich gescheitert. Wir müssen anerkennen, dass nur Gott die Herzen der Menschen kennt, und deshalb sollten wir mit unserem Urteil vorsichtig sein, insbesondere wenn es um die Beweggründe von Menschen geht. Ungeachtet dessen gilt: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ (Matthäus 7:20).

Ich will damit sagen, dass wir niemals wie Jesus evangelisieren oder führen können, weil wir eben nicht wie Jesus sind. Wir sind nicht allwissend und allmächtig. Er ist es. Ungeachtet dessen hat Jesus Seinen Geist gesandt, um uns zum Dienst zu befähigen und zu stärken. Wir müssen uns auf Sein Wort und Seinen Geist verlassen, um Seine Absichten zu erfüllen. Deshalb ist „der Dienst des Wortes und Gebetes“ so lebenswichtig für den christlichen Dienst.

Gott erwählt uns souverän zur Erlösung und zum Dienst, und Er kennt im Voraus die Frucht, die wir durch Seine Gnade bringen werden (siehe Johannes 15:16). Andererseits ist es auch so, dass Gott sich diejenigen zum Dienst und zur vertrauten Gemeinschaft aussucht, die ein Herz für Ihn haben, die einen fest verwurzelten Glauben haben, die den Widrigkeiten des Lebens standhalten können. David war so ein Mensch; Saul war es nicht. Paulus lehrte Timotheus, dass der Gebrauch, den Gott von einem Menschen macht, in gewisser Weise damit zusammenhängt, ob dieser Menschen ein reines und heiliges Instrument in Seiner Hand sein will:

20 In einem großen Haus aber gibt es nicht nur Gefäße aus Gold und Silber, sondern auch solche aus Holz und Ton; einige für Ehrenhaftes, andere für Unehrenhaftes. 21 Wenn sich daher jemand von Letzterem rein erhält, wird er ein Gefäß für Ehrenhaftes werden, geheiligt und dem Hausherrn nützlich, bereit für jedes gute Werk (2. Timotheus 2:20-21).

Wollen wir also, durch Seine Gnade, versuchen, ein Gefäß von der Art zu werden, wie sie Gott für ehrenhafte Zwecke benutzt! Und wenn Er uns dann für solche Zwecke benutzt, so wollen wir daran denken, dass das alles von Ihm kommt (Römer 11:36).

Schließlich möchte ich Sie noch einmal daran erinnern, dass unser Herr die Herzen der Menschen kennt. Er weiß, was in Deinem und was in meinem Herzen ist. Ein beängstigender Gedanke, nicht wahr? Andere können wir vielleicht an der Nase herumführen, nicht aber Gott. Unser Herz ist elend und unrein. Unser Herz ist falsch und böse. Wenn Gott uns errettet, gibt Er uns ein neues Herz. Möge Er feststellen, dass wir treu sind, so dass wir dann feststellen können, dass Er Sich uns anvertraut, mit uns vertraute Gemeinschaft pflegt, uns lehrt und leitet, damit wir Seine Barmherzigkeit und Gnade einer verlorenen und sterbenden Welt verkünden mögen.


141 Ich sollte allerdings darauf hinweisen, dass der Ausdruck „Sadduzäer“ im Johannes-Evangelium nirgendwo vorkommt.

142 Ich tendiere dazu, den Umbruch am Ende von Vers 15 zu machen, aber darüber kann man gewiss geteilter Meinung sein.

143 Manche meinen, dass der Dienst unseres Herrn hier bei den Samaritern den Weg geebnet hat für die spätere Wiederbelebung des Glaubens in Samaria, die in Apostelgeschichte 8:1-25 beschrieben wird.

144 Ich muss das klarstellen: Es handelt sich in beiden Versen um das gleiche griechische Verb. Wenn Johannes den Glauben derer bezeichnet, die an Jesus glaubten, benutzt er die Zeitform des Aorist und fokussiert damit auf das momentane Glauben. Wenn er die Weigerung unseres Herrn beschreibt, Sich diesen „Gläubigen“ „anzuvertrauen“, gebraucht Johannes das Imperfekt und sagt uns damit, dass dies Jesu Art zu handeln war, etwas, das Er beständig tat, in jedem Fall wieder, in jeder Situation wieder.

145 Omniszienz bedeutet Allwissenheit. Sie ist ein Attribut von Gott allein. Jesus besitzt, als Gott, diese Eigenschaft.

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8. Jesus und Nikodemus (Johannes 3:1-21)

1 Und es kam ein Mann, ein Pharisäer mit Namen Nikodemus, ein Mitglied des Rates. 2 Er kam bei Nacht zu Jesus und sprach zu ihm: „Rabbi, wir wissen, dass du als Lehrer von Gott gekommen bist. Denn niemand könnte die Wunderzeichen tun, die du tust, es sei denn, Gott ist mit ihm.“

3 Jesus erwiderte: „Ich sage dir die tiefe Wahrheit: Wenn ein Mensch nicht von oben geboren wird, kann er das Königreich Gottes nicht sehen.“

4 Nikodemus sagte zu ihm: „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Er kann doch nicht in den Schoß seiner Mutter hineingehen und ein zweites Mal geboren werden?“

5 Jesus antwortete: „Ich sage dir die tiefe Wahrheit: Wenn ein Mensch nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er in das Königreich Gottes nicht hineinkommen. 6 Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was vom Geist geboren wird, ist Geist. 7 Wundere dich nicht, dass ich dir sagte ‚Ihr müsst von oben geboren werden’. 8 Der Wind bläst, wo immer er will, und du hörst sein Wehen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der vom Geist geboren ist.“

9 Nikodemus erwiderte: „Wie kann das sein?“

10 Jesus antwortete: „Bist du der Lehrer Israels und weißt doch diese Dinge nicht? 11 Ich sage dir die tiefe Wahrheit: Wir reden über das, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben; ihr aber nehmt unser Zeugnis nicht an. 12 Ihr glaubt nicht, was ich zu euch von irdischen Dingen geredet habe – wie wollt ihr dann glauben, wenn ich zu euch von himmlischen Dingen rede? 13 Niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen außer dem, der aus dem Himmel herabkam – der Menschensohn. 14 Gerade so, wie Moses die Schlange in der Wüste erhob, muss der Menschensohn erhoben werden, 15 damit jeder, der an ihn glaubt, ewiges Leben habe.“

16 Denn so liebte Gott die Welt: Er gab seinen einzigen Sohn, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde gehe, sondern ewiges Leben habe. 17 Denn Gott sandte seinen Sohn nicht in die Welt, um die Welt zu verurteilen, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde. 18 Wer an ihn glaubt, wird nicht verurteilt. Wer aber nicht glaubt, der ist schon verurteilt, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes geglaubt hat. 19 Dies nun ist die Grundlage für das Gericht: dass das Licht in die Welt kam und die Menschen die Dunkelheit mehr liebten als das Licht, weil ihre Werke böse waren. 20 Denn jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht ans Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt würden. 21 Wer aber die Wahrheit tut, der kommt ans Licht, damit es ganz offensichtlich werde, dass seine Werke in Gott getan sind.146

Einleitung

Vor einigen Jahren stand in der Zeitung ein Bericht über eine Rede, die der Präsident einer bekannten Universität vor einer Gruppe von einflussreichen Geschäftsleuten und politischen Führungspersonen gehalten hatte. Der Präsident sprach über ein Erlebnis, das er – ebenso wie seine Zuhörer und der Zeitungsreporter – lustig fand: Der Präsident war während der Vorweihnachtszeit einkaufen gegangen und an einer Freiwilligen der Heilsarmee vorbeigekommen, die neben einer „Spendenbüchse“ stand und eine Glocke läutete. Als er stehen blieb, um ihr eine Spende zu geben, fragte die Frau den Pädagogen: „Sind Sie gerettet, Sir?“ Er erwiderte ihr, na ja, er würde mal davon ausgehen; sie aber war damit nicht zufrieden und fragte nach: „Ich meine, haben Sie schon ihr ganzes Leben dem Herrn übergeben?“ An diesem Punkt, so erzählte der Präsident seinen Zuhörern, glaubte er diese hartnäckige Person doch einmal darüber aufklären zu müssen, wer er eigentlich war: „Ich bin der Präsident von der und der Universität und als solcher auch der Präsident von deren Theologischer Fakultät.“ Die Dame dachte einen Augenblick lang über diese Antwort nach, dann erwiderte sie: „Es kommt nicht darauf an, wo Sie gewesen sind oder wer Sie sind – Sie können trotzdem gerettet werden.“

Das Tragische an dieser Geschichte ist, dass sowohl der Präsident der Theologischen Hochschule als auch seine Zuhörer das Ereignis amüsant fanden. Man kann sich vorstellen, dass Nikodemus, wäre er mit der Heilsarmee-Freiwilligen konfrontiert worden, ungefähr dasselbe gedacht – und gesagt – hätte wie dieser Universitätspräsident. Nikodemus gehört zur „Crème de la Crème“ der Juden. Man kann sich kein besseres Leben vorstellen als er es hat. Er ist ein Jude, ein Pharisäer, ein Mitglied des Sanhedrin (der höchsten gesetzgebenden und richterlichen Körperschaft der Juden) und ein hochangesehener Lehrer der alttestamentarischen Schriften. Und nun stellen Sie sich vor, Sie wären Nikodemus und Jesus würde Ihnen sagen, dass all das doch nicht genug ist, um Sie in das Reich Gottes zu bringen. Genau das sagt Jesus nämlich zu Nikodemus. Wenn aber selbst ein Mann wie Nikodemus nicht gut genug für das Reich Gottes ist – wer ist es dann? Das ist die Frage, und Jesus hat darauf die Antwort, die Johannes für uns aufgezeichnet hat. Hören wir also gut auf die inspirierten Worte dieses Evangeliums, um zu lernen, wie man in das Königreich Gottes eingeht.

Die Situation

Die Chronologie der folgenden Ereignisse ist im Einzelnen vielleicht nicht ganz exakt; aber die Reihenfolge, die in den Texten skizziert wird, kann nicht sehr weit vom tatsächlichen Verlauf der Dinge entfernt sein, durch die die Lehren unseres Herrn (und die von Johannes dem Täufer) immer mehr die Aufmerksamkeit der jüdischen religiösen Führer, und insbesondere der Pharisäer, errangen:

46 Nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel, wo er unter den Lehrern saß und ihnen zuhörte und Fragen stellte. 47 Und alle, die Jesus hörten, staunten über sein Verständnis und seine Antworten (Lukas 2:46-47).

19 Dies war nun das Zeugnis des Johannes, als die Anführer der Juden Priester und Leviten von Jerusalem aus zu ihm sandten und ihn fragten: „Wer bist du?“ 20 Er bekannte – ja, er leugnete nicht, sondern bekannte –: „Ich bin nicht der Christus.“ 21 Also fragten sie ihn: „Wer bist du dann? Bist du Elia?“ Er sagte: „Ich bin es nicht.“ „Bist du der Prophet?“ Er antwortete: “Nein.” 22 Da sagten sie zu ihm: „Wer bist du? Sage es uns, damit wir denen Antwort geben können, die uns ausgesandt haben. Was sagst du von dir selbst?“ 23 Johannes sagte: „Ich bin die Stimme von einem, der in der Wüste ruft: ‚Richtet den Weg des Herrn’, wie es der Prophet Jesaja gesagt hat.“ 24 (Nun waren sie von den Pharisäern ausgesandt worden.) 25 So fragten sie Johannes: „Warum taufst du dann, wenn du nicht der Christus bist und auch nicht Elia oder der Prophet?“ (Johannes 1:19-25)

30 Die Pharisäer jedoch und die Gelehrten des religiösen Rechts verschmähten, was Gott ihnen zugedacht hatte, denn sie waren nicht von Johannes getauft worden (Lukas 7:30)

28 Als Jesus diese Rede beendet hatte, erstaunte sich die Menge über seine Lehren, 29 denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten (Matthäus 7:28-29).

17 Während er an einem dieser Tage lehrte, saßen in der Nähe Pharisäer und Gesetzeslehrer (die aus allen Orten Galiläas und Judäas und aus Jerusalem gekommen waren); und die Kraft des Herrn war mit ihm, die Kranken zu heilen (Lukas 5:17).

Im Alter von 12 Jahren begleitete unser Herr Maria und Joseph nach Jerusalem, um das Passah mit ihnen zu feiern. Als Seine Familie sich auf den Heimweg machte, blieb Jesus zurück und Seine Abwesenheit fiel zunächst nicht auf. Als Maria und Joseph schließlich auf der Suche nach Jesus nach Jerusalem zurückkehrten, fanden sie Ihn im Tempel, wo Er den Lehrern zuhörte und ihnen Fragen stellte (Lukas 2:46). Es dauerte nicht lange, bis auch sie Ihm Fragen stellten, und sie waren erstaunt über Seine Antworten (2:47). Schon im Alter von 12 Jahren war unser Herr ein erstaunlicher Lehrer, dessen Verständnis der Schriften Israels beste Wissenschaftler verblüffte.

Einige Jahre danach begann Johannes der Täufer seinen öffentlichen Dienst. Er verkündete das Wort Gottes und rief Israel zur Buße im Hinblick auf das Kommen des Messias auf. Die jüdischen Religionsführer nahmen davon Notiz und sandten eine Delegation zu ihm, um Erkundigungen über seinen Dienst und seine Botschaft einzuholen. Offensichtlich wollten die Pharisäer sich aber nicht mit Johannes und seiner Predigt identifizieren, denn sie wollten sich nicht von ihm taufen lassen (Lukas 7:30).

Als Jesus Seinen öffentlichen Dienst begann, erkannten die Menschen, die Ihn hörten, den Unterschied zwischen Seiner Lehre und der der jüdischen Religionsführer. Jesus lehrte als Bevollmächtigter und nicht als einer ihrer Rechtsexperten. Die Vollmacht unseres Herrn offenbarte sich dadurch, dass Er Kranke heilte und Dämonen austrieb; anscheinend aber auch durch die Wirkung, die Seine Worte auf Seine Zuhörer ausübten. Die Rechtsexperten lehrten sehr dogmatisch (Römer 2:17-20; 1. Timotheus 1:6-7; 2. Petrus 2:18), aber ihre Botschaft hatte nicht die Kraft der Rede unseres Herrn. Dessen Lehre klang offensichtlich „glaubhaft“ für Seine Zuhörer147.

Aus Lukas 5:17 erfahren wir, dass die Pharisäer sehr schnell Notiz von Jesus nahmen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt versammeln sich Pharisäer aus dem gesamten Volk Israel, um Seinen Dienst und Sein Lehren zu beobachten. Aus Lukas Bericht wissen wir, dass Jesus zu dieser Zeit auch schon Wunder vollbrachte. Ob die Versammlung vor oder nach dem Gespräch unseres Herrn mit Nikodemus war, ist nicht sicher; aber nach der Beschreibung in unserem Text im Johannes-Evangelium zu schließen, muss sie zu etwa der Zeit stattgefunden haben, als Nikodemus nachts zu Ihm kam. Die Pharisäer tun sich schwer damit, etwas Negatives über unseren Herrn oder Seinen Dienst vorzubringen. Wie kann man Ihn kritisieren? Wie kann man etwas gegen Ihn sagen, wenn Er offenkundig Wunder vollbringt und viele Menschen davon Kenntnis haben? Jesus lässt die Pharisäer schlecht dastehen, und im Moment gibt es anscheinend wenig, was sie gegen Ihn vorbringen könnten – auch wenn sich das bald ändern wird. Jesus Seinerseits hat über die Pharisäer auch nicht viel Gutes zu sagen:

17 „Glaubt nicht, dass ich gekommen bin, um das Gesetz oder die Propheten abzuschaffen. Ich bin nicht gekommen, um abzuschaffen, sondern um zu erfüllen. 18 Ich sage euch wahrlich: Bis dass Himmel und Erde vergehen, wird nicht der kleinste Buchstabe und kein Strich vom Gesetz vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. 19 So wird ein jeder, der das geringste dieser Gebote bricht und andere dementsprechend lehrt, der Geringste im Königreich des Himmels genannt werden. 20 Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht über die der Schriftgelehrten und der Pharisäer hinausgeht, werdet ihr niemals in das Königreich des Himmels kommen“ (Matthäus 5:17-20).

Jesus vollbrachte Sein erstes Zeichen bei der Hochzeit in Kana in Galiläa, aber kaum jemand bemerkte auch nur, dass dort etwas geschehen war. Es war die Tempelreinigung, die das Interesse der religiösen Führer weckte (Johannes 2:18-22), und die Zeichen, die unser Herr in Jerusalem vollbrachte, weckten dann die Aufmerksamkeit vieler anderer Menschen (Johannes 2:23-25). Doch nicht die Pharisäer waren von dem Angriff unseres Herrn in erster Linie betroffen. Sie standen nicht hinter der Geschäftemacherei, die im Tempelhof stattfand, denn die war das Werk der Priester und der Sadduzäer148. Vielleicht standen die Pharisäer sogar daneben und sahen mit großer Genugtuung zu, wie Jesus den Tempel reinigte und die Priester und Sadduzäer öffentlich gedemütigt wurden149.

All das fesselt das Interesse der Pharisäer an Jesus. Besonders ein Pharisäer ist, wie wir erfahren, von den Ereignissen sehr beeindruckt – ein Pharisäer namens Nikodemus. Es gab Zeiten, da dachte ich, dass Nikodemus im Auftrag der Pharisäer versuchen würde, Jesus als eine Art Juniorpartner zu gewinnen. Andererseits bin ich mir nicht sicher, ob Nikodemus’ Kollegen Jesus überhaupt in ihren Reihen akzeptiert hätten. Ich dachte auch, dass Nikodemus mit einem vorgefassten Text zu Jesus gekommen und, weil Jesus ihn unterbrach, vollkommen entwaffnet und verwirrt gewesen wäre.

Inzwischen sehe ich den Text in einem anderen Licht. Stellen Sie sich einen Moment lang vor, Sie wären ein berühmter Pianist, ein Schüler des besten Konzertpianisten, den die Welt je gesehen hat. Menschenmengen versammeln sich, nur um ihren Darbietungen zu lauschen. Jeder preist Sie als einen Meister ihres musikalischen Fachgebietes. Und dann, stellen Sie sich vor, käme ein junger Mann daher, der irgendwo in Hintertupfingen aufgewachsen ist und nie in seinem Leben auch nur eine einzige Klavierstunde hatte, sondern sich das Klavierspielen selbst auf einem baufälligen Instrument im Haus seiner Großmutter beigebracht hat. Dieser Hinterwäldler von einem Musiker kommt in die Stadt, sein Talent wird entdeckt und die Menschen reißen sich darum, ihn spielen zu hören. Wenn er spielt, haben seine Zuhörer Tränen in den Augen. Auch Sie hören ihn spielen; und sie erkennen – besser als jeder andere – in ihm das musikalische Genie, das Sie selbst nie hatten und auch nie haben werden. Als Sie ihn hören, wünschten Sie sich nur, Sie könnten so spielen wie er.

So ähnlich muss Nikodemus, glaube ich, über Jesus empfunden haben. Nikodemus ist als Pharisäer Spitze auf seinem Gebiet. Er ist nicht nur ein Mitglied des Sanhedrin, sondern auch der berühmteste Bibellehrer seiner Zeit – der „Billy Graham“ von Jerusalem im ersten Jahrhundert. Als er aber Jesus lehren hört, hört er die Antworten auf Fragen, die ihn seit Jahren gequält haben. Er beobachtet die Menschenmenge, die Jesus zuhört, und weiß, dass er selbst noch nie die Aufmerksamkeit eines Publikums so gefesselt hat, wie Jesus es tut. Jesus spricht in einfachen Worten, aber Seine Botschaft hat große Kraft. Nikodemus sieht die Wunder, die Jesus vollbringt, und weiß, dass er selbst niemals auch nur ein einziges Wunder vollbracht hat. Nikodemus ist in praktisch jeder Hinsicht nicht in der Lage, Jesus das Wasser zu reichen.

Nikodemus’ nächtliches Gespräch mit Jesus
(3:1-2)

1 Und es kam ein Mann, ein Pharisäer mit Namen Nikodemus, ein Mitglied des Rates. 2 Er kam bei Nacht zu Jesus und sprach zu ihm: „Rabbi, wir wissen, dass du als Lehrer von Gott gekommen bist. Denn niemand könnte die Wunderzeichen tun, die du tust, es sei denn, Gott ist mit ihm.“

Nikodemus kann über das Gewicht der Tatsachen nicht hinwegssehen. Seine Mitpharisäer werden schon bald dazu übergehen, alternative Erklärungen für den Erfolg Jesu zu finden; Nikodemus aber kann sich nicht von seiner persönlichen Überzeugung lösen, dass Jesus irgendeine Mission von Gott erfüllt und dass Er mit göttlicher Vollmacht spricht und heilt. Ich neige inzwischen dazu, die ersten Verse von Kapitel 3 folgendermaßen zu verstehen: „Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, der von Gott gekommen ist. Denn niemand könnte die wunderbaren Zeichen tun, die du tust, wenn Gott nicht mit ihm wäre ...“

Ich glaube nicht, dass Nikodemus weiß, was er von hier ab weiter sagen soll, oder dass er mit einem vorgefassten Plan in dieses Gespräch gegangen ist. Falls er doch einen Plan hat, lernen wir ihn zumindest nicht kennen, denn Nikodemus kommt gar nicht dazu, ihn auszuführen. Er sagt Jesus einfach, dass er aus alldem, was er persönlich gesehen hat, den Schluss zieht, dass Jesus von Gott und in göttlich inspirierter Mission gekommen ist. Und nachdem er das gesagt hat, wartet er anscheinend ab und hofft vielleicht, dass Jesus den Faden dort aufnimmt, wo er selbst aufgehört hat, dass Er die Lücken ausfüllt und all seine Fragen beantwortet. Wenn er darauf hofft, steht ihm allerdings eine große Enttäuschung bevor.

Aus Nikodemus’ Worten können wir erkennen, dass er großen Respekt vor Jesus hat. Nikodemus nennt Jesus „Rabbi“. Zweifellos ist das der gleiche Titel, mit dem er selbst oft angeredet wird, denn auch er ist ein Lehrer des Gesetzes. Darüber hinaus bezeichnet er Jesus als „einen von Gott gekommenen Lehrer“. Wenn Nikodemus zu Jesus spricht, sagt er nicht „Rabbi, ich weiß, dass Du als Lehrer von Gott gekommen bist“, sondern „Rabbi, wir wissen, dass du als Lehrer von Gott gekommen bist“. Auf wen bezieht sich Nikodemus mit seinem „wir“? Wahrscheinlich doch auf die Pharisäer, seine Kollegen150. Spricht Nikodemus hier für seine Mitpharisäer; drückt er ihren Standpunkt aus? Ist Nikodemus als offizieller Sprecher der Pharisäer gekommen? Das ist natürlich möglich, aber es ist eigentlich gar nicht die Art der Pharisäer, so heimlich vorzugehen. In den oben angeführten Situationen (Johannes 1:19-25; Lukas 5:17) unternehmen die Pharisäer ihre Schritte in aller Öffentlichkeit, fast so, als legten sie es geradezu darauf an, gesehen zu werden. Sie wollten, sozusagen, als Zulassungsstelle für alle Gesetzeslehrer angesehen werden.

Ich neige zu der Auffassung, dass Nikodemus hier eigenständig und ohne Sanktionierung durch die Pharisäer handelt. Warum also das „wir“? Weil Nikodemus trotzdem Pharisäer ist, ein Mitglied (ja, sogar ein Führer) ihrer Organisation. Sein Denken ist auf dieses System bezogen, seine Beobachtungen und vorläufigen Schlussfolgerungen macht er als Pharisäer. Dass Nikodemus „wir“ sagt, soll uns zeigen, dass er an diesem Punkt in seinem Leben noch zu 100% Pharisäer ist. Erst dann, wenn er das Scheitern des Pharisäertums erkennen und den Glauben an dessen religiöses System widerrufen wird, wird sich Nikodemus für seine Errettung auf Jesus alleine werfen. Genau davon handelt die Antwort unseres Herrn. Jesus versucht Nikodemus zu zeigen, dass sein Religionssystem niemanden retten kann und wird.

Bevor wir uns der Antwort unseres Herrn zuwenden, sollten wir noch festhalten, dass Nikodemus mit seinem Urteil über Jesus teilweise Recht hat. Jesus ist „als Lehrer von Gott gekommen“ und Gott ist „mit Ihm“ (Vers 2). Was Nikodemus nicht weiß, ist, dass seine Worte sogar noch zutreffender sind als ihm bewusst ist. Jesus ist buchstäblich „als Lehrer von Gott gekommen“. Er ist vom Vater herunter auf die Erde gekommen. Und Gott ist „mit Ihm“. Aber Jesus ist noch viel größer als Nikodemus es sich zu diesem Zeitpunkt überhaupt vorstellen kann. Er ist Gott, und die Macht Gottes manifestiert sich in Seiner Lehre und in den von Ihm vollbrachten Zeichen. Es wird noch einige Zeit vergehen, bis Nikodemus die volle Wahrheit dessen erkennt, was er selbst gerade gesagt hat. Was er aber als Nächstes hört, trifft ihn völlig unvorbereitet.

„Du musst wiedergeboren werden“
(3:3)

3 Jesus erwiderte: „Ich sage dir die tiefe Wahrheit: Wenn ein Mensch nicht von oben [wieder]geboren151 wird, kann er das Königreich Gottes nicht sehen152.“

Wir sollten im Auge behalten, dass Jesus im Mittelpunkt des Gespräches steht, das Nikodemus initiiert hat. Nikodemus ist nicht gekommen, um über sich selbst oder über das Pharisäertum zu sprechen. Er ist gekommen, um etwas über Jesus zu erfahren, über Seine Botschaft und Sein Verhältnis zu Gott: Was sagt Jesus über Sich Selbst? Nikodemus öffnet Jesus die Tür, indem er Ihm versichert, dass er Ihn als einen Mann mit einer Botschaft und einer Mission von Gott betrachtet. Das ist doch die perfekte Einleitung. Jesus muss sie nur noch aufnehmen und Nikodemus erklären, worin Seine Mission eigentlich besteht. Aber es kommt überhaupt nicht so, wie Nikodemus sich das vielleicht vorgestellt hat.

Was unser Herr sagen wird, haut Nikodemus geradezu um. Zu Beginn bringt Jesus Nikodemus gegenüber zum Ausdruck, dass Seine Worte eine ganz tiefe Wahrheit enthalten werden. Er benutzt dazu einen Ausdruck, der einzigartig für dieses Evangelium ist und der in der King-James-Übersetzung mit „Wahrlich, wahrlich, ...“153 wiedergegeben wird. Leon Morris fasst die Wirkung dieser wenigen Worte unseres Herrn zusammen:

Mit einem einzigen Satz wischt Er dann alles fort, wofür Nikodemus steht, und fordert, dass er durch Gottes Kraft neu gemacht werden müsse.154

Jener Zweig des Judaismus, dem Nikodemus angehörte, kannte keine Wiedergeburt155. Die Pharisäer hielten, offen gesagt, eine „richtige“ Geburt für vollkommen ausreichend.

7 Als er aber viele von den Pharisäern und Sadduzäern zur Taufe kommen sah, sagte er zu ihnen: „Ihr Natternbrut! Wer hat euch gewarnt, vor dem kommenden Zorn zu fliehen? 8 Bringt daher Früchte hervor, die eure Reue beweisen, 9 und glaubt nicht, dass ihr euch sagen könnt ‚Wir haben Abraham zum Vater.’ Denn ich sage euch, dass Gott Abraham aus diesen Steinen hier Kinder erwecken kann!“ 10 Schon ist die Axt bereit an der Wurzel der Bäume; und jeder Baum, der keine guten Früchte hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen“ (Matthäus 3:7-10; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Für viele Juden war „als Jude geboren zu sein“ gleichbedeutend mit „in das Reich Gottes geboren zu sein“. Wir wissen, dass die Juden auch glaubten, die Heiden seien als „Verlorene“ geboren. Selbst die Jerusalemer Kirchenführer mussten mit Nachdruck davon überzeugt werden, dass die Errettung der Heiden Gottes Absicht entsprach (siehe Apostelgeschichte 10, 11:15-18), und selbst danach noch entsprach bei vielen jüdischen Gläubigen das Handeln nicht den Worten (siehe Apostelgeschichte 11:19). Dementsprechend schlug Paulus immer wieder hart in diese Kerbe: Nicht alle Israeliten sind wahre Israeliten (Römer 9:6). Die auf das Versöhnungswerk Jesu Christi für ihre Erlösung vertrauen, sind die wahren Israeliten, unabhängig davon, ob sie nach ihrem ethnischen Ursprung Juden oder Heiden sind (siehe Galater 3:28, 6:16).

Stellen Sie sich den schockierten Gesichtsausdruck von Nikodemus vor, als Jesus ihm sagt, dass seine biologische Geburt (als Jude) ihn nicht retten wird und dass er von oben wiedergeboren werden muss. Die Konsequenz daraus ist klar. Wenn Nikodemus nicht von oben wiedergeboren werden wird, wird er das Königreich Gottes nicht sehen. Da haben wir einen Menschen, der die Reservierung für einen Logenplatz im Himmel zu haben glaubt, und Jesus sagt ihm, dass er so, wie er ist, überhaupt nicht in den Himmel kommen werde. Zuerst muss er wiedergeboren werden, von oben.

Nikodemus nimmt Jesus wörtlich
(3:4)

4 Nikodemus sagte zu ihm: „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Er kann doch nicht in den Schoß seiner Mutter hineingehen und ein zweites Mal geboren werden?“

Nikodemus entscheidet sich dafür, das, was Jesus sagt, wörtlich zu nehmen, und so geht er davon aus, dass sich der Ausdruck „von oben wiedergeboren“ auf irgendeine Art von buchstäblicher Wiedergeburt156 beziehen muss. Ich glaube nicht unbedingt, dass es die Wortwahl unseres Herrn ist, die ihn in diese Richtung denken lässt. Das ist wohl eher die Tatsache, dass er die Konsequenzen aus der einzigen anderen Richtung, die sonst noch in Frage käme, lieber nicht weiterdenken will. Es ist einfacher, Jesus so zu verstehen, wie Nikodemus es tut, denn dann kann man das, was Er sagt, als lächerlich und absurd vom Tisch wischen. Also wendet Nikodemus ein: „Du willst doch nicht etwa sagen, dass man den menschlichen Geburtsvorgang wiederholen muss, um in das Reich Gottes zu gelangen, oder?“

Als Leser des Evangeliums sind wir Nikodemus gegenüber im Vorteil. Erstens ist Jesus von Johannes schon als Gott bezeichnet worden. Die ursprüngliche Erschaffung des Lebens war Sein Werk, und ebenso ist es Sein Werk, geistliches Leben zu schaffen. Außerdem haben wir auch schon gelesen, dass diejenigen, die Gottes Kinder werden sollen, durch einen göttlichen Schöpfungsakt geboren werden (Johannes 1:12). All das geht im Moment noch über das Verständnis von Nikodemus hinaus, der nur im allerwörtlichsten Sinne denken und daher Jesus überhaupt nicht begreifen kann.

Was bedeutet es, von oben wiedergeboren zu werden?
(3:5-8)

5 Jesus antwortete: „Ich sage dir die tiefe Wahrheit: Wenn ein Mensch nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er in das Königreich Gottes nicht hineinkommen. 6 Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was vom Geist geboren wird, ist Geist. 7 Wundere dich nicht, dass ich dir sagte ‚Ihr müsst von oben geboren werden’. 8 Der Wind bläst, wo immer er will, und du hörst sein Wehen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der vom Geist geboren ist.“

Wieder beginnt Jesus Seine Erwiderung an Nikodemus mit einem Hinweis auf die tiefe Bedeutung Seiner Worte. Anschließend antwortet Er auf den Einwand, den Nikodemus vorgebracht hat: „... Wenn ein Mensch nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er in das Königreich Gottes nicht hineinkommen“ (Vers 5). Ich glaube, wir können mit ausreichender Sicherheit sagen, dass „von oben wiedergeboren werden“ und „aus Wasser und Geist geboren werden“ Synonyme sind. Viele fragen nun: „Was ist denn mit „Wasser“ und „Geist“ gemeint?“ Manche Menschen verstehen den Begriff „Wasser“ als Bezeichnung der natürlichen Geburt und den Begriff „Geist“ andererseits als Bezeichnung der geistlichen Wiedergeburt von oben. Wenn es das wäre, was Jesus ausdrücken wollte, würde Er hier sagen, dass ein Mensch zunächst natürlich („aus Wasser“) und dann übernatürlich („aus Geist“) geboren werden muss. Die Argumente dafür, „Wasser“ in dieser Weise zu interpretieren, sind aber nicht gerade zwingend, und ich sehe auch keinen Grund dafür, dass Jesus unbedingt die Notwendigkeit sowohl einer natürlichen wie auch einer geistlichen Geburt vertreten sollte.

Vielmehr neige ich dazu, die Begriffe „Wasser“ und „Geist“ als einen einzigen Begriff „Wasser und Geist“ zu verstehen, der sich auf die geistliche Wiedergeburt bezieht. Mehrere Texte aus dem Alten Testament rechtfertigen diese Auffassung, dass sich sowohl „Wasser“ als auch „Geist“ auf die spirituelle Wiedergeburt eines Menschen beziehen:

3 „’Denn Ich will Wasser auf den Durstigen ausgießen / und Ströme über das trockene Land; / Ich will Meinen Geist auf deine Nachkommen ausgießen / und Meine Segnungen auf deine Kinder, 4 dass sie aufgehen werden mit dem grünen Gras / wie die Weiden an den Wasserläufen.’ 5 Einer wird sagen: ‚Ich bin des Herrn’; / ein anderer wird sich nach dem Namen Jakobs nennen; / und ein weiterer wird mit seiner Hand schreiben: ‚Dem Herrn zueigen’ / und wird sich nach dem Namen Israels nennen“ (Jesaja 44:3-5; NKJV).

24 „Denn Ich will euch aus den Völkern herausnehmen, aus allen Ländern einsammeln und in euer eigenes Land bringen. 25 Dann werde Ich reines Wasser über euch sprengen, und ihr werdet rein sein; von allem Schmutz und all euren Götzen werde Ich euch reinigen. 26 Ich werde euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euch legen; Ich werde das steinerne Herz aus euren Fleisch herausnehmen und euch ein Herz von Fleisch geben. 27 Ich werde Meinen Geist in euch legen und euch dazu bringen, in Meinen Geboten zu wandeln; und ihr werdet Meine Entscheidungen einhalten und sie ausführen“ (Hesekiel 36:24-27; NKJV).

Dieses Werk der Erneuerung wird im Alten Testament auch als das Werk des „Windes“ beschrieben:

9 Und Er sprach weiter zu mir: „Weissage dem Odem; weissage, Menschensohn, und sprich zu dem Odem: ‚So spricht Gott der Herr: „Komm her von den vier Winden, o Odem, und blase auf diese Erschlagenen, damit sie lebendig werden.“’“ 10 Also weissagte ich, wie Er es mir befohlen hatte; und Odem kam in sie, und sie wurden lebendig und stellten sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer (Hesekiel 37:9-10; NKJV).

Das Neue Testament beschreibt Gottes Erlösungswerk als das „Bad der neuen Geburt und der Erneuerung durch den Heiligen Geist“:

3 Denn auch wir waren einst töricht, ungehorsam, irregeleitet, unseren verschiedenen Leidenschaften und Wünschen versklavt, und wir verbrachten unser Leben in Bosheit und Neid, wir waren verhasst und hassten einander. 4 Doch „Als die Freundlichkeit Gottes, unseres Heilandes, erschien und seine Liebe zum Menschen, 5 da errettete er uns, nicht um der Werke willen, die wir in Gerechtigkeit vollbracht hätten, sondern aufgrund seiner Gnade, durch das Bad der neuen Geburt und der Erneuerung durch den Heiligen Geist, 6 den er reichlich über uns ausgoss durch Jesus Christus, unseren Heiland. 7 Und da wir so durch seine Gnade gerechtfertigt worden sind, werden wir zu Erben mit der zuverlässigen Hoffnung auf ewiges Leben“ (Titus 3:3-7).

Ich glaube, dass das „Wasser“, von dem unser Herr hier spricht, auch etwas mit dem „Wasser“ der Taufe zu tun hat. Die Pharisäer möchten unbedingt wissen, warum Johannes tauft (Johannes 1:25). Gleich im Anschluss an unseren Text bringen die Jünger von Johannes dem Täufer ihre Bedenken über die zunehmende Popularität Jesu zum Ausdruck, und zuvor sagt uns Johannes, dass Jesus mit Seinen Jüngern zusammen ist und tauft (3:22). Die Jünger Johannes’ des Täufers protestieren und sagen: „Rabbi, der Mann, der bei dir war, auf der anderen Seite des Jordans, über den du Zeugnis abgelegt hast – sieh nur, er tauft und jeder geht zu ihm!“ (3:26). Ich glaube, die Taufe unseres Herrn und die Taufe des Johannes sind – zu diesem Zeitpunkt – ein und dasselbe: die Taufe der Reue in Vorbereitung auf das Kommen des Messias. Die Taufe war ein Teil der Botschaft und des Dienstes sowohl von Johannes als auch von Jesus; und die Taufe durch den Geist ist es, die nach Johannes’ Worten den Dienst des Messias von seinem eigenen unterschied (Johannes 1:33). Also bedeutet „aus Wasser und Geist geboren zu werden“ „von oben wiedergeboren“ zu werden und gerettet zu werden.

Damit will ich nicht sagen, dass die Taufe ein gutes Werk unsererseits darstellt, aufgrund dessen wir gerettet würden. Das wäre das genaue Gegenteil von dem, was unser Herr in unserem Text Nikodemus gegenüber zum Ausdruck bringt. Die Taufe des Johannes wurde als eine Vorbereitung auf das Kommen unseres Herrn angesehen. Es war eine Taufe der Reue. Indem man sich taufen ließ, bezeugte man, dass man nicht mehr an den Judaismus (das Einhalten der Gesetze) als Mittel zur Erlösung glaubte. Und genau deshalb verweigerten ungläubige und unbußfertige Pharisäer die Taufe:

29 (Und alles Volk, das dies hörte – selbst die Steuereinnehmer – erkannten Gottes Gerechtigkeit an, und ließen sich mit der Taufe des Johannes taufen. 30: Die Pharisäer jedoch und die Gelehrten des religiösen Rechts verschmähten, was Gott ihnen zugedacht hatte, denn sie waren nicht von Johannes getauft worden.) (Lukas 7:29-30)

Jesus achtete sehr darauf, im Einklang mit Johannes und dessen Dienst zu sein. Wenn ein Pharisäer oder sonst irgendjemand in das Reich Gottes kommen wollte, musste er das mit den Mitteln tun, die Gott festgelegt hatte – indem er mit Johannes übereinstimmte und auch mit Dem, über den Johannes Zeugnis ablegte, mit Jesus.

Es wurde, denke ich, schon von den Menschen erwartet, dass sie sich taufen ließen; aber Jesus legt die Betonung bei der Erlösung nicht auf menschliche Handlungen, sondern vielmehr auf das souveräne Wirken Gottes. Von oben geboren zu werden bedeutet, von Gott geboren zu werden. Von Gott geboren zu werden bedeutet, spirituell durch das Wirken Seines Geistes geboren zu werden (von oben geboren zu werden). Jesus beschreibt das souveräne Erlösungswirken durch den Geist Gottes mit dem Bild des Windes157.

Bevor wir aber die Bedeutung dessen betrachten, was unser Herr über den Wind sagt, wollen wir innehalten und den Zusammenhang betrachten, in dem diese Worte gesprochen werden. Jesus erschreckt Nikodemus, indem Er ihm klarmacht, dass weder er noch irgendjemand sonst das Königreich Gottes sehen wird, wenn er nicht von oben wiedergeboren wird. Nikodemus ist dagegen der Meinung, dass ihm schon alleine seine Geburt (als Jude) garantiert, dass er das Königreich Gottes sehen wird (siehe Matthäus 3:9; Johannes 8:39; Römer 9:6). Und selbst abgesehen von seiner Geburt muss sich Nikodemus vorgekommen sein, als halte er den Schlüssel zum Reich Gottes selbst in der Hand. Die Pharisäer sahen sich als Wächter des Mosaischen Gesetzes. Sie sahen sich als den letzten Überrest reinen Judentums. Die Pharisäer sahen sich als „Torhüter“ des Königreiches und meinten, dass der Zugang dazu durch die Regeln und Vorschriften gesteuert würde, die sie selbst durch mündliche Tradition dem Gesetz hinzugefügt hatten (siehe Matthäus 23:13-15). Kurz gesagt, Nikodemus und seine Kollegen kamen sich vor, als hätten sie das Reich unter ihrer Kontrolle. Und Jesus ist dabei, diesen Mythos einfach wegzuwischen.

Jesus vergleicht Gottes erlösendes Wirken durch Seinen Geist mit dem Wirken des Windes. Die Auswirkungen des Windes kann man sehen, den Wind selbst aber kann man nicht sehen. Ebensowenig kann man den Wind steuern. Der Wind weht, wohin er will, und tut, was er will. Die Menschen haben keine Kontrolle über den Wind. Genauso ist auch das Erlösungswerk des Geistes: Der Geist geht Seinem Leben spendenden Werk nach und kein Mensch kann ihn steuern158. Niemand kann durch seine eigenen Werke oder sein eigenes Bestreben oder durch Manipulation den Geist in Seinem Wirken beeinflussen. Wenn der Geist aber die Wiedergeburt bewirkt, sind die Auswirkungen offensichtlich und wir erkennen, dass es sich um das Werk von Gottes Geist handelt, der ungesehen und jenseits aller Kontrolle durch den Menschen wirkt. In diesem Sinne kann weder Nikodemus selbst noch sonst irgendjemand seine eigene Erlösung herbeiführen – und übrigens auch nicht die eines anderen, um das bei dieser Gelegenheit einmal zu sagen. Die Erlösung ist das souveräne Werk Gottes, das Er durch den Heiligen Geist vollbringt.

Wie kann das sein?
(3:9)

9 Nikodemus erwiderte: „Wie kann das sein?“

Seit der Erwiderung unseres Herrn in Vers 3 fehlen Nikodemus nur noch die Worte. In Vers 4 und 9 stellt er zwei Fragen, die beide gleich beginnen: „Wie ist es möglich ...?“159 Nikodemus ist durch die Worte Jesu so verblüfft, dass er sich gar nicht vorstellen kann, inwiefern das, was unser Herr gesagt hat, wahr sein könnte. Nikodemus ist so sehr Teil der natürlichen Welt, dass er irgendetwas Geistliches oder Übernatürliches gar nicht in Betracht ziehen kann. Theoretisch glaubten die Pharisäer schon an Wunder (siehe Apostelgeschichte 23: 6-8), in der Praxis aber scheint Nikodemus gegen das Übernatürliche zu sein. Und um ehrlich zu sein: Wir tun doch eigentlich dasselbe. Wir behaupten zu glauben, dass Gott die Entscheidungsgewalt hat und dass Er allmächtig ist – und doch scheitern wir immer wieder daran, auch dementsprechend zu leben.

Der Lehrer Israels wird über geistliche Dinge belehrt
(3:10-15)

10 Jesus antwortete: „Bist du der Lehrer Israels und weißt doch diese Dinge nicht? 11 Ich sage dir die tiefe Wahrheit: Wir reden über das, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben; ihr aber nehmt unser Zeugnis nicht an. 12 Ihr glaubt nicht, was ich zu euch von irdischen Dingen geredet habe – wie wollt ihr dann glauben, wenn ich zu euch von himmlischen Dingen rede? 13 Niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen außer dem, der aus dem Himmel herabkam – der Menschensohn. 14 Gerade so, wie Moses die Schlange in der Wüste erhob160, muss der Menschensohn erhoben werden, 15 damit jeder, der an ihn glaubt, ewiges Leben habe.“

Die Worte unseres Herrn enthalten einen freundlichen Tadel: „Kann es wirklich sein, dass du als der Lehrer Israels diese Dinge nicht begreifst?“ Nikodemus ist nicht nur Pharisäer und Mitglied des Sanhedrin, sondern er ist auch der Lehrer Israels“ (Vers 10). Der bestimmte Artikel wird an dieser Stelle allgemein so verstanden, dass Nikodemus der berühmteste und anerkannteste Lehrer seiner Zeit war. Wie konnte ein namhafter Lehrer des Alten Testaments nicht verstehen, wovon Jesus spricht? Das scheint unglaublich, ja, es ist unglaublich. Beachten Sie in diesem Sinne den Wortlaut von Vers 12. Jesus stellt hier „irdische Dinge“ und „himmlische Dinge“ einander gegenüber und ordnet das, was Er zuvor gesagt hat, anscheinend den „irdischen Dingen“ zu. „Himmlische Dinge“ wären dann das, was mit dem künftigen Königreich Gottes zu tun hat, also Dinge, die gegenwärtig noch ganz und gar jenseits unseres Auffassungsvermögens liegen161.

Wie kann Nikodemus, ein Lehrer des alttestamentarischen Gesetzes, nicht verstehen, was das Gesetz lehrt? Das Problem bei den Menschen ist immer ihr Herz (Genesis 8:21; Exodus 7:14; Deuteronomium 5:28-29, 8:14; Jesaja 29:13; Jeremia 17:9), und dieses Problem kann Gott alleine lösen, indem Er den Menschen ein neues Herz gibt (Deuteronomium 30:6; Jeremia 31:31-34). Mit der Wiedergeburt durch den Geist Gottes wird man ein neuer Mensch (siehe 1. Samuel 10:6-13), und der Geist ist es, der den Menschen befähigt, diese Wahrheiten einzusehen (siehe 1. Korinther 2). Paulus geht sogar noch einen Schritt weiter:

12 Da wir nun eine solche Hoffnung haben, gehen wir mit großer Beherztheit vor 13 und nicht wie Moses, der einen Schleier vor sein Gesicht tat, damit die Israeliten nicht beständig auf das Ende der Herrlichkeit schauten, die vergänglich war. 14 Deren Sinn aber wurde verstockt. Denn bis auf den heutigen Tag verbleibt dieser Schleier, wenn sie die Lesung des Alten Bundes hören, und wurde noch nicht gelüftet, denn nur in Christus wird er fortgenommen. 15 Bis zum heutigen Tage liegt ein Schleier über ihrem Sinn, wann immer Moses gelesen wird. 16 Wann immer sich aber einer dem Herrn zuwendet, wird der Schleier fortgenommen. 17 Der Herr ist der Geist, und wo der Geist des Herrn ist, ist Freiheit. 18 Und wir alle, die wir mit unverhülltem Gesicht die Herrlichkeit des Herrn widerspiegeln, werden in dasselbe Bild verklärt, von einer Herrlichkeit zur anderen, wie es vom Herrn kommt, der der Geist ist (2. Korinther 3:12-18).

In Vers 11 betont Jesus noch einmal die Wichtigkeit dessen, was Er anschließend sagen wird, mit den Worten: „Ich sage dir die tiefe Wahrheit.“ Er versichert Nikodemus: „Wir reden über das, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben.“ Dann fährt er fort mit den Worten: „... ihr aber nehmt unser Zeugnis nicht an.“ Auf wen bezieht sich das „wir“ von Jesus, und auf wen das „ihr“? Das „wir“ sind offenbar Johannes der Täufer und Jesus, die beide Zeugnis ablegten über das, was sie sahen. Es wäre auch vorstellbar – wenngleich weniger wahrscheinlich –, dass das „wir“ die alttestamentarischen Propheten mit einschließt. Das „ihr“ sind Nikodemus und die anderen Pharisäer.

Johannes legte Zeugnis ab über das Kommen des Messias. Die Pharisäer aber sandten eine Delegation aus, um ihn darüber zu befragen, wer er überhaupt sei und was denn seine Botschaft wäre (Johannes 1:19-25). Offensichtlich akzeptierten sie Johannes’ Zeugnis nicht, denn sie wollten sich nicht von ihm taufen lassen (Lukas 7:30). Und die Pharisäer versammelten sich auch in großer Zahl aus dem ganzen Land Israel, um Jesus sprechen zu hören und über Seine Botschaft und Seinen Dienst zu urteilen (Lukas 5:17). Ganz sicher beugten sie sich Jesus nicht als ihrem Messias. Also wurde das Zeugnis von Johannes und von Jesus von den Pharisäern abgelehnt.

Jesus sprach von Wiedergeburt, einer Wiedergeburt, die von oben her kommt. Sie ist das Werk von Gottes Geist, der souverän neues Leben hervorbringt (Vers 7-8), und ein Werk, das „von oben“ kommt (Vers 13-15). Glaubt Nikodemus an ein himmlisches Königreich? Das sollte er schon tun, ebenso wie die Männer und Frauen des Glaubens im Alten Testament (siehe Hebräer 11:13-16). Wenn irgendjemand in den Himmel auffahren konnte, so musste er zuvor vom Himmel herabgekommen sein. Man braucht eine „Rückfahrkarte“, und der Himmel ist der Ausgangspunkt der Reise. Nur der Menschensohn kann in den Himmel zurückkehren, denn von dort ist Er gekommen (Vers 13). Deshalb kommt die Rettung „von oben“.

Die Geschichte von der Bronzeschlange in Numeri 21 weist im Voraus auf die Rettung hin, die Gott durch den „Menschensohn“ bereiten wird. Die Israeliten hatten sich bei Gott beklagt und über die Reise und den scheinbaren Mangel an Nahrung und Wasser gemurrt. Sie mochten das Manna nicht, das Gott ihnen Tag für Tag gab. Und so sandte Gott feurige Schlangen unter sie, und viele starben an den Schlangenbissen. Gott bereitete aber eine Möglichkeit zur Rettung, damit das ungehorsame Volk Sein göttliches Gericht überleben konnte. Er wies Moses an, eine Bronzeschlange zu machen und auf einer Stange zu befestigen; und jeder, der von einer Schlange gebissen worden war und zu der Bronzeschlange emporschaute, sollte dadurch geheilt werden. Genau so geschah es dann auch: Jeder, der gebissen worden war und zu der Schlange emporschaute, wurde geheilt.

Diese Heilung, die Gott Israel im Alten Testament gewährt, weist darauf hin, wie Er die Rettung durch Seinen einzig gezeugten Sohn, Jesus Christus, bewerkstelligen wird. So, wie die Schlange emporgehoben und dadurch zum Quell der Rettung wurde, muss auch der Menschensohn „emporgehoben“ werden, damit die, die im Glauben zu Ihm emporschauen, vor Gottes Zorn gerettet werden. Die Israeliten wurden von Gott mit Schlangenbissen geschlagen. Sie verdienten es zu sterben, und sie wären auch gestorben ohne die Bronzeschlange, die Er ihnen gewährte. Wer nicht zu der Bronzeschlange emporsah, starb. Einfach zu der Bronzeschlange emporzuschauen war ein Akt des Glaubens. Nach menschlichen Maßstäben gab es keine direkte Verbindung zwischen dem erlittenen Schlangenbiss und der erhofften Heilung durch den Blick auf die Bronzeschlange. Aber es war der Weg, den Gott zu ihrer Rettung bereitet hatte, der Weg, den Gott durch Moses verkündet hatte. Es war gemäß Gottes Wort der einzige Weg, wie Sein Volk gerettet werden konnte. Wer auf die Bronzeschlange sah, wurde vor dem verdienten Tod bewahrt.

In Vers 14 und 15 verbindet Jesus die Schlange, die auf einer Stange emporgehoben wird, mit Seinem eigenen Tod auf Golgatha, wo Er an einem Kreuz emporgehoben werden wird. Nikodemus hatte gefragt, wie denn ein Mensch von oben wiedergeboren werden kann. Das sagt ihm Jesus zuerst durch eine Analogie und nun auch noch auf direktere Weise. Wenn jemand vor der Strafe für seine Sünden bewahrt werden soll, muss er zu Ihm „emporschauen“, um gerettet zu werden. Wie die Bronzeschlange aus alten Zeiten wird Er „erhoben“ werden am Kreuz; und später wird er noch einmal „erhoben“ werden bei Seiner Auferstehung und Himmelfahrt. Und dadurch wird Er auch noch in anderer Weise „erhoben“ werden – Er wird von Gott für Sein gehorsames Opfer auf Golgatha erhöht werden. Und alle, die zu Ihm im Glauben „emporschauen“ und – wie die alten Israeliten – darauf vertrauen, dass Er das Gericht für ihre Sünden hinwegnehmen wird, werden gerettet werden.

Die Liebe Gottes und die Herabkunft und das Kreuz Christi
(3:16-21)

16 Denn so liebte Gott die Welt: Er gab seinen einzigen Sohn, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde gehe, sondern ewiges Leben habe. 17 Denn Gott sandte seinen Sohn nicht in die Welt, um die Welt zu verurteilen, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde. 18 Wer an ihn glaubt, wird nicht verurteilt. Wer aber nicht glaubt, der ist schon verurteilt, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes geglaubt hat. 19 Dies nun ist die Grundlage für das Gericht: dass das Licht in die Welt kam und die Menschen die Dunkelheit mehr liebten als das Licht, weil ihre Werke böse waren. 20 Denn jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht ans Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt würden. 21 Wer aber die Wahrheit tut, der kommt ans Licht, damit es ganz offensichtlich werde, dass seine Werke in Gott getan sind.

Damit sind wir bei Vers 16, der vielleicht bekanntesten Textstelle in der Bibel. Leider wird dieser Vers fast immer isoliert und ohne Bezug auf seinen Zusammenhang zitiert. Zudem folgen auch die wichtigen späteren Übersetzungen immer noch der Lesart der King James Version. Das wäre ja nicht schlimm, wenn nicht die Bedeutung der Worte dadurch geändert würde. Besonders problematisch ist das Wort „so“:

Denn Gott hat die Welt so geliebt, dass er seinen einzig gezeugten Sohn gab, damit wer immer an ihn glaubte nicht zugrunde gehen, sondern ewiges Leben haben sollte (KJV, Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Die Bibel in Einfachem Englisch übersetzt am eindeutigsten so, wie die meisten Menschen diesen Vers verstehen:

Denn Gott liebte die Welt so sehr, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht der Vernichtung anheimfallen, sondern ewiges Leben haben sollte (Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Auf diese Weise überträgt die Bibel in Einfachem Englisch diesen Vers allerdings so, dass die grundsätzliche Stoßrichtung der Worte unseres Herrn verschleiert wird. Glücklicherweise stellt die NET-Bibel das richtig:

Denn so hat Gott die Welt geliebt: Er gab seinen einzigen Sohn, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde gehe, sondern ewiges Leben habe.

Die Anmerkung zur Übersetzung in einer früheren Version der NET-Bibel gab mir den richtigen Hinweis. Sie lautete schlicht: „Oder: auf diese Weise“162. Als ich dann anfing, den Gebrauch dieses Wortes (das in Johannes 3:16 mit „so“ übersetzt wird) in den Schriften des Johannes und im übrigen Neuen Testament zu untersuchen, wurde mir klar, dass ich das Wort in einer Weise verstanden hatte, die wohl nicht der Absicht des Johannes entsprach. Mit den beiden Worten „denn ... so“ wird eine Zweiwortkombination des griechischen Textes übersetzt, die im Neuen Testament neun Mal vorkommt163. An keiner dieser Stellen kann oder sollte diese Kombination im Sinne von „so sehr“ übersetzt werden, aber jede einzelne von ihnen kann – und sollte wohl auch – mit „auf diese Weise“ oder „das ist die Art, wie“ oder Ähnlichem übersetzt werden. Dies wird ersichtlich aus der Art, wie die NET-Bibel die anderen acht Stellen behandelt, an denen der Ausdruck aus Johannes 3:16 vorkommt:

„In Bethlehem in Judäa“, sagten sie, „denn so steht es durch den Propheten geschrieben“ (Matthäus 2:5; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Da erwiderte ihm Jesus: „Lass es diesmal geschehen, denn [so] es ist recht für uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.“ Da gab Johannes nach (Matthäus 3:15; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).164

Freut euch und seid fröhlich, weil euer Lohn groß ist im Himmel; denn ebenso verfolgten sie vor euch die Propheten (Matthäus 5:12; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Aber der Zauberer Elymas (denn so wird sein Name übersetzt) widerstand ihnen und trachtete den Prokonsul vom Glauben abzuwenden (Apostelgeschichte 13:8; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Denn so [dies] hat uns der Herr geboten: „Ich habe dich als ein Licht für die Heiden eingesetzt, damit du die Rettung bis an die äußersten Enden der Erde bringst“ (Apostelgeschichte 13:47; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Wir aber zogen weiter voraus zum Schiff und stachen in See nach Assos, wo wir Paulus an Bord zu nehmen beabsichtigten; denn so hatte er es gewollt. Er selbst hatte vor, über Land dorthin zu gehen (Apostelgeschichte 20:13; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Denn genau so haben sich auch in alten Zeiten die heiligen Frauen, die auf Gott hofften, geschmückt, indem sie sich ihren Männern unterwarfen (1. Petrus 3:5; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Denn so [oder: „Denn dadurch ...“] wird euch der Eingang in das ewige Königreich unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus reichlich dargereicht werden (2. Petrus 1:11; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Wenn also dieser Ausdruck im Neuen Testament durchgehend auf diese Weise gebraucht wird, sollten wir, glaube ich, auch Johannes 3:16 so verstehen, wie die NET-Bibel diesen Vers übersetzt.

Nun beachten Sie aber auch noch etwas anderes: Der Ausdruck „denn auf diese Weise“ weist zurück auf etwas, das zuvor schon gesagt worden ist. Er verbindet das, was gerade gesagt wird (oder gleich gesagt werden soll) mit dem, was zuvor gesagt worden ist. Um herauszufinden, was „dieselbe Weise“ ist, müssen wir zu dem zurückgehen, was schon gesagt wurde. Was geschehen wird – oder soll –, muss geschehen wie etwas, das schon geschehen ist. Das zeigt eine Betrachtung der acht vorhergehenden Verse.

Wir wollen diesen Aspekt nun auch bei Johannes 3:16 und dem, was diesem Vers vorausgeht, berücksichtigen und noch einmal zu Vers 14 zurückgehen:

14 Gerade so [auf dieselbe Weise]165, wie Moses die Schlange in der Wüste erhob, muss der Menschensohn erhoben werden, 15 damit jeder, der an ihn glaubt, ewiges Leben habe. 16 Denn so liebte Gott die Welt: Er gab seinen einzigen Sohn, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde gehe, sondern ewiges Leben habe. 17 Denn Gott sandte seinen Sohn nicht in die Welt, um die Welt zu verurteilen, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde (Hervorhebungen durch B. Deffinbaugh).

Jesus sagt Nikodemus, dass er von oben wiedergeboren werden müsse. Nikodemus ist überrascht und verwirrt über das, was Jesus sagt (3:4,9). Jesus tadelt Nikodemus freundlich dafür, dass er, ein berühmter Lehrer des alttestamentarischen Gesetzes, die Worte unseres Herrn als so neuartig und schwer zu verstehen empfindet (3:10). Und Er greift deshalb in Vers 14 auf das Alte Testament zurück, um Nikodemus näher zu erklären, was Er zuvor gesagt hat. Bei der Begebenheit, auf die Er zurückgreift, hob Moses in der Wüste eine Bronzeschlange empor und alle, die (im Glauben) zu ihr emporschauten, wurden gerettet. Auf dieselbe Weise, wie Moses die Schlange hochhob, muss auch der Menschensohn „emporgehoben“ werden. Der Menschensohn wird „emporgehoben“ werden, damit jeder, der an Ihn glaubt, ewiges Leben habe.

Die einleitenden Worte von Johannes 3:16, „Denn so liebte Gott die Welt ...“ nehmen den Gedanken aus Vers 14 und 15 wieder auf und führen ihn weiter. Beachten Sie die Wiederholung der Aussage „damit jeder, der an Ihn glaubt, ... ewiges Leben habe“ in Vers 15 und 16. Die Argumentation von Jesus (und Johannes) verläuft etwa so: „Wie man von oben wiedergeboren werden kann, Nikodemus? Nun, zunächst einmal kann niemand in den Himmel hinaufsteigen außer dem Einen, der zuvor vom Himmel herabgestiegen ist. Gottes Mittel zur Erlösung des Menschen ist also von oben gekommen. Auch die Geschichte von der Errettung der Israeliten in der Wüste spricht von einer Erlösung von oben. Moses erhob eine Bronzeschlange auf einer Stange und platzierte sie so, dass alle Israeliten sie sehen konnten. Jeder, der von einer Schlange gebissen wurde, konnte zu dieser Bronzeschlange „emporsehen“ und blieb daraufhin am Leben. Die Rettung, von der Ich spreche und über die du Mich befragst, kommt von oben; nicht nur dadurch, dass Gott sie durch Den bereitet hat, der vom Himmel herabgekommen ist, sondern auch, indem die Menschen zu Ihm emporschauen müssen, um zu leben.“

Die Errettung in der Wüste mittels einer Bronzeschlange war sozusagen ein Prototyp für Gottes Errettungswerk durch Jesus Christus. „Auf dieselbe Weise“, wie die Bronzeschlange auf einer Stange emporgehoben wurde, damit alle sie sehen konnten, muss der „Menschensohn“ „emporgehoben“ werden, damit alle, die Ihn im Glauben anschauen, ewiges Leben haben. „Denn auf diese Weise liebte Gott die Welt: Er gab seinen einzig gezeugten Sohn, damit alle, die an ihn glauben, nicht zugrunde gehen, sondern ewiges Leben haben.“ Gott gab Seinen einzig gezeugten Sohn, indem Er Ihn in diese Welt sandte, indem Er Ihn am Kreuz von Golgatha emporhob und indem Er Ihn aus dem Grab emporhob und über jeden Namen erhöhte.

Gottes Liebe zur Welt manifestierte sich in Jesus, in Dem, den die Pharisäer ablehnten, dessen Zeugnis (wie das des Johannes auch) nicht geglaubt wurde. Die Juden gingen fälschlicherweise davon aus, dass Gott sie liebte, weil sie Juden waren. Jetzt erfahren sie, dass Gott sie nur durch Christus liebt. Wenn sie Christus ablehnen, lehnen sie auch die Liebe ab, die der Vater ihnen in Christus erweist.

In Vers 16 steht Nikodemus noch ein weiterer Schock bevor. Dieser Vers sagt aus, dass sich Gottes Liebe auf die Welt erstreckt und dass es Gottes Absicht ist, Heiden ebenso wie Juden zu erretten. Das ging nun buchstäblich über das Verständnis vieler Juden – einschließlich der strenggläubigen Juden – hinaus. Der Prophet Jona beispielsweise konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die Bewohner von Ninive (die Heiden waren) gerettet werden sollten, und so tat er alles nur in seiner Macht stehende, um es doch noch so weit kommen zu lassen, dass die Stadt zerstört würde. Johannes und sein Bruder Jakobus wollten Feuer vom Himmel herabrufen und ein samaritisches Dorf „abfackeln“ (Lukas 9:52-56). Als Petrus in das Haus des Cornelius ging und das Evangelium vor den dort versammelten Heiden predigte, musste er anschließend vor den Kirchenführern in Jerusalem Rechenschaft darüber ablegen, warum er mit dem Evangelium zu den Heiden gegangen war (Apostelgeschichte 11:1-3). Petrus konnte die Kirchenführer davon überzeugen, dass das von Gott aus geschehen war, und sie bekannten, dass Gott offenbar auch unter den Heiden Menschen zur Erlösung bringt. Auch danach aber fuhren viele gläubige Juden fort, „die Botschaft zu niemandem als zu den Juden zu reden“ (Apostelgeschichte 11:19). Als Paulus vor einer feindselig eingestellten jüdischen Zuhörerschaft sprach, hörte man ihm geduldig zu – bis er sagte, dass Gott ihn dazu aufgerufen habe, das Evangelium zu den Heiden zu bringen – und dann gerieten die Zuhörer in Zorn (Apostelgeschichte 22:1-24; beachten Sie besonders Vers 21-22). Wenn Jesus (oder Johannes) sagte, dass Gott die Welt liebt, war das für einen strenggläubigen Juden etwas Revolutionäres, Schockierendes und sehr Irritierendes.

Ich möchte noch eine andere Lektion hervorheben, die wir aus Johannes 3:16 lernen können. Das Wort „liebte“ steht in der Vergangenheitsform. Das entsprechende griechische Wort steht in der Aoristform, die eine spezifische Handlung zu einem bestimmten Zeitpunkt anzeigt. Dieser Vers sagt also nicht: „Gott liebt (Gegenwart) die Welt.“ Der Grund dafür ist, meiner Meinung nach, dass dieser Vers so zu verstehen ist, dass Gott Seine Liebe zur Welt auf eine ganz bestimmte Art erwies. Er „liebte“ die Welt durch Seinen Sohn, Jesus Christus. Er „liebte“ die Welt, indem Er Seinen Sohn in die Welt sandte, damit Der als der Träger der Sünde „erhoben“ werden konnte.

Damit kommen wir zu einem neuen Element innerhalb des Johannes-Evangeliums, das in Vers 16 aufgenommen wird und das Nikodemus und seinen Kollegen erhebliche Schwierigkeiten bereitet haben muss. Dieses „neue“ Element ist die Vorstellung von der Hölle oder dem ewigen Gericht, das hier durch den Begriff „zugrunde gehen“ eingeführt wird. Als unser Herr zuvor von der Bronzeschlange gesprochen hat, ist dieses Thema in indirekter Form schon angeklungen. Es waren sterbende Menschen, die „gerettet“ wurden, indem sie zu der Bronzeschlange emporschauten. Sie waren dabei, „zugrunde zu gehen“, weil Gott sie aufgrund ihrer Sünde verurteilt hatte, und sie wussten das auch. Wenn sie nicht rasch im Glauben zu der Schlange aufsahen, würden sie zugrunde gehen. Jesus hat Nikodemus schon damit erschreckt, dass Er ihm sagte, er würde das Reich Gottes gar nicht erst sehen, wenn er nicht von oben wiedergeboren würde. Was Jesus dann in Vers 14-21 sagt, ist aber noch beunruhigender: In seinem gegenwärtigen Zustand ist Nikodemus nicht nur unfähig, in das Reich Gottes zu gelangen, sondern er ist im Gegenteil sogar dazu bestimmt, zugrunde zu gehen.

Inzwischen muss sich Nikodemus also wahrlich in einem Zustand völligen Schocks befinden. Er sagt nun gar nichts mehr, ja, es kann sein, dass er überhaupt schon gegangen ist. Vielleicht ist es Johannes, der hier die weiteren Details ergänzt und diese Worte nach Tod und Begräbnis und nach Auferstehung und Himmelfahrt unseres Herrn schreibt. Der Mann, der schon am Ziel zu sein glaubte, erfährt, dass er noch nicht einmal auf dem Weg in Richtung Himmel ist; er ist vielmehr sogar auf dem Weg zu ewiger Qual. Nikodemus ist als Mensch verurteilt und, spirituell gesehen, auf dem Pfad des Todes.

Dadurch, dass Gott Jesus in die Welt sandte, beabsichtigte Er nicht, die Welt zu verurteilen. Seine Absicht war es vielmehr, dass die Welt durch Jesus gerettet werden möge. Vielleicht fragt sich mancher, wie unser Herr (oder Johannes) dazu kommt, so etwas zu sagen – wenn man die folgenden Verse bedenkt, die weiter hinten im Johannes-Evangelium stehen:

26 „Denn so, wie der Vater in sich selbst Leben hat, so hat er auch dem Sohn gewährt, in sich selbst Leben zu haben, 27 und hat dem Sohn Vollmacht gegeben, Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist“ (Johannes 5:26-27).

„Von mir selbst aus kann ich gar nichts tun. So, wie ich höre, richte ich; und mein Urteil ist gerecht, weil ich nicht meinen eigenen Willen verfolge, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat“ (Johannes 5:30).

Und Jesus sprach: „Zum Gericht bin ich in diese Welt gekommen; damit die, die nicht sehen, sehend würden und die, die sehen, blind würden“ (Johannes 9:39).

Wir sehen, dass in Jesus Kapitel 5 des Johannes-Evangeliums über das Gericht spricht, das Er bei der Auferstehung der Toten ausüben wird (siehe Verse 25 und 28-29). Das Gericht, von dem in Johannes 9 die Rede ist, scheint im Wesentlichen dasselbe zu sein wie das in Vers 17-21 im 3. Kapitel des Johannes-Evangeliums. Jesus kam in die Welt als Ausdruck von Gottes Liebe zur Welt. Er kam, um die Sünder zu retten, die an Ihn glauben. Wer nicht Jesus Christus als Gottes alleinigen Weg zur Erlösung annimmt (siehe auch Johannes 14:6), weist Gottes Liebe zurück. Der Hauptzweck der ersten Herabkunft unseres Herrn lag darin, Gottes Liebe für die verlorenen Sünder zu manifestieren und einen Weg zur Erlösung zu bereiten; so wie die Bronzeschlange einen Weg zur Heilung darstellte für jeden, der zu ihr emporschaute und gerettet wurde.

Die in Kapitel 8 berichtete Episode von der beim Ehebruch gestellten Frau beleuchtet das Verhältnis zwischen der ersten Herabkunft Jesu und dem Gericht, das Er bei Seiner zweiten Herabkunft halten wird: Die Pharisäer und Schriftgelehrten brachten eine Frau zu Jesus, die auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt worden war (beachten Sie, dass sie den Mann nicht brachten). Sie wollten Jesus in Verlegenheit bringen und drängten Ihn buchstäblich dazu, diese Frau zu „richten“, also zu verurteilen. Nach dem Gesetz verdiente sie zu sterben; aber Jesus reagierte nicht so, wie es Seine Gegner erwarteten. Jesus stritt die Schuld der Frau nicht ab, aber Er zeigte ihren Anklägern, dass auch sie selbst schuldbeladene Sünder waren. Ihre Art der Sünde war vielleicht keine Unmoral, sondern Selbstgerechtigkeit und Stolz, aber auch sie waren nicht „ohne Sünde“. Keiner der Anwesenden war wirklich in der Lage, diese Frau zu verurteilen – außer Jesus. Der aber vergab ihr ihre Sünden, anstatt sie zu verurteilen. Ziel der ersten Herabkunft Jesu war es, eine Versöhnung für die Sünden der Menschen herbeizuführen. Jesus weigerte sich, die Frau zu verurteilen, weil Er gekommen war, um sie zu retten. Ja, Er war gekommen, um die Schuld und Strafe für ihre Sünden zu tragen, so dass ihre Sünden vergeben werden konnten.

Das Gericht ist ein Nebeneffekt der ersten Herabkunft unseres Herrn; bei Seiner zweiten Herabkunft wird es eine dramatischere Rolle einnehmen. Es sind die schuldbeladenen, der Verdammnis anheimgefallenen Sünder, für die Jesu Kommen einen Weg zur Erlösung bereiten soll (siehe Römer 3:9-18,23). Die aber das Erlösungsangebot in Jesus Christus ablehnen, weisen Gottes Liebe zurück und fallen umso größerer Verdammnis anheim, da sie das Licht gesehen, aber zurückgewiesen haben (siehe Johannes 9:35-41). Die Reaktion eines Menschen auf das Licht der Herabkunft unseres Herrn ist Hinweis auf seine moralische und geistliche Verfassung. Wer Wahrhaftigkeit lebt, fürchtet das Licht nicht, sondern heißt es willkommen, denn das Licht offenbart die Gerechtigkeit rechtschaffener Menschen. Die Ungerechten dagegen hassen das Licht, weil es ihre Sünden zum Vorschein bringt. Böse Menschen lehnen das Licht also ab, aber rechtschaffene Menschen heißen es willkommen. Damit zeigt die Reaktion eines Menschen auf das Licht seine moralische und geistliche Verfassung an. Das Licht verurteilt, indem es sowohl die Sünde bloßstellt als auch die Sünder, die das Licht ablehnen. In diesem Sinne hat unser Herr bei Seiner ersten Herabkunft die Sünde der Menschen passiv gerichtet (bloßgestellt). Bei Seiner Wiederkunft wird Er dann die Sünder aktiv richten.

Schlussfolgerungen

Dieser Text ist voller Wahrheiten und Anwendungsmöglichkeiten. Ich möchte Sie zum Schluss auf einige wichtige grundlegende Dinge hinweisen:

Erstens: Religiös sein ist nicht dasselbe wie Christ sein. Vor einiger Zeit wurde ein Buch über den Römerbrief veröffentlicht, das den Titel trug „Christ sein, ohne religiös zu sein“. In dem Buch wurde versucht zu zeigen, dass man Christ werden kann, ohne sich unbedingt „religiös“ zu benehmen. Ich glaube, man könnte auch sehr gut ein Buch schreiben mit dem Titel „Religiös sein, ohne Christ zu sein“. Das würde dann nicht nur auf Nikodemus zutreffen, sondern auf viele „religiöse“ Menschen von heute. Man könnte kaum „religiöser“ sein als Nikodemus, aber unser Herr macht es ganz deutlich, dass Nikodemus – so religiös er auch sein mag – noch kein Christ ist. Er muss noch von oben wiedergeboren werden.

Ich muss dich also fragen, mein Freund: Bist du Christ, oder bist du nur religiös? Wenn man die Worte unseres Herrn ernst nimmt, gibt es einen großen Unterschied zwischen jemandem, der religiös ist, und jemandem, der von oben wiedergeboren ist. Nikodemus war ebenso verloren wie die samaritische Frau am Brunnen (Johannes 4). Die Hölle wird nur so von Menschen bevölkert sein, die „religiös“ sind und für ihre Rettung auf ihre Religion statt auf Christus alleine vertraut haben. In der Hölle wird es viele geben, die auf ihre eigenen Werke vertraut haben, um in den Himmel zu kommen, statt auf Sein Werk – auf das Werk unseres Herrn Jesus Christus und auf das Kreuz von Golgatha. Er kam vom Himmel herab, und Er wurde an einem Kreuz emporgehoben, um so die Strafe für deine und für meine Sünden zu tragen. Er wurde von den Toten erweckt und zur Rechten Gottes erhöht. Er bietet uns Seine Gerechtigkeit und Sein eigenes Leben an. Wenn du auf ihn vertraust anstatt auf dich selbst, wirst du von oben wiedergeboren werden und sicher sein, dass du das Königreich Gottes sehen wirst.

Zweitens: Gottes Liebe zur Welt manifestiert sich in der Herabkunft und im Kreuzestod Jesu Christi. Auf diese Weise hat Gott die Welt „geliebt“ und es ist die einzige Weise, auf die man sich jetzt und in Ewigkeit der Liebe Gottes erfreuen kann. Wenn man Jesus Christus als Gottes Erlösungsweg für uns ablehnt, weist man damit Gottes Liebe zurück, verfällt der göttlichen Verdammnis und kann nur noch auf den Tag von Gottes ewigem Gericht warten. Viele Menschen suchen heutzutage Trost in der Behauptung, dass Gott sie liebt. Gott hat sie in Jesus Christus „geliebt“. Ihn abzulehnen bedeutet Seine Liebe zurückzuweisen. Es ist sowohl töricht als auch gefährlich, an einen „Gott der Liebe“ zu glauben, ohne sich dem Sohn Seiner Liebe, Jesus Christus, zu unterwerfen. Wie oft höre ich die Worte: „Nun ja, ich glaube an einen Gott der Liebe ...“, und dann geht es weiter damit, dass ein solcher Gott doch niemals irgendjemanden in der Hölle verdammen wird. Unser Text aber sagt uns genau das Gegenteil davon: Der Gott der Liebe, der Jesus Christus gesandt hat, um die Welt aus der Sünde zu erlösen, ist derselbe Gott, der Jesus Christus ein zweites Mal senden wird, um über die Sünden der Welt zu richten. Die zu Ihm um Rettung „emporgeschaut“ haben, „schauen“ nun wieder „empor“ und warten auf Seine Wiederkehr. Die Ihn abgelehnt haben, verstehen nicht, dass Er bei Seiner Wiederkunft als ihr Richter kommen wird. Welch ein Furcht erregender Gedanke! Welch eine gesegnete Errettung!

Ich hoffe und bete, dass Gott dir weder Ruhe noch Frieden geben wird, bis du nicht die Liebe Gottes in der Person und im Werk Jesu Christi erfahren hast.

16 Denn so liebte Gott die Welt: Er gab seinen einzigen Sohn, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde gehe, sondern ewiges Leben habe. 17 Denn Gott sandte seinen Sohn nicht in die Welt, um die Welt zu verurteilen, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde. 18 Wer an ihn glaubt, wird nicht verurteilt. Wer aber nicht glaubt, der ist schon verurteilt, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes geglaubt hat.


146 Ich habe diesen Text absichtlich so formatiert, dass Nikodemus’ Worte sich von denen unseres Herrn abheben. Beachten Sie, dass im Verlaufe des Gesprächs die Äußerungen von Nikodemus immer kürzer und die unseres Herrn immer länger werden. In Vers 16-21 habe ich den Schrifttyp gewechselt, um deutlich zu machen, dass es fraglich ist, um wessen Worte es sich hier handelt – um die von Johannes oder um die unseres Herrn.

147 Das traf, könnte man hinzufügen, auch für die Lehre von Johannes dem Täufer zu. Seine Lehren hatten etwas so Kraftvolles, dass selbst ein Mann wie Herodes davon angezogen und fasziniert wurde. Und dass, obwohl Johannes niemals irgendein Zeichen vollbrachte (Johannes 10:41).

148 Die Sadduzäer werden im Matthäus-Evangelium siebenmal und bei Markus und Lukas je einmal genannt; Johannes nennt sie nie beim Namen.

149 Ich will damit nicht sagen, dass die Priester oder die Anführer der Sadduzäer persönlich am Beginn der Tempelreinigung anwesend waren. Ganz sicher aber gelangten sie rechtzeitig dorthin, um unseren Herrn dann herauszufordern (siehe Johannes 2:18ff.).

150 Das „wir“ könnte auch die Juden im Allgemeinen einschließen.

151 „Das hier mit ‚von Neuem’ [in unserem Text mit ‚von oben’] wiedergegebene Wort könnte ebensogut mit ‚von oben’ übersetzt werden. Beide Bedeutungen sind richtig, und beide sollten wir nach Johannes wahrscheinlich hier annehmen (wie es auch Barclay tut; er erfasst mit seinem ‚Wenn ein Mensch nicht von oben wiedergeboren wird’ das Wesentliche aus beiden Sphären).“ Leon Morris, The Gospel According to John [Das Evangelium nach Johannes], (Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans Publishing Co., 1971), S. 212-213. Innerhalb des Johannes-Evangeliums kommt dieser Begriff, der beide Bedeutungen (‚von oben’ oder ‚von Neuem’) haben kann, dreimal in Johannes 3 (Vers3, 7 und 31) und noch zweimal an anderen Stellen (19:11, 23) vor. An den drei Stellen, die nichts mit Nikodemus zu tun haben, bedeutet der Ausdruck immer ‚von oben’.

152 Für die Juden im Allgemeinen und für Nikodemus im Besonderen galt: „Sehen ist Glauben“ (siehe Johannes 2:18,23, 3:2, 6:30). Jesus kehrte das um und sagte Nikodemus, dass „Glauben Sehen ist“.

153 Der Ausdruck ‚Wahrlich, wahrlich’ ist die Übersetzung des wiederholten griechischen Wortes amhn, das buchstäblich dem ‚Amen’ entspricht. Johannes gebraucht dieses Wort nur in der Verdopplung (‚Wahrlich, wahrlich’), und das 25 Mal in seinem Evangelium. Matthäus (31x), Markus (14x) und Lukas (6x) benutzen den Ausdruck in einfacher Form (‚Wahrlich’), niemals gedoppelt. Morris’ Aussage, die in dieser Serie schon einmal zitiert wurde, darf hier noch einmal wiederholt werden: „‚Wahrlich’ ist nicht die Übersetzung eines griechischen Wortes, sondern die Übertragung eines aramäischen (oder hebräischen) Wortes, nämlich Amen. Es ist dies das Partizip eines Verbs mit der Bedeutung ‚bestätigen’, und es wurde benutzt, um Zustimmung auszudrücken. Beispielsweise war (und ist) es die Antwort der Gemeinde auf das Gebet dessen, der den Gottesdienst anführt; und sie macht es auf diese Weise zu ihrem eigenen Gebet (1. Ko 14:16). Nur sehr selten ist es auch der Abschluss des eigenen Gebets (z.B. Tobit 8:7f.), wenn dieses den Charakter eines Wunsches hat. In dieser Form wird es aber wirklich selten gebraucht; üblicherweise ist es die Zustimmung zu etwas, was ein anderer gesagt hat. In den Evangelien wird es nur von Jesus alleine benutzt, und zwar immer als Vorsatz zu einer wichtigen Äußerung. Vermutlich geschieht dies, um eine solche Äußerung als tiefgründig und wahr und wichtig zu kennzeichnen. Dieser Gebrauch von Amen als Einleitung seiner eigenen Worte scheint nur Jesu eigen zu sein; es kann keine wirkliche jüdische Parallele dazu angeführt werden.“ Morris, S. 169.

154 Morris, S. 212.

155 Mir gefällt sehr gut, was L.S. Thornton dazu geschrieben hat: „’Die christliche Doktrin eines neuen Lebens steht im Gegensatz zu der zeitgenössischen jüdischen Erwartung einer neuen Welt. Im Neuen Testament überlappen sich diese beiden Doktrinen zweifellos; aber ihr Verhältnis zueinander wird sicher nicht unangemessen als das von Korn und Spelzen beschrieben.’“ Zitiert bei Morris, S. 209, Fn. 1.

156 Im Johannes-Evangelium kommt es oft vor, dass Menschen irrtümlicherweise Aussagen wörtlich nehmen, die geistlich oder symbolisch gemeint waren (siehe z.B. Johannes 2:18-22, 4:10-11, 6:48-65).

157 Es sollte noch gesagt werden, dass dasselbe griechische Wort (pneuma) im Neuen Testament sowohl mit „Wind“ (Johannes 3:8) als auch mit „Geist“ (Johannes 1:32-33, 3:5,6,8,34) übersetzt wird. In Johannes 3:8 kommt das Wort zweimal vor und wird das erste Mal mit „Wind“, das zweite Mal mit „Geist“ übersetzt.

158 Diese Lektion musste Simon der Zauberer auf schmerzliche Weise lernen (siehe Apostelgeschichte 8:9-24).

159 Im griechischen Text sind die ersten beiden Worte in Nikodemus’ Fragen in Vers 4 und 9 identisch (pw dunatai). Beide Fragen beziehen sich darauf, wie das möglich sein kann, was Jesus gerade gesagt hat. Die gleichen beiden Worte finden sich auch in Matthäus 12:29, Markus 3:23 und Johannes 6:52 und 9:16. In allen diesen Fällen geht es um Fragen der Logik. Marias Frage an Gabriel in Lukas 1:34 klingt ähnlich, unterscheidet sich aber, denke ich, wesentlich von den anderen. Sie fragt nicht danach, wie das sein kann, sondern wie das sein wird. Sie stellt nicht infrage, dass Gott in der Lage ist, ihr als Jungfrau ein Kind zu schenken, sondern sie fragt nur, auf welchen Wege das geschehen wird. Zacharias andererseits äußert seine Zweifel und fordert eine Bestätigung, wofür er dann gerügt wird (siehe Lukas 1:18-20).

160 Der Begriff „erhob“ (griechisch uywsen) hat doppelte Bedeutung. Er kann „hochheben“ im buchstäblichen Sinne bedeuten, aber auch „erhöhen“ (siehe beispielsweise Matthäus 11:23, 23:12; Apostelgeschichte 2:33). Unser Herr wurde am Kreuz buchstäblich „in die Höhe gehoben“, aber im gleichen Atemzug müssen wir sagen, dass Er durch dieses „Hochgehobenwerden“ „erhöht“ wurde, und auch das „Erhobenwerden“ durch die Auferstehung und Himmelfahrt war notwendige Folge Seines Kreuzestodes.

161 „Er legte Zeugnis über ‚irdische Dinge’ ab, aber man glaubte ihm nicht. Am einfachsten kann das so verstanden werden, dass es sich auf das soeben stattfindende Gespräch bezieht. Dieses fand auf der Erde statt und betraf einen Vorgang, dessen Auswirkungen auf der Erde erkennbar waren. Im Gegensatz dazu kann Jesus auch ‚himmlische Dinge’, also höhere Lehren kundtun. Wenn aber Menschen wie Nikodemus schon die einfachen Dinge nicht glauben, kann man nicht erwarten, dass sie Fortgeschritteneres glauben werden.“ Morris, S. 222.

162 Der neueste Text der NET-Bibelübersetzung wurde geändert, um die Bedeutung des Originaltextes von Johannes 3:16 präziser wiederzugeben.

163 Matthäus 2:5, 3:15, 5:12; Johannes 3:16; Apostelgeschichte 13:8,47, 20:13; 1. Petrus 3:5; 2. Petrus 1:11.

164 In diesem Fall gibt die NET-Bibel nicht den vollständigen Sinn des Ausdrucks wider, den ich in Klammern ergänzt habe. Die NASV dagegen erfasst den genauen Sinn: „Aber Jesus antwortete ihm und sprach: ‚Lass es diesmal zu; denn auf diese Weise geziemt es sich für uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen’“ (Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

165 Hier steht das gleiche griechische Wort, das in Vers 16 mit „so“ übersetzt wird. Es handelt sich aber nicht um die oben genannte Zweiwortkombination.

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9. Die Freude des Johannes und der Neid seiner Jünger (Johannes 3:22-36)

Einleitung

Wie viele von Ihnen auch habe ich die Olympischen Winterspiele im Fernsehen verfolgt. Am meisten interessierte mich das Eiskunstlaufen der Damen, insbesondere die Goldmedaille von Tara Lipinski – weil sie nun mal zufällig aus Texas stammt. Eine Reihe sehr guter und eher favorisierter Wettkampfteilnehmer waren schon vor Tara gelaufen, aber es war klar, dass sie eine Chance auf Gold hatte. Der Druck, der dadurch auf ihr lastete, machte ihren allerletzten Sprung nur umso aufregender. Ich werde niemals ihr Gesicht vergessen, als sie diesen Sprung fehlerlos geschafft hatte. Von einem Moment zum anderen leuchtete ihr Gesicht auf und ihr inzwischen berühmt gewordenes glückstrahlendes Lächeln brach daraus hervor. Sie war sicher, dass sie es geschafft hatte – und sie hatte es geschafft! In diesem Augenblick erfuhr Tara Lipinski das Glück, ihre Mission erfüllt zu haben, und ihre Freude darüber war vollkommen.

Irgendwie habe ich Johannes den Täufer nie als einen glücklichen Menschen betrachtet. Nach seinen ernsthaften Worten, muss ich zugeben, hielt ich Johannes eher für einen Griesgram, für so einen grimmigen, feindseligen Kerl, der gar nicht weiß, wie man lächelt. Einer meiner Freunde sagt immer: „Einem Wachhund fällt es eben schwer zu lächeln.“ Ich denke, ich habe Johannes immer als so einen „Wachhund“ betrachtet. Unser Text aber zwingt mich dazu, meine Meinung über Johannes den Täufer zu überdenken.

Manche Eltern in unserer Gemeinde bringen ihre Kinder mit in die Kirche, wenn sie meiner Predigt zuhören. Und manche dieser jungen Zuhörer zeichnen dann Cartoons für mich über das, was sie aus dem Schrifttext gelernt haben. Ich kann mir vorstellen, was mich von meinen jungen Künstlerfreunden am Ende dieser Ansprache erwartet: Ich werde ein Bild bekommen von Johannes dem Täufer mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht. Auf dem Bild werden auch seine Jünger sein – alle mit tief gerunzelter Stirn. Was Johannes überaus große Freude macht, bereitet seinen Jüngern große Sorge, ja sogar Ärger. Wie kann das sein? Was ist da schiefgegangen? Wir werden es bei unserer Betrachtung von Johannes 3:22-36 sehen.

Ist dieserText „am falschen Ort“?

Es ist kaum zu glauben, aber einige Wissenschaftler wollen uns weismachen, dass dieser Textabschnitt falsch platziert sei. Was Leon Morris zu diesem Thema zu sagen hat, gefällt mir:

Es wird oft gesagt, dass Vv. 22-30 nicht an ihrem richtigen Platz stehen. Manche sind dafür, sie hinter 2:12 zu stellen, andere hinter 3:36. Die Argumentation dreht sich im Allgemeinen darum, wie die Verse in den Zusammenhang passen, in dem wir sie vorfinden. Textverschiebungen werden an verschiedenen Stellen dieses Evangeliums vermutet, und zur Unterstützung solcher Theorien wurden mehr oder weniger plausible Argumente vorgebracht. Aber wir müssen immer daran denken, dass die Reihenfolge, die wir für die angemessene halten, nicht notwendigerweise auch die ist, die der Verfasser des Evangeliums annehmen würde. Und in jedem Fall ist es unsere erste Pflicht zu schauen, ob die betreffenden Verse dort in das Evangelium passen, wo sie traditionell stehen. ... Im Falle des vorliegenden Abschnitts bringt die Untersuchung wohl keine solch zwingenden Gründe zutage.166

Ich weise aus gutem Grunde auf diese Tatsache hin. Wer die Reihenfolge des Textes zu ändert sucht, weist sich doch sehr als ein „Sohn des Nikodemus“ aus. Nikodemus kommt als Autoritätsperson zu Jesus und kann doch Dessen Autorität einfach nicht akzeptieren. Er möchte, so scheint es, lieber Jesus seiner eigenen Theologie anpassen, als sich zu Füßen unseres Herrn niederzusetzen und eine neue Theologie zu empfangen. Wer sich selbst als einen Experten ansieht, ist weniger darauf aus zu lernen als zu lehren und zu verbessern. Wir tun besser daran, diesen Text so zu nehmen, wie er ist; und wir sollten uns lieber darum bemühen herauszufinden, was Johannes uns mit diesem Text, so wie er geschrieben steht, sagen will.

Wer spricht in diesem Textabschnitt?

Es besteht Uneinigkeit darüber, ob Johannes der Täufer oder Johannes der Apostel in Vers 31-36 spricht. Vor allem weil die darin enthaltenen Aussagen für den gegebenen Zeitpunkt zu fortgeschritten erscheinen, sind viele Menschen der Meinung, es müsse sich um Anmerkungen des Apostels Johannes handeln. Wie kann Johannes der Täufer zu einem solch frühen Zeitpunkt während des Dienstes Jesu schon diese Dinge wissen? Wir wollen uns aber daran erinnern, dass Johannes der Täufer ein Prophet ist. Seine Worte „Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg nimmt!“ (1:29) könnten genauso gut als zu fortgeschritten bezeichnet werden.

Die Gliederung des Textes

Unser Text lässt sich in vier Abschnitte einteilen: (1) Jesus tauft ebenfalls (Vers 22-24), (2) Johannes’ Jünger sind neidisch (Vers 25-26), (3) Johannes’ Glück (Vers 27-30) und (4) die Vorrangstellung unseres Erlösers (Vers31-36).

Es handelt sich um die letzten Worte von Johannes dem Täufer167 im Johannes-Evangelium. Sie passen zu diesem Menschen und machen ihm alle Ehre, und sie sind gleichzeitig sein abschließendes Zeugnis über Jesus als den Christus.

Neben Johannes tauft auch Jesus
(3:22-24)

22 Danach kam Jesus mit seinen Jüngern auf judäisches Gebiet, und dort verbrachte er die Zeit mit ihnen und taufte168. 23 Auch Johannes taufte in Änon in der Nähe von Salim, weil es dort reichlich Wasser gab, und die Menschen kamen dorthin und ließen sich taufen169. 24 (Denn Johannes war noch nicht ins Gefängnis geworfen worden.) (Hervorhebung durch B. Deffinbaugh)

Zuvor waren Jesus und Seine Jünger in der Stadt Jerusalem gewesen, wo Er den Tempel gereinigt (2:13-22), mehrere Wunderzeichen vollbracht (2:23) und mit Nikodemus gesprochen (3:1-21) hatte. Jetzt verlassen sie die Stadt Jerusalem und machen sich auf in ländliches Gebiet170. Dort „verbrachte“ Jesus „die Zeit mit“ Seinen Jüngern. Über diese vier Worte, „verbrachte die Zeit mit“, sollten wir einmal nachdenken, denn sie erinnern uns an einen sehr wichtigen Bestandteil der Jüngerschaft. Die Kirche ist – wie sie es ja auch sein sollte – sehr an Jüngerschaft interessiert. Jesus wird als Modell für das „Jünger-Betreuen“ angesehen, und das zu Recht. Trotzdem machen wir in unseren Programmen für Jünger selten das, was unser Herr eigentlich tat. Vielmehr legen wir die Betonung auf eine Art schulische Belehrung und häufig auf ein durchstrukturiertes Programm mit „Verantwortlichkeiten“ und anderen Kontrollmechanismen. So etwas ist vielleicht auch ganz löblich, aber ich kann doch über die Tatsache nicht hinwegsehen, dass Jesus mit Seinen Jüngern „die Zeit verbrachte“. Ein Jünger unseres Herrn sein bedeutete, „mit Ihm zusammen zu sein“:

13 Und Jesus ging hinauf auf den Berg und rief zu sich, die er wollte, und sie kamen zu ihm. 14 Er berief Zwölfe (die er Apostel nannte), damit sie bei ihm wären und er sie aussenden könnte, um zu predigen 15 und um Vollmacht zu haben, Dämonen auszutreiben (Markus 3:13-15; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh; siehe auch Matthäus 17:1, 26:37; Markus 5:37, 16:10; Lukas 7:11, 8:1, 9:10, 22:14; Johannes 15:27, 17:24; Apostelgeschichte 4:13).

Bei der Jüngerschaft geht es um das Zeugnis, die Verantwortlichkeit und eine Eins-zu-eins-Beziehung mit denen, die zum Glauben an Christus gelangen. Zuallererst und vor allem aber ist ein Jünger jemand, der die Zeit mit seinem Herrn zusammen verbringt. Wir professionellen Diener (die wir unseren Lebensunterhalt durch den Dienst verdienen) verwechseln oft den Zeitaufwand für die Vorbereitung unseres Dienstes mit der Zeit, die wir persönlich mit dem Herrn zusammen verbringen. Die Zeit, die wir mit dem Studium verbringen, sollte eine Zeit der Gemeinschaft und Vertrautheit mit dem Herrn sein, aber wir brauchen auch Zeit, die wir um Seinetwillen und um unserer selbst willen mit Ihm verbringen. Lassen Sie uns also die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass ein wesentlicher Teil des Umgangs unseres Herrn mit Seinen Jüngern einfach darin bestand, dass Er die Zeit mit ihnen zusammen verbrachte.

Auf dem Land in Judäa taufen die Jünger unseres Herrn die Menschen, die zu ihnen kommen. Zur selben Zeit taufen auch Johannes und seine Jünger171. Man sollte erwarten, dass die Taufe des Johannes immer noch das war, was sie immer gewesen war: Seine Taufe war eine Taufe der Reue in Vorbereitung auf das Kommen des Messias. Die Taufe unseres Herrn – oder, vielmehr, die Taufe, die die Jünger unseres Herrn in Seinem Namen durchführten, – entsprach im Wesentlichen der von Johannes172. Seine Jünger konnten nicht im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes taufen, da unser Herr ja noch nicht gekreuzigt und begraben worden und von den Toten auferstanden war.

In Vers 24 schiebt Johannes dann eine Erläuterung in Klammern ein: „(Denn Johannes war noch nicht ins Gefängnis geworfen worden.)“ Warum sollte der Apostel Johannes diese Feststellung für notwendig halten? In jedem der synoptischen Evangelien beginnt der öffentliche Dienst unseres Herrn nach der Verhaftung von Johannes dem Täufer:

14 Nachdem nun Johannes gefangen gesetzt worden war, ging Jesus nach Galiläa und verkündete das Evangelium Gottes. 15 Er sprach: „Die Zeit ist erfüllt und das Königreich Gottes ist nahe. Tut Buße und glaubt an die gute Botschaft!“ (Markus 1:14-15; siehe auch Matthäus 4:12f.)

Zu diesem späteren Zeitpunkt macht Jesus da weiter, wo Johannes aufgehört hat und verkündet buchstäblich dieselbe Botschaft wie Johannes. Nur im Johannes-Evangelium erfahren wir etwas über eine frühere Zeit, da beide, Johannes und Jesus, gleichzeitig ihren Dienst versahen und beide Gruppen (Johannes und seine Jünger wie auch Jesus und Seine Jünger) buchstäblich zur selben Zeit dasselbe taten (nämlich die Menschen tauften, die zu ihnen kamen).

Johannes möchte seine Leser wissen lassen, dass es diese einmalige, wenn auch sehr kurze, Zeit des gleichzeitigen Dienstes gab, denn sie bildet den Hintergrund für ein vermeintliches Problem, das sich aus dem erfolgreichen Dienst unseres Herrn zu diesem Zeitpunkt ergibt. In unserem Text nimmt, so vermute ich, der Apostel Johannes traurig Abschied von Johannes dem Täufer. Dieser wird später zwar noch erwähnt, doch hier lesen wir zum letzten Mal seine eigenen Worte. Unser Text passt zu diesem großen Menschen und macht ihm alle Ehre. Die Reaktion von Johannes dem Täufer an dieser Stelle ist beispielhaft für Demut und christliches Dienen. Lassen Sie uns also sehr sorgfältig hinhören – nicht nur auf seine Worte, sondern auch auf sein Herz.

Johannes’ Jünger sind irritiert
(3:25-26)

25 Nun kam es aber zu einem Streit zwischen den Jüngern des Johannes und einem Juden über die zeremonielle Waschung. 26 Daher kamen sie zu Johannes und sagten zu ihm: „Rabbi, der Mann, der bei dir war, auf der anderen Seite des Jordans, über den du Zeugnis abgelegt hast – sieh nur, er tauft und jeder geht zu ihm!“

Johannes berichtet uns von einem Wortgefecht zwischen Johannes’ Jüngern und „einem Juden“173, bei dem sie um die zeremonielle Waschung streiten. Wenn dieser Jude vielleicht Vorbehalte gegen die Botschaft und Taufe von Johannes hatte, ist es gut möglich, dass er die jüdischen zeremoniellen Waschungen für wichtiger hielt als die Taufe. Irgendwie scheint sich das Gespräch zu einem Vergleich zwischen Johannes’ und Jesu Taufe verdichtet zu haben. Jedenfalls scheint der Streit mit diesem Juden Johannes’ Jünger dazu veranlasst zu haben, mit ihren Bedenken bezüglich Jesus zu Johannes zu kommen.

Was bei diesem Streit eigentlich gesagt wurde, erfahren wir nicht. Erlauben Sie mir um der Veranschaulichung und Erklärung willen, ein mögliches Szenario zu entwerfen: Johannes’ Jünger treffen auf einen Juden und fragen ihn, ob er getauft werden möchte. Er erwidert, dass er daran kein Interesse hat; er ist davon überzeugt, dass die jüdischen zeremoniellen Waschungen wirkungsvoller sind. Die Jünger geben sich damit nicht zufrieden und beginnen mit ihm zu debattieren. Als der Jude merkt, dass er so nicht weiterkommt, „schlägt er dem Fass den Boden aus“ und sagt so etwas wie: „Wieso seid ihr überhaupt so dogmatisch? Wisst ihr nicht, dass Jesus genauso tauft wie ihr und dass zu Ihm viel mehr Leute gehen als zu euch? Da gebt es doch lieber gleich auf!“

Die Jünger kommen zurück zu Johannes und sind frustriert und empört, aber nicht über den Juden, sondern über Jesus. Sie sind irritiert darüber, dass Jesus und Seine Jünger erfolgreicher sind als sie selbst. Tatsächlich scheinen sie sogar über Johannes den Täufer selbst verärgert zu sein, darüber, dass er gar nichts unternommen hat, um diese Situation zu bereinigen. Hören Sie den Ärger und die Frustration in den Worten an ihren „Meister“:

„Rabbi, der Mann, der bei dir war, auf der anderen Seite des Jordans, über den du Zeugnis abgelegt hast – sieh nur, er tauft und jeder geht zu ihm!“

Die Worte der Jünger sind verräterisch. Achten Sie einmal darauf, wie die Jünger von Jesus sprechen. Sie nennen Ihn nicht mit Namen (Jesus) und bezeichnen Ihn auch nicht als den Messias, obwohl das genau die Art ist, in der Johannes von Ihm spricht. Sie nennen Jesus „der Mann, der bei dir war, ... der, über den du Zeugnis abgelegt hast“. Ich glaube, das tun sie, weil sie Jesus allmählich wirklich übelnehmen, wer Er ist. Sein Erfolg hat ja mit Seiner Identität zu tun. Wenn sie also auf Seinen Erfolg neidisch sind, sind sie auch über Seine Identität nicht so begeistert, wie sie es eigentlich sein sollten. Und sie wollen Jesus auch nicht so leidenschaftlich als den Messias anerkennen, wie es Johannes tut. Johannes bezieht sich auf Jesus, er verleiht Jesus Glaubhaftigkeit. Und, noch schlimmer aus ihrer Sicht, er legt Zeugnis ab über Jesus (beachten Sie, dass die Jünger nicht erwähnen, was Johannes bezeugt hat). Jetzt beklagen sie sich, dass „jeder zu ihm geht“.

Beachten Sie, wie sehr diese Worte denen der Pharisäer ähneln:

17 Und die Menge, die dabei gewesen war, als er Lazarus aus dem Grab gerufen und von den Toten auferweckt hatte, legte fortwährend über ihn Zeugnis ab. 18 Daher ging ihm auch das Volk entgegen, weil sie hörten, dass er dieses Wunderzeichen vollbracht hatte. 19 Da sagten die Pharisäer zueinander: „Seht ihr, ihr könnt gar nichts machen. Seht nur, alle Welt läuft ihm nach!“ (Johannes 12:17-19; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh)

Das erinnert auch an die folgenden Worte aus dem Buch Numeri:

26 Zwei Männer aber waren im Lager geblieben: der eine hieß Eldad, der andere Medad. Und der Geist ruhte auf ihnen. Sie gehörten zu denen, die aufgeschrieben worden, aber nicht zur Stiftshütte hinausgegangen waren; doch sie prophezeiten im Lager. 27 Und ein junger Mann lief hin und berichtete es Mose und sagte: „Eldad und Medad prophezeien im Lager.“ 28 Da antwortete Josua, der Sohn des Nun, der Moses Diener war, und sagte: „Mose, mein Herr, untersage ihnen das!“ 29 Da sagte Mose zu ihm: „Bist du eifersüchtig um meinetwillen? Ach, dass doch alle im Volk des Herrn Propheten wären und der Herr Seinen Geist auf sie legte!“ (Numeri 11:26-29, NKJV)

Damit man nicht auf die Idee kommt, dass Johannes’ Jünger eine Ausnahme dargestellt hätten, möchte ich hier doch die These aufstellen, dass ihre Denkart buchstäblich dieselbe war wie die der Jünger unseres Herrn. Die Jünger unseres Herrn eifern um Jesu Erfolg. Sie sehen es nicht gerne, wenn andere den gleichen Dienst verrichten wollen wie sie selbst (siehe Markus 9:38; Lukas 9:49). Sie fürchten den Gedanken an Misserfolg und Leiden (Matthäus 16:21-22). In den Evangelien sind Johannes’ Jünger und die Jünger unseres Herrn nur um ihrer selbst willen dabei – bis sie lernen, was es heißt, sein Kreuz auf sich zu nehmen. Deshalb sind Johannes’ Jünger entrüstet, dass Johannes es zu dieser Situation hat kommen lassen. Ihnen gefällt es nicht, dass Jesus jetzt genauso tauft wie sie, nur mit mehr Erfolg. Sie sehen für sich selbst und für ihren eigenen Dienstauftrag das Ende nahen. Dabei ist das ja genau das, was Gott beabsichtigt hat.

Daraus ergibt sich eine interessante Frage: Warum verlassen Johannes’ Jünger – die, die ihn hier plagen – Johannes nicht und folgen Jesus nach? Warum bleiben sie weiterhin bei Johannes? Was erwarten sie in Bezug auf die Zukunft? Johannes’ Dienstauftrag war es, den Messias einzuführen. Das hat er getan und seine Mission ist damit erfüllt. Johannes’ Jünger benehmen sich, als wäre Johannes selbst der Messias. Sie scheinen zu glauben, dass ihre Mission und ihr Dienst endlos weitergehen wird. Gemessen an den weitläufigen Auswirkungen von Johannes’ Lehren (z.B. Apostelgeschichte 19) haben sie vielleicht schon eine ganze Weile daran gearbeitet. Aber jetzt betrachten sie Jesus als Konkurrenz statt als die Kulmination ihres Dienstauftrages. Keiner dieser Männer scheint die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass er Johannes verlassen und sich Jesus anschließen könnte, so wie es die ersten beiden Jünger von Johannes getan haben174. Haben sie gemeinsame Sache mit Johannes gemacht, dass sie jetzt nicht sehen wollen, was auf ihn und auf sie selbst zukommt? Es scheint so. Kein schönes Bild, was der Apostel Johannes hier für uns entwirft – aber sicher ein lebensechtes.

In Anbetracht der Einstellung von Johannes’ Jüngern kann man verstehen, warum es notwendig war,dass Johannes gefangengesetzt und dann von Herodes enthauptet wurde. Aber selbst dann wundert man sich noch, wie lange Johannes’ Jünger brauchten, um aufzugeben und anzufangen, Christus zu predigen.

Das Herz eines Dienenden
(3:27-30)

27 Johannes erwiderte: „Kein Mensch erhält irgendetwas, was ihm nicht vom Himmel her gegeben wurde. 28 Ihr selbst seid Zeugen, dass ich gesagt habe: ‚Ich bin nicht der Christus’, und statt dessen: ‚Ich wurde vor ihm her gesandt’. 29 Wer die Braut hat, der ist der Bräutigam. Der Freund des Bräutigams aber, der daneben steht und ihm zuhört, freut sich sehr, wenn er die Stimme des Bräutigams hört. Und das ist meine Freude, die nun vollkommen geworden ist. 30 Er muss an Bedeutung zunehmen, während ich an Bedeutung abnehme.“

Wenn Johannes der Täufer ein Teamcoach wäre, wüsste ich genau, was er in dieser Situation zu „seinen Leuten“ sagen würde: „Leute, es ist an der Zeit, dass wir uns auf das Wesentliche besinnen.“ Ein Coach muss sein Team ständig „an das Wesentliche“ erinnern. Auch ein Prediger muss das (Römer 15:15; 1. Korinther 4:17; 2. Timotheus 1:6, 2:14; Titus 3:1; 2. Petrus 1:12; Judas 1:5). Und Johannes schickt sich ebenfalls an, das zu tun. In Vers 27 erinnert er seine Jünger daran, worum sein Dienst sich eigentlich im Wesentlichen dreht, und er erinnert sie auch an ihren eigenen Dienstauftrag.

Johannes’ Dienstauftrag ist ein Auftrag, den er von Gott erhalten hatte. Sein gottgegebener Dienst bestand nicht darin, der Messias zu sein, sondern den Messias einzuführen. Er war der Vorläufer und Jesus war die Erfüllung, das große Finale. Johannes veranschaulicht seine Aussage am Beispiel einer Heirat. Jesus ist der „Bräutigam“, Johannes ist der „Freund des Bräutigams“. Der „Freund des Bräutigams“ ist nicht verstimmt, wenn der „Bräutigam“ bei der Hochzeitsfeier erscheint, um seine Braut zu sich zu nehmen, sondern er ist in Hochstimmung. Die Aufgabe des Freundes besteht darin, die Braut und den Bräutigam zusammenzubringen. Wenn er die Stimme des Bräutigams hört, weiß der Freund, dass seine Aufgabe erfüllt ist, und er kann sich darüber freuen, dass er seine Mission vollendet hat. Er kann sich darüber freuen, dass die Braut und der Bräutigam nun als Ehepaar vereint sind175.

Vers 30 projiziert dieses Prinzip und diese Tatsache weiter in die Zunkunft. Johannes’ Jünger sind, so wie die Dinge im Moment liegen, unzufrieden. Aber Johannes sagt ihnen, dass es noch viel „schlimmer“ (aus ihrer Sicht der Dinge) kommen wird. Johannes sagt, sozusagen: „Wartet nur ab, es geht noch weiter. Wenn ihr glaubt, dass Jesu Erfolg schon an seinem Höhepunkt angelangt ist und dass meine Erniedrigung aufhört, dann irrt ihr euch.“ Wir sehen also noch ein weiteres Grundprinzip:

„Er muss an Bedeutung zunehmen, während ich an Bedeutung abnehme“176 (Vers 30).

Jesus muss die herausragende Stellung einnehmen, während Johannes allmählich aus dem Bild entschwindet. Ganz wesentlich ist das muss in Vers 30. Johannes zeigt hier tiefe Demut, das ist wahr, aber er sagt auch, dass es so, wie es kommen wird, kommen „muss“ – weil es so dem Plan und der Absicht des souveränen Gottes entspricht. In Vers 31-36 wird dann im Einzelnen aufgeführt, in welcher Hinsicht Jesus Vorrang vor Johannes hat.

Die Überlegenheit Christi
(3:31-36)

31 „Der177 von oben kommt, ist höher als alle. Der von der Erde ist, gehört zur Erde und spricht über irdische Dinge. Der vom Himmel kommt, ist höher als alle. 32 Er legt Zeugnis ab über das, was er gesehen und gehört hat, und niemand nimmt sein Zeugnis an. 33 Der aber sein Zeugnis angenommen hat, hat unzweifelhaft bestätigt, dass Gott wahrhaftig ist. 34 Denn der, den Gott gesandt hat, redet die Worte Gottes; denn er gibt den Geist nicht zurückhaltend. 35 Der Vater liebt den Sohn und hat alle Dinge seiner Autorität unterstellt. 36 Der an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben. Der den Sohn abweist, wird das Leben nicht sehen, sondern Gottes Zorn wird auf ihm bleiben (Hervorhebungen durch B. Deffinbaugh).

Johannes der Täufer geht hier daran, die Vorrangstellung von Jesus Christus zu belegen und zu zeigen, wie ungeheuer überlegen Christus ihm selber ist. Johannes hängt seine gesamte Argumentation an einigen wesentlichen Voraussetzungen auf. Erstens, so sagt uns Johannes, ist Jesus Christus ihm um Seiner Herkunft willen überlegen. Jesus ist „von oben“ gekommen, „vom Himmel“178. Jesus ist „von oben“, Johannes „von der Erde“.

Zweitens ist Jesus Johannes überlegen in Bezug auf das, worüber Er spricht. Da Jesus „von oben“ stammt, spricht Er von den „himmlischen Dingen“, die Er im Himmel gesehen und gehört hat. Johannes stammt „von der Erde“ und spricht daher über „irdische Dinge“ 179. Es klingt respektlos, aber es gibt eine Redensart, die da lautet: „I got this right from the horse’s mouth“ [wörtlich: „ich habe das direkt aus dem Mund des Pferdes gehört“; im übertragenen Sinne: „ich habe das aus erster Hand“; Anm. d. Ü.]. Das ist es, was Johannes in Bezug auf Jesus und Seine Worte sagt. Gleichzeitig macht Johannes allerdings auf die erstaunliche Tatsache aufmerksam, dass Jesus zwar göttliche Wahrheiten redet, aber „niemand sein Zeugnis annimmt“ (Vers 32).

Drittens spricht Jesus als Der, der den Geist Gottes in reichstem Maße besitzt. Jesus ist voll autorisiert, für Gott zu sprechen, ja, Jesus spricht sogar als Gott. Er alleine hat den Geist in unbegrenztem Maße. Er ist Derjenige, der durch den Heiligen Geist ermächtigt spricht. Sie erinnern sich vielleicht, dass es genau das war, wodurch Sich Jesus von allen anderen im Lande abhob. Der Messias würde Derjenige sein, „auf den er den Geist herabkommen und auf ihm bleiben sähe“ (Johannes 1:33-34). Nicht Johannes sollte im Rampenlicht stehen, sondern Jesus. Niemand weiß das besser als Johannes selbst, und so sagt er es auch seinen Jüngern.

Viertens wird Jesus in einmaliger Weise von Seinem Vater im Himmel geliebt und Ihm wurde die ganze Autorität des Vaters verliehen (Vers 35). Der Vater liebt den Sohn, und alle Dinge sind Seiner Autorität unterworfen worden. Höher als das kann man einfach nicht aufsteigen. Wer ist denn schon Johannes im Vergleich zu dem Sohn? Warum sollten seine Jünger ihn gegen Jesus verteidigen wollen, wenn er doch Dessen Diener ist?

Und schließlich ist Jesus Derjenige, auf dem das Schicksal jedes einzelnen Menschen ruht. Jesus ist der Schlüssel zu unserem Schicksal. Die Antwort auf eine einzige Frage entscheidet darüber, wo wir die Ewigkeit verbringen werden: „Wer ist Jesus Christus, und was hast du mit Seinem Anspruch angefangen, dass Er Gottes einzigen Weg zu deiner Erlösung darstellt?“ Wer Sein Zeugnis akzeptiert, erklärt damit, dass „Gott wahrhaftig ist“ (Vers 33). Die Worte unseres Herrn aber anzufechten, der doch für den Vater spricht, bedeutet, Gott der Lüge zu bezichtigen. An den Sohn zu glauben heißt, ewiges Leben zu haben. Wer aber den Sohn zurückweist, wird das Leben nicht sehen, ja, Gottes Zorn wird auf ihm bleiben (Vers 36).

Schlussfolgerung

Die wichtigste Frage, die ein Mensch stellen und beantworten kann, ist: „Wer ist Jesus Christus?“ Die Antwort darauf ist der Schlüssel zu allem. Sie ist der Schlüssel zum ewigen Schicksal eines Menschen. Sie ist der Schlüssel zum Auftrag und Dienst eines Menschen. Sie ist der Schlüssel zum Evangelium selbst. Ist es also verwunderlich, dass die Wahrheiten, die Johannes der Täufer hier aussagt, dieselben sind, die auch der Apostel Johannes in seinem Evangelium hervorhebt? Ist es verwunderlich, dass es eben diese Wahrheiten sind, die von ungläubigen „Wissenschaftlern“ am meisten angefochten werden?

Der Anspruch, den Jesus erhebt, den Johannes der Täufer hier bestätigt und den zu verkünden das Johannes-Evangeliumg geschrieben wurde, findet sich überall, wohin man auch sieht, im Neuen Testament. Nirgendwo in der Bibel ist aber wohl die Stoßrichtung unseres Textes deutlicher ausgedrückt als im Hebräerbrief:

1 Nachdem Gott zu unseren Vorfahren vor langer Zeit in verschiedenen Teilen und verschiedenen Arten durch die Propheten sprach, 2 hat er nun zu uns in diesen letzten Tagen in einem Sohn gesprochen, den er zum Erben aller Dinge eingesetzt hat und durch den er die Welt erschaffen hat. 3 Der Sohn ist der Glanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens und erhält alle Dinge durch sein mächtiges Wort. Und so setzte er sich zur Rechten des Erhabenen in der Höhe, nachdem er die Reinigung von den Sünden vollbracht hatte, 4 und wurde um so viel besser als die Engel, als er einen Namen geerbt hat, der vorzüglicher ist als der ihre.

5 Denn zu welchem der Engel hat Gott je gesagt: „Du bist mein Sohn! Heute bin ich dein Vater geworden“? Und an anderer Stelle spricht er: „Ich werde sein Vater sein, und er wird mein Sohn sein.“ 6 Und wiederum, wenn er seinen Erstgeborenen in die Welt bringt, spricht er: „Alle Engel Gottes sollen ihn anbeten.“ 7 Und von den Engeln sagt er: „Er macht seine Engel zu Geistern und seine Diener zu einer Feuerflamme“, 8 aber von dem Sohn:

„Dein Thron, o Gott, ist für alle Zeit,
ein gerechtes Szepter ist das Szepter deines Königreichs.

9 Du hast Gerechtigkeit geliebt und Gesetzlosigkeit gehasst. Darum hat dich Gott, dein Gott, mit dem Öl der Freude gesalbt über deine Gefährten.“

10 Und:

„Du, Herr, hast im Anfang die Erde begründet, und die Himmel sind das Werk deiner Hände.
11 Sie werden vergehen, du aber wirst bleiben.
Und sie alle werden alt werden wie ein Kleidungsstück,

12 und wie ein Kleid wirst du sie zusammenfalten,
und wie ein Kleidungsstück werden sie gewechselt werden;
du aber bleibst derselbe und deine Zeit wird nie ablaufen.“

13 Zu welchem der Engel aber hat er je gesagt: „Setze dich zu meiner Rechten, bis dass ich deine Feinde als Schemel unter deine Füße lege.“ 14 Sind sie nicht alle dienstbare Geister, ausgesandt, denen zu dienen, die die Erlösung erben werden?

1 Darum müssen wir den Dingen, die wir gehört haben, umso mehr Aufmerksamkeit schenken, damit wir nicht abgleiten. 2 Denn wenn sich die von den Engeln gesprochene Botschaft als so unumstößlich erwies, dass jeder Verstoß oder Ungehorsam dagegen seine gerechte Strafe empfing, 3 wie wollen wir dann entrinnen, wenn wir eine solch großartige Errettung missachten? Sie wurde zuerst mitgeteilt durch den Herrn und uns dann von denen bestätigt, die ihn gehört haben, 4 wobei Gott ihr Zeugnis mit Zeichen und Wundern bestätigte und mit mancherlei Wundern und Gaben des Heiligen Geistes nach seinem Willen (Hebräer 1:1-2:4).

Glaubst du, was Johannes der Täufer über unseren Herrn gesagt hat? Wenn Jesus Christus Der ist, den die alten Propheten prophezeiten, wenn Er Der ist, der Er Selbst behauptete zu sein und für den die Apostel ihr Leben hingaben, um zu bekennen, wer Er ist – was hast du dann in Seinem Sinne getan? Er beansprucht nicht nur, von Gott gekommen zu sein, sondern auch, Gott zu sein. Er beansprucht, gesandt worden zu sein, um die Strafe für unsere Sünden zu tragen. Er beansprucht, der einzige Weg zu sein, auf dem man in den Himmel kommen kann. Hast du deine Sündigkeit schon bekannt und das Geschenk der Sündenvergebung und die Gewissheit ewigen Lebens durch Ihn empfangen? Wenn nicht, dann bitte ich dich dringend, noch einmal darüber nachzudenken, wer Jesus Christus ist. Wenn ja, dann bitte ich dich dringend, immerzu daran zu denken, wer Er ist. Das ist es, was den Dienst und die Denkart von Johannes formte – und das ist es, was seine Jünger nicht begriffen.

Wenn ich diesen Text lese, beeindruckt mich Johannes’ Freude wie auch der Neid seiner Jünger. Johannes’ Freude kommt daher, dass er Jesus Christus kennt – und dass er sein Verhältnis zu Ihm richtig beurteilt. Johannes verstand, dass sein Dienst, der Moment, da er im Rampenlicht stand, und auch seine abnehmende Berühmtheit allesamt Teil von Gottes souveränem Plan und Absicht waren. Johannes’ Anliegen war es, Christus groß zu machen, und nicht für sich selbst, seinen Dienst oder seine Jünger Werbung zu machen. In diesem Anliegen fand Johannes seine große Freude. Er ging selbst auf im Dienst für Ihn, der der Größte von allen ist. Ob durch sein Leben oder durch seinen Tod – sein Auftrag war es, Christus zu erhöhen. In dieser Hinsicht klingt Johannes der Täufer genau wie der Apostel Paulus (in Philipper 1) und all die anderen Apostel.

Im Gegensatz zu Johannes und seiner Freude sehen wir die Eifersucht und Frustration seiner Jünger. Wie ist das zu erklären? Was ist hier schiefgelaufen? Ich möchte gleich zu Anfang einmal sagen, dass genau diese „Säuerlichkeit“ viele Christen und deren Dienst für den Herrn auszuzeichnen scheint. Wie schnell und wie leicht verlieren wir Christi Vorrangstellung aus den Augen und beginnen, nur an unsere eigene Stellung und unser eigenes Vergnügen zu denken. Ist es nicht genau das, was auch die Jünger unseres Herrn auszeichnet? Sind sie nicht nur deshalb daran interessiert, Werbung für Christus zu machen, damit es ihnen gemeinsam mit Ihm gut geht? Ist das nicht auch der Grund für ihre heftigen Reaktionen, wenn Er über Sein eigenes Zurückgewiesenwerden, Sein Leiden und Seinen Tod spricht? Sie dienen Gott aus eigennützigen Gründen.

Allzu oft höre ich Christen über ihren Dienst in Begriffen wie „Erfolg“ sprechen, und das ist problematisch. Auch ist zu oft von „Selbstverwirklichung“ die Rede. Ist das etwa, was uns zu unserem Dienst motiviert? Ein Freund schickte mir diese Woche eine E-mail, die sich direkt auf unseren Text und auf das, was wir daraus lernen können, zu beziehen scheint:

Lieber Bob, ich habe gerade deinen obigen Entwurf und Kommentar fertig gelesen. Wäre ja liebend gerne als Zuhörer dabei gewesen und wollte dir nur schnell etwas weitergeben, was du wahrscheinlich schon gelesen hast, von Enoch Coppin aus Neuseeland. Auf Seite 5 in seinem kleinen Buch The Any-Moment Coming of Christ [Christus kommt jeden Moment] steht die Aussage: „Die Hoffnung der Kirche ist der Bräutigam; aus dem einfachen Grunde, dass die Kirche die Braut Christi ist. Die Kirche als Ganzes hat eine Hoffnung, und die einzelnen Jünger, die die Kirche bilden, haben eine andere. So kommt die Zeit, da die Erscheinung Christi stattfinden wird; und ich persönlich muss sagen, dass der größte Wunsch, den ein Christ heutzutage haben kann, nicht seine eigene Genugtuung ist, wenn er aus der Welt herausgenommen wird – wie es ihm sicherlich geschehen wird, sofern er zu diesem Zeitpunkt am Leben ist –, sondern dass sein Meister, dem er alles Gegenwärtige und alles Ewige verdankt, der von einer Welt voller Sünder abgelehnt worden ist, der gekreuzigt und der Schande am grausamen Kreuz von Golgatha ausgesetzt wurde, schließlich vor der Welt gerechtfertigt werden wird. So wird es sein am Tage der Manifestation, denn das ist es, was geschehen wird, wenn Er so kommt, wie Er ja manifestiert werden wird (2. Thess. 2:10), und darin liegt die wahre Hoffnung der Jünger selbst in unserem Zeitalter.“ Ich denke, das ist ein wichtiger Punkt, den viele Gläubige heutzutage übersehen. Die meisten sprechen über die Wiederkunft Christi und wie schön es sein wird, wenn all die Leiden vorbei sind, und sie vergessen dabei, dass Gott eine Absicht hat: Seinen Sohn Jesus Christus zu verherrlichen. Mir geht es selber so, dass ich mir manchmal aus reinem Egoismus wünsche, es wäre alles vorbei und ich lebte in der ewigen Freude des reinen Königreiches180.

Ist das vielleicht der Grund dafür, dass Ihre und meine Freude nicht die von Johannes dem Täufer ist? Dienen wir unserem Herrn aus Eigennutz? Jesus ruft uns auf, „unser Kreuz auf uns zu nehmen“. Gott zu dienen, dient unserem eigenen Interesse; aber wenn wir die Verherrlichung Christi übelnehmen, weil sie auf unsere Kosten und zu unseren Lasten zu gehen scheint, dann sind wir schon genauso geworden wie Johannes’ Jünger. Wenn das der Fall ist, sollten wir unsere Sünden bereuen und Gott darum bitten, dass Er in uns die Freude über unsere Erlösung wiederherstellt.

12 Ich möchte euch wissen lassen, Brüder und Schwestern, dass meine Lage jetzt tatsächlich zur Förderung des Evangeliums ausschlägt. 13 Denn die gesamte kaiserliche Wache und alle anderen auch haben erfahren, dass ich um Christi willen im Gefängnis bin; 14 und sehr viele Brüder, die wegen meiner Gefangenschaft Zuversicht im Herrn gewonnen haben, wagen nun furchtloser als je zuvor das Wort zu reden. 15 Einige predigen Christus zwar auch aus Neid und Rivalität heraus, andere aber aus gutem Willen. 16 Die Letzteren tun es aus Liebe, weil sie wissen, dass ich zur Verteidigung des Evangeliums hierhergestellt worden bin. 17 Die Ersteren dagegen verkünden Christus aus eigennützigen Bestrebungen heraus und nicht aufrichtig, denn sie denken, dass sie mir in meiner Gefangenschaft damit Schwierigkeiten bereiten könnten. 18 Was ist die Folge davon? Doch nur, dass auf jede Weise, sei es zum Vorwand oder in Wahrheit, Christus verkündet wird, und darüber freue ich mich. Ja, und ich werde mich auch weiterhin freuen, 19 denn ich weiß, dass dies zu meiner Rettung ausschlagen wird durch eure Gebete und durch den Beistand des Geistes Jesu Christi. 20 Es ist meine Hoffnung und Zuversicht, dass ich in keiner Weise in Schande geraten werde, sondern dass mit vollkommenem Freimut selbst jetzt, wie allezeit, Christus in meinem Leib verherrlicht werde, sei es durch Leben oder durch Tod. 21 Denn Leben bedeutet für mich Christus und Sterben Gewinn. 22 Wenn ich nun weiterhin im Leibe leben soll, so wird das fruchtbare Arbeit für mich bedeuten; und doch weiß ich nicht, was mir lieber ist: 23 Ich fühle mich hin- und hergerissen zwischen beidem; denn ich sehne mich danach zu verscheiden und bei Christus zu sein, was bei Weitem das Bessere ist, 24 doch um euretwillen ist es nötiger, dass ich im Leibe bleibe. 25 Und da ich mir dessen sicher bin, weiß ich, dass ich bei und mit euch allen bleiben und ausharren werde, zu eurem Fortschritt und eurer Freude im Glauben, 26 damit euer Rühmen in Christus Jesus meinetwegen und weil ich zu euch zurückkehre, überquellen möge (Philipper 1:12-26).


166 Leon Morris, The Gospel According to John [Das Evangelium nach Johannes], (Grand Rapids: Wm.B. Eerdmans Publishing Co., 1971), S. 235-236.

167 Johannes der Täufer wird später (5:33, 10:40-41) zwar noch erwähnt, aber im Wesentlichen verabschiedet er sich an dieser Stelle. Das Johannes-Evangelium gibt uns weder einen Bericht über seinen Tod (siehe Matthäus 14:1-12; Markus 6:14-29; Lukas 9:9) noch über seine Zweifel (siehe Matthäus 11:2-6; Lukas 7:18-23).

168 Es handelt sich hier um die erste und einzige Erwähnung der Tatsache, dass unser Herr oder Seine Jünger tauften.

169 „Die Zeitform der letzteren beiden Verben ist fortlaufend, was man mit ‚kamen ständig und ließen sich taufen’ wiedergeben könnte.“ Morris, S. 237.

170 Jesus scheint sich hier für mehrere Monate niedergelassen zu haben. Hendriksen vertritt die Theorie, dass unser Herr von Mai bis Dezember 27 n.Chr. dort blieb. William Hendriksen, Exposition of the Gospel According to John [Entwurf des Evangeliums nach Johannes], 2 Bd. (Grand Rapids: Baker Book House, 1953-1954), Bd. 1, S. 146.

171 Es ist nicht bekannt, wo genau Änon lag und wo Jesus taufte.

172 Morris schreibt: „In keinem anderen Evangelium als in diesem lesen wir davon, dass Jesus getauft hat; und in 4:2 erfahren wir, dass der eigentliche Taufakt von den Jüngern durchgeführt wurde und nicht von Jesus persönlich. Man kann sich das schwerlich als eine christliche Taufe im späteren Sinne vorstellen. Eher war es wahrscheinlich die Fortsetzung der ‚Taufe der Reue’, wie sie für Johannes den Täufer charakteristisch war.“ Morris, S. 237.

173 In manchen Manuskripten steht hier der Plural. Aber es spielt wohl wirklich keine Rolle, ob mit einem Juden oder mit mehreren gestritten wurde.

174 Wenn der Apostel Johannes der zweite Jünger von Johannes dem Täufer war, der Jesus nachfolgte – stellen Sie sich vor, wie er sich dann gefühlt haben muss, als er diesen Bericht schrieb und ihm bewusst wurde, dass er das selbst hätte sein können und dass es seine früheren Kameraden waren, deren selbstsüchtige Einstellung er hier entlarvte.

175 Es ist eindeutig möglich und kaum auszuschließen, dass das Johannes-Evangelium hier eine doppelte Bedeutung hat, insofern als ja Israel als die „Braut“ Gottes dargestellt wird (Jesaja 62:4-5; Jeremia 2:2; Hosea 2:19; Hesekiel 16; Malachi 2:11. Siehe auch Matthäus 22:1ff., 25:1ff.; Epheser 5:32; 2. Korinther 11:2; Offenbarung 19, 21:2,9, 22:17.).

176 Ich würde vielleicht stattdessen eher sagen: „Er muss berühmter werden, und ich weniger berühmt.“

177 Beachten Sie, wie Johannes hier den Ausdruck „Der...“ gebraucht. Zuerst benutzt er ihn, um Jesus und Johannes einander gegenüber zu stellen. Dann gebraucht er ihn, um diejenigen, die an Jesus glauben, denen gegenüber zu stellen, die das nicht tun.

178 „Ungefähr vierzig Mal wird im Evangelium durch Johannes von Christus gesagt, dass er vom Himmel gesandt wurde oder dass er zum Himmel zurückkehre.“ John G. Mitchell, mit Dick Bohrer, An Everlasting Love: A Devotional Study of the Gospel of John [Eine Liebe für immer: Eine andächtige Studie über das Johannes-Evangelium], (Portland: Multnomah Press, 1982), S. 63.

179 In Johannes 3:12 beansprucht Jesus die Fähigkeit, sowohl über „irdische Dinge“ als auch über „himmlische Dinge“ zu sprechen. Johannes beansprucht nur die Fähigkeit, über „irdische Dinge“ zu reden.

180 Diese E-mail kam von meinem Freund Dick Plowman. Dick und seine Frau Beth waren Mitglieder unserer Gemeinde, bevor sie nach Waco, Texas, zogen. Dick und ich versahen zusammen den Predigtdienst im Gefängnis, was er jetzt auch weiterhin im Rahmen der Bill Glass Ministries tut.

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10. Die Frau am Brunnen (Johannes 4:1-42)

Einleitung

Dies ist das Protokoll eines Funkgesprächs, das tatsächlich im Oktober 1995 vor der Küste von Neufundland zwischen einem US Marineschiff und kanadischen Behörden stattgefunden hat. Funkgespräch veröffentlicht vom Chief of Naval Operations [ranghöchster Offizier der US-Marine; Anm. d. Ü.] am 10.10.1995:

Amerikaner: Bitte zur Vermeidung einer Kollision Kurs um 15 Grad nach Norden ändern.

Kanadier: Empfehle, Sie ändern ihren Kurs um 15 Grad nach Süden zur Vermeidung einer Kollision.

Amerikaner: Hier spricht der Kapitän eines US-Marineschiffes. Ich sage Ihnen nochmals: Ändern Sie ihren Kurs.

Kanadier: Nein. Ich sage Ihnen nochmals: Sie ändern ihren Kurs.

Amerikaner: HIER SPRICHT DER FLUGZEUGTRÄGER USS LINCOLN, DAS ZWEITGRÖSSTE SCHIFF DER US-AMERIKANISCHEN ATLANTIKFLOTTE. WIR SIND IN BEGLEITUNG VON DREI ZERSTÖRERN, DREI KREUZERN UND ZAHLREICHEN UNTERSTÜTZUNGSSCHIFFEN. ICH FORDERE SIE AUF: ÄNDERN SIE IHREN KURS 15 GRAD NORD, ICH WIEDERHOLE: EINS-FÜNF GRAD NORD, ODER WIR WERDEN GEGENMASSNAHMEN ERGREIFEN, UM DIE SICHERHEIT DIESES SCHIFFES ZU GEWÄHRLEISTEN:

Kanadier: Hier spricht ein Leuchtturm. Ich höre?“ 181

Wer man zu sein glaubt, ist schon wichtig; aber noch wichtiger ist es, wer man wirklich ist. Ab und zu neigen wir dazu, uns etwas zu überschätzen ... Was sage ich: Wir überschätzen uns ständig. Und ab und zu kommt dann irgendjemand daher und bringt uns auf den Boden der Tatsachen zurück. Der Kapitän der USS Lincoln dachte, er wäre so wichtig, dass er von einer kanadische Besatzung eine Kursänderung zur Vermeidung eines Zusammenstoßes fordern könnte. Als er schließlich erfuhr, dass die „kanadische Besatzung“ ein Leuchtturmwärter war, kamen die Dinge wieder ins Lot und die amerikanischen Schiffe änderten ihren Kurs.

Diese Geschichte erinnert mich sehr an das, was in den Evangelien abläuft und was im dritten und vierten Kapitel des Johannes-Evangeliums besonders deutlich wird. Nikodemus ähnelt etwas dem Kapitän des amerikanischen Schiffes. Er ist ein bisschen zu sehr eingenommen von sich selbst, von seiner Position als Jude, als Pharisäer, als Mitglied des Sanhedrin und als berühmter Lehrer des Alttestamentarischen Gesetzes. Es kommt im dritten Kapitel des Johannes-Evangeliums also zu einer Art Konfrontation: Nikodemus ist bereit anzuerkennen, dass Jesus „als Lehrer von Gott gekommen“ ist (3:2); doch er bringt es nicht ganz fertig, ausdrücklich zu sagen, dass Jesus ein Prophet ist. Als Jesus dann ihm sagt, dass er so, wie er ist – ohne von oben wiedergeboren zu werden –, nicht in das Reich Gottes gelangen wird, will Nikodemus wohl eher Jesus dazu bringen, Seinen Kurs zu ändern, als dass er seinen eigenen Kurs ändern würde. Nikodemus stellt zwar Fragen, doch er zeigt – zumindest in diesem Moment – kaum Fortschritte in Richtung auf einen echten Glauben. Seine Fragen lassen nicht darauf schließen, dass er bereit wäre, seine Denkweise zu ändern, sondern vielmehr darauf, dass ihm das widerstrebt, was Jesus sagt.

Im vierten Kapitel des Johannes-Evangeliums tauchen dieselben grundsätzlichen Themen wieder auf, die schon in Kapitel 3 angesprochen wurden. Die „Frau am Brunnen“ ist Samariterin, und die Samariter haben ihre eigene, ganz besondere Religion – einen korrumpierten jüdischen Glauben182. Wenn die Frau am Brunnen zu einem erlösenden Glauben gelangen will, muss sie ihren Kurs ändern, gerade so, wie es Jesus auch von Nikodemus gefordert hatte. Sowohl Nikodemus als auch die Frau am Brunnen müssen sich entscheiden, was sie aus dem machen, was Jesus ihnen sagt. Letztendlich beruht diese Entscheidung auf ihrer Einschätzung dessen, wer Jesus wirklich ist. Für Nikodemus ist Jesus ein „inspirierender“, vielleicht sogar ein „inspirierter“ Lehrer. Die Frau am Brunnen dagegen sieht in Jesus mit der Zeit viel mehr als das, wie wir bald sehen werden.

Die meisten Christen glauben diese wunderbare Geschichte gut zu kennen und zu verstehen. Wir wollen uns ihr hier noch einmal zuwenden und sie so betrachten, als wäre es das erste Mal. Wir wollen versuchen zu lernen, was den Unterschied zwischen einem „Nikodemus“ und einer „Frau am Brunnen“ ausmacht.

Jesus zieht sich nach Galiläa zurück
(4:1-3)

1 Als nun Jesus erfuhr, dass die Pharisäer gehört hatten, dass er mehr Menschen zu Jüngern machte und taufte als Johannes 2 (obwohl Jesus selbst nicht taufte, sondern seine Jünger), 3 verließ er Judäa und zog wieder nach Galiläa.

Wir haben bereits gehört, dass Johannes’ Jünger unseren Herrn und Seine Jünger genau beobachteten. Sie missbilligten den Dienst unseres Herrn, weil er ihren eigenen in den Schatten stellte (Johannes 3:26). Es kam ihnen so vor, als würde Jesus sie arbeitslos machen, und das gefiel ihnen nicht. Auch die Pharisäer beobachteten Jesus (Lukas 5:17) ebenso, wie sie auch Johannes genau im Auge behielten (Johannes 1:19-28), dessen Popularität sie fürchteten (Lukas 20:4-6). Da es die Absicht der Pharisäer war, eine eigene Anhängerschaft zu gewinnen (siehe Matthäus 23:15), waren sie bitter neidisch auf den Erfolg unseres Herrn (siehe Johannes 11:47-48; vergleiche Matthäus 27:18).

Für unseren Herrn aber war es noch nicht an der Zeit, es mit den Pharisäern aufzunehmen – dazu sollte es noch früh genug kommen. Um die Situation ein wenig zu entschärfen, verließ Jesus Judäa und kehrte in das nördlich gelegene Galiläa zurück. Dadurch erleichterte er den Pharisäern zweifellos ihre Befürchtungen, denn die Pharisäer dachten anscheinend, dass Jesus ihnen dort kaum Schwierigkeiten bereiten könnte. Vielleicht erinnern Sie sich, dass selbst Nathanael der Meinung war, niemand von Wichtigkeit könne aus Nazareth kommen (Johannes 1:45-46). Diese Auffassung teilen wohl auch die Pharisäer:

50 Da sagte Nikodemus, einer ihrer Führer, der zuvor einmal zu Jesus gegangen war: 51 „Verurteilt unser Gesetz etwa einen Menschen, bevor man ihn angehört und erfahren hat, was er tut?“ Sie antworteten ihm: „Du bist doch wohl nicht etwa aus Galiläa? Forsche genau nach, und du wirst sehen, dass kein Prophet aus Galiläa hervorgeht!“ 53 Und ein jeder ging fort nach Hause (Johannes 7:50-53; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Die Pharisäer müssen die Nachricht, dass Jesus Judäa verlassen hatte183 und zurück nach Galiläa gegangen war, geradezu mit einem Seufzer der Erleichterung aufgenommen haben. Aber ihre Erleichterung soll nur von kurzer Dauer sein.

Samarien, Sychar und Jakobs Brunnen
(4:4-6)

4 Er musste184 aber den Weg durch Samarien nehmen. 5 Da kam er zu einer Stadt in Samarien, die Sychar hieß und nahe dem Stück Land lag, das Jakob seinem Sohn Joseph gegeben hatte. 6 Dort befand sich der Jakobsbrunnen, und da Jesus müde von der Reise war, setzte er sich neben dem Brunnen nieder. Es war um die Mittagszeit.

Auf dem Weg von Judäa nach Galiläa „musste“ Jesus durch Samarien reisen. Politisch gesehen war Samarien keine eigenständige Region, aber Kultur und Religion unterschieden sich dort eindeutig von den Gegebenheiten in Israel. Wir sollten uns besser noch einmal die historische Beziehung zwischen Israel und Samarien in Erinnerung rufen.

Unter Rehabeam, dem Sohn Salomos, fiel das Vereinigte Königreich von Israel in zwei Teile auseinander (1. Könige 12): in das nördliche Reich Israel, das von dem Rebellen Jerobeam regiert wurde, und das südliche Reich Juda unter Rehabeam. Da Jerobeam befürchtete, dass sich die zwei Reiche wieder vereinigen könnten, begründete er eine falsche Religion mit einem eigenen Ort für die Anbetung, Bethel (1. Könige 12:25-33). Später erbaute ein schlechter nördlicher Herrscher namens Omri die Stadt Samaria und machte sie zu seiner Hauptstadt, zur Hauptstadt des Nördlichen Königreiches. Er errichtete auch einen Tempel und einen Altar für Baal, eine heidnische Gottheit (1. Könige 16:24-34). Am Ende wurde der Name dieser Stadt zum Synonym für das gesamte Nördliche Reich, das so den Namen Samarien erhielt.

Nach wiederholten Warnungen durch Gottes Propheten kam das göttliche Gericht schließlich durch die Hand der Assyrer. Diese besiegten Israel und verteilten seine Mittel- und Oberschicht auf all die anderen Länder, die sie erobert hatten. Die umgesiedelten Israeliten ersetzten sie durch Heiden aus anderen Völkern (2. Könige 17:23ff.). Diese Heiden gingen Ehen mit den im Lande verbliebenen Israeliten ein, und so entstand ein Volk von Mischlingen – eine anstößige und schlimme Sache aus der Sicht der strenggläubigen Juden (siehe Esra 9 und 10; Nehemia 13). Schlimmer noch: die wahre Religion Israels wurde mit heidnischer Götzenanbetung durchsetzt.

Die Juden des Südlichen Königreiches Juda, die später von den Babyloniern gefangen genommen wurden, durften ihre ethnische und religiöse Identität beibehalten. Nach dem Ende ihrer 70-jährigen Gefangenschaft erhielten sie die Erlaubnis, in ihr eigenes Land zurückzukehren, und etliche machten von dieser Möglichkeit Gebrauch. Als diese zurückkehrenden Exilanten daran gingen, den Tempel und Jerusalem wieder aufzubauen, boten die Samariter ihre Hilfe an, wurden aber brüsk abgewiesen (Esra 4:2ff.). Um 400 v.Chr. errichteten die Samariter daraufhin ihren eigenen Konkurrenztempel auf dem Berg Gerizim. Dieser Tempel wurde am Ende des zweiten Jahrhunderts v.Chr. von Johannes Hyrcanus, dem hasmonäischen Herrscher von Juda, zerstört, was die Feindseligkeiten zwischen den Juden und den Samaritern noch erheblich verstärkte.

Die Samariter bekannten sich zum Glauben an den Gott Israels und erwarteten das Kommen des Messias (siehe Johannes 4:25). Sie erkannten nur die ersten fünf Bücher des Gesetzes an und lehnten den Rest der alttestamentarischen Schriften ab. Wo immer es ihnen zur Rechtfertigung ihrer Religion oder ihrer Anbetungsstätte nötig erschien, änderten sie das Gesetz einfach ab. Das Verhältnis zwischen den Juden und den Samaritern war also eindeutig belastet.

Ungeachtet dessen bin ich mir aber gar nicht so sicher, ob die Dinge wirklich so schlecht standen, wie viele glauben. Oft wird gesagt, dass die Juden es vermieden hätten, den Weg durch Samarien zu nehmen. Statt dessen, so hören wir, reisten sie Richtung Osten, überquerten den Jordan, wandten sich dann nach Norden oder Süden, umgingen so Samarien und überquerten den Jordan wieder, wenn sie ihrem Zielort nahekamen. D.A. Carson behauptet dagegen unter Berufung auf Josephus, dass die Juden doch recht häufig durch Samarien reisten185. Es scheint also, als hätten sich nur einige der strenggläubigen Juden dagegen geweigert.

Im Gegensatz zum ersten Kapitel des Johannes-Evangeliums, das uns von der Göttlichkeit unseres Herrn erzählt, spricht dieses Kapitel auch von Seiner Menschlichkeit: Jesus war müde. Es war gerade um die Mittagszeit186, so dass die Mattigkeit unseres Herrn auch mit der Mittagshitze zu tun gehabt haben mag.

Und zwar kommen Jesus und Seine Jünger, müde von der Reise, zu einem Stück Land, das einst Jakob seinem Sohn Joseph vererbt hatte (Genesis 48:22?). Auf diesem Gelände – eine Meile oder so von der Stadt Sychar187 entfernt – liegt der Jakobsbrunnen188. Es ist ein tiefer Brunnen – vielleicht einhundert Fuß tief oder mehr –, der von einer Quelle gespeist wird. Es gibt auch noch andere Wasserstellen in der Gegend, näher bei der Stadt, aber dieser Brunnen hat vielleicht das beste Wasser. Und an diesem Brunnen setzt sich Jesus nieder, um zu rasten.

Warum diese Betonung auf Jakob und darauf, dass dieser Brunnen einst ihm gehört hat? Es scheint, als wäre die Frau (wie vielleicht auch die Samariter im Allgemeinen) stolz darauf, dass sie Jakob als ihren Ahnherren beanspruchen kann. Das ist schon etwas merkwürdig, besonders wenn man bedenkt, wie dieser Patriarch im Buch Genesis dargestellt wird. Ich wüsste keinen Juden von Selbstachtung, der sich rühmen würde, ein Abkömmling Jakobs zu sein – nur dessen, ein Nachkomme Abrahams zu sein (siehe Matthäus 3:9). Johannes gestaltet die Ausgangssituation so, dass die Frau dahin kommt zu fragen, ob Jesus etwa größer ist als Jakob, und die Antwort wird lauten: „Ja“ (siehe auch Johannes 6:30-36, 8:53).

Genauso wie im Buch Genesis189 scheint der „Brunnen“ auch in Johannes 4 wichtig zu sein. Man kommt nicht umhin an Abrahams Knecht zu denken, der Rebekka an einem Brunnen in Paddan-aram um etwas zu Trinken bat (Genesis 24:11ff.). Damals wurden an diesem Brunnen die charakterlichen Eigenschaften von Rebekka offenbar. Hier, im Falle unseres Herrn, mag die Anwesenheit der Frau zu dieser Tageszeit am Brunnen eher ein Hinweis dafür sein, dass es ihr an Charakter fehlt – oder zumindest an Beliebtheit unter den Frauen von Sychar.

„Gib Mir zu trinken“
(4:7-9)

7 Eine Samariterin kam, um Wasser zu schöpfen. Jesus sprach zu ihr: „Gib mir etwas Wasser zu trinken.“ 8 (Denn seine Jünger waren in die Stadt gegangen, um Vorräte zu kaufen.) 9 Da sagte die Samariterin zu ihm: „Wie kannst du – ein Jude – eine samaritische Frau wie mich um Wasser zum Trinken bitten?“ (Denn Juden nutzen nichts gemeinsam mit Samaritern.)

Drei Dinge an dieser Frau gereichen ihr offensichtlich zum Nachteil. Erstens ist sie eine Samariterin. Zweitens macht sie sich der sexuellen Unmoral schuldig, und drittens ist sie eine Frau. Darüber, was die Juden den Samaritern gegenüber empfanden, haben wir schon gesprochen. Und darüber, was die Pharisäer mit so einer Frau gemacht hätten, werden wir in keinerlei Zweifel gelassen:

36 Einer der Pharisäer bat Jesus, doch bei ihm zu essen; und so ging er in das Haus des Pharisäers und nahm am Tisch Platz. 37 Als aber eine Frau aus dieser Stadt, eine Sünderin, erfuhr, dass Jesus im Haus des Pharisäers speiste, kam sie mit einem Alabastergefäß voll wohlriechenden Öles. 38 Als sie zu seinen Füßen hinter ihm stand, weinte sie und benetzte seine Füße mit ihren Tränen. Sie trocknete sie mit ihrem Haupthaar ab, küsste sie und salbte sie mit dem wohlriechenden Öl. 39 Als aber der Pharisäer, der ihn eingeladen hatte, dies sah, sagte er zu sich selbst: „Wenn dieser Mann ein Prophet wäre, würde er wissen, was für eine Frau das ist, die ihn berührt, dass sie eine Sünderin ist (Lukas 7:36-39).190

Es sollte uns aber auch nicht überraschen, dass unser Herr mit so einer Frau ganz anders umgeht – wie man ja auch am Ende der obigen Geschichte im Lukas-Evangelium sieht:

40 Da entgegnete ihm Jesus: „Simon, ich habe dir etwas zu sagen.“ Er erwiderte: „Sprich, Lehrer.“ 41 „Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner; der eine schuldete ihm fünfhundert Silberlinge und der andere fünfzig. 42 Als sie nicht zahlen konnten, erließ er beiden ihre Schulden. Welcher von ihnen wird ihn dafür wohl am meisten lieben?“ 43 Simon antwortete: „Ich denke, der, der die größere Schuld erlassen bekam.“ Jesus sprach zu ihm: „Du hast richtig geurteilt.“ 44 Dann wandte er sich der Frau zu und sprach zu Simon: „Siehst du diese Frau? Ich kam in dein Haus, und du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; sie aber hat meine Füße mit ihren Tränen benetzt und mit ihrem Haar getrocknet. 45 Du hast mir keinen Kuss gegeben; sie aber hat, seitdem ich hereinkam, nicht aufgehört, meine Füße zu küssen. 46 Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit wohlriechendem Öl gesalbt. 47 Daher sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, und deshalb hat sie viel Liebe erzeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ 48 Dann sprach Jesus zu ihr: „Deine Sünden sind dir vergeben.“ 49 Daraufhin fingen die an, die mit ihm am Tisch saßen, und sagten untereinander: „Wer ist das, dass er sogar Sünden vergibt?“ 50 Er sprach zu der Frau: „Dein Glaube hat dich gerettet; gehe hin in Frieden“ (Lukas 7:40-50).

Die Pharisäer hatten eine sehr einfache Methode, heilig zu sein – sie hielten schlicht (räumlichen) Abstand von Sündern. Sie dachten, dass Sünde ansteckend wäre und dass man sie sich schon alleine dann einfangen könnte, wenn man einem Sünder zu nahe kam. Unter anderem deshalb sind sie auch so irritiert zu sehen, wie engen Kontakt unser Herr zu „Sündern“ pflegt:

27 Danach ging Jesus hinaus und sah einen Steuereinnehmer namens Levi am Schalter sitzen; und er sprach zu ihm: „Folge mir nach.“ 28 Da stand Levi auf und ließ alles stehen und folgte ihm. 29 Dann gab Levi in seinem Haus ein großes Gastmahl für Jesus, und eine Menge Steuereinnehmer und andere saßen mit ihnen am Tisch. 30 Aber die Pharisäer und ihre Schriftgelehrten begehrten auf und sagten zu seinen Jüngern: „Warum esst und trinkt ihr mit Steuereinnehmern und Sündern?“ 31 Jesus antwortete ihnen: „Die Gesunden benötigen keinen Arzt, wohl aber die Kranken. 32 Ich bin nicht gekommen, um die Gerechten zur Reue aufzurufen, sondern die Sünder“ (Lukas 5:27-32).

Ich muss zugeben, dass ich die „Frau am Brunnen“ früher anders gesehen habe als heute. Inzwischen habe ich ihr gegenüber ein Gefühl von Mitleid entwickelt, genauso wie unser Herr es hatte. Hier in Kapitel 4, und später noch einmal in Kapitel 8 (die beim Ehebruch ertappte Frau), sehen wir, dass die Juden dazu neigten, auf Frauen wie diese beiden als die „leichten Mädchen“ herabzusehen, die sie ja tatsächlich waren. Andererseits waren die beiden sicherlich nicht schuldiger als die Männer, mit denen sie ihre sexuelle Unmoral ausübten. In Johannes Kapitel 8 wird nur die Frau vor unserem Herrn angeklagt. Das Paar wurde mitten im Akt des Ehebruchs ertappt (8:4), und doch wurde nur die Frau festgenommen und zu Jesus gebracht. Warum wurde der Mann nicht auch vor unseren Herrn gebracht? Offenbar gab es hier zweierlei Maßstab – den einen für die Männer und den anderen für die Frauen.

Die „Frau am Brunnen“ hat offensichtlich gesündigt, aber sie hat nicht alleine gesündigt. Zu dieser Zeit konnten sich Männer von ihren Frauen scheiden lassen, aber Frauen nicht von ihren Männern. Wenn diese Frau fünfmal verheiratet und wieder geschieden ist, so haben sich fünf Männer von ihr scheiden lassen191. Diese Frau ist fünfmal „weggeworfen“ worden. Stellen Sie sich vor, wie sie sich gefühlt haben muss. Und der Mann, mit dem sie jetzt zusammenlebt, ist nicht ihr Mann. Diesmal ist sie noch nicht einmal verheiratet, sondern sie lebt (oder schläft) nur mit einem Mann, der vielleicht sogar der Ehemann einer anderen Frau ist. Diese Frau ist unter einem Teil der männlichen Bevölkerung von Sychar weitergereicht worden. Was Jesus sagt, lenkt nicht nur die Aufmerksamkeit der Frau auf ihre Sünden, sondern auch unsere Aufmerksamkeit auf die Sünden der Männer dieser Stadt.

Das dritte, was der „Frau am Brunnen“ zum Nachteil gereicht, ist die Tatsache, dass sie eine Frau ist. Laut Johannes sind die Jünger nicht deswegen schockiert, Jesus im Gespräch mit der samaritischen Frau vorzufinden, weil sie Samariterin oder weil sie eine Sünderin ist (was sie ja nicht wissen). Sie sind überrascht, Ihn mit ihr sprechen zu sehen, weil sie eine Frau ist. Es mag hier zusätzlich um rassische Dinge gehen, aber es geht auch um das Geschlecht. Die Juden neigten zu ausgesprochen herabwürdigenden Ansichten über Frauen192; und die Jünger scheinen diese Einstellungen zu teilen193. Sie können nicht verstehen, warum Jesus seine Zeit damit vergeudet, mit einer Frau zu sprechen.

Mit diesen Hintergrundinformationen im Kopf lassen Sie uns nun den Vorgang betrachten, im Verlauf dessen die Frau am Brunnen zum Glauben an Jesus als den Messias gebracht wird. Aus der Formatierung des Textes am Anfang können sie ersehen, dass ich die Wechselrede zwischen Jesus und dieser Frau hervorgehoben habe. Eine ähnliche Wechselrede findet auch in Kapitel 3, zwischen Jesus und Nikodemus, statt, aber es gibt dabei einen wesentlichen Unterschied: Je mehr Jesus Nikodemus über Sich Selbst und Seine Lehre sagt, umso unbehaglicher wird Nikodemus zumute. Seine Fragen und Bemerkungen werden immer kürzer, und dann verschwindet er einfach aus dem Text.

Das Gespräch mit der Samariterin verläuft dagegen ganz anders. Jede Wechselrede bringt sie näher an den Glauben heran. Das Gespräch bewegt sich vom buchstäblichen Wassertrinken hin zum geistlichen „Wasser“ der Erlösung. Immer weiter wächst ihr Verständnis davon, wer Jesus ist, bis sie schließlich an Ihn als den Messias glaubt. Während Nikodemus nur sehr langsam und recht zögernd zum Glauben kommt, scheint die Frau am Brunnen viel rascher die wesentlichen Dinge zu begreifen und zum Glauben an Jesus als den Messias zu gelangen. Während Nikodemus, ein einflussreicher Führer unter den Juden, niemanden zu Christus bringt, bringt die Frau am Brunnen die gesamt Stadt auf die Beine, um Jesus zu hören und schließlich an Ihn zu glauben. Lassen sie uns die Bekehrung der Samariterin nun im Hinblick auf den Ablauf der Dinge betrachten, durch die sie zum Glauben hingezogen wird.

Erster Schritt:
Die Aufmerksamkeit der Frau wird geweckt
(4:7-9)

7 Eine Samariterin kam, um Wasser zu schöpfen. Jesus sprach zu ihr: „Gib mir etwas Wasser zu trinken.“ 8 (Denn seine Jünger waren in die Stadt gegangen, um Vorräte zu kaufen.)

9 Da sagte die Samariterin zu ihm: „Wie kannst du – ein Jude – eine samaritische Frau wie mich um Wasser zum Trinken bitten?“ (Denn Juden nutzen nichts gemeinsam mit Samaritern.)

Zwei Dinge, in heutigen Worten ausgedrückt, sprechen von vorneherein dagegen, dass es unserem Herr möglich sein wird, die Wahrheit der Erlösung mit der Frau am Brunnen zu teilen: Er ist Jude, sie ist Samariterin. Er ist ein Mann, sie ist eine Frau. Es scheint keine gemeinsame Grundlage zu geben, keinen Grund für ein Gespräch und nichts, worüber man sich einig wäre. Trotzdem gelingt es unserem Herrn, die Aufmerksamkeit dieser Frau zu wecken; (zunächst) nicht, indem er ihr irgendetwas sagt, das sie wissen muss, sondern indem er sie um Wasser zum Trinken bittet. Sie hat etwas, das Er braucht – Wasser. Indem Er sie um Wasser zum Trinken bittet, erwischt Jesus die Frau ganz und gar auf dem falschen Fuß. Juden benutzten keinerlei Ess- oder Trinkgeschirr gemeinsam mit Samaritern. Die Frau kommt also nicht umhin, Jesus zu fragen, warum Er das Undenkbare erbittet. Durch die Bereitschaft, kulturelle Barrieren beiseite zu werfen, erlangt unser Herr die Aufmerksamkeit der Frau.

Sie muss wohl wissen, warum. So lesen wir die Frage und die anschließende Anmerkung in Klammern: „Wie kannst du – ein Jude – eine samaritische Frau wie mich um Wasser zum Trinken bitten?“ (Denn Juden nutzen nichts gemeinsam194 mit Samaritern.) Warum tut Jesus das? Warum bittet Er sie um Wasser zum Trinken? Beachten Sie, dass Jesus in den nun folgenden Versen diese Frage nicht beantwortet. Es ist das Evangelium, das all das verändert.

26 Denn in Christus Jesus seid ihr alle Kinder Gottes durch den Glauben. 27 Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft worden seid, habt euch mit Christus bekleidet. 28 Da ist weder Jude noch Grieche, weder Sklave noch Freier, weder Mann noch Frau; denn ihr alle seid eins in Christus Jesus. 29 Und wenn ihr Christus gehört, dann seid ihr Nachkommen Abrahams und Erben gemäß der Verheißung (Galater 3:26-29).

Zweiter Schritt:
Jesus macht der Frau den Mund wässrig
(4:10-14)

10 Jesus antwortete ihr: „Wenn du die Gabe Gottes erkannt hättest und wüsstest, wer es ist, der zu dir sagte ‚Gib mir etwas Wasser zu trinken’, dann hättest du ihn gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben.“

11 „Herr,“ sagte die Frau zu ihm, „du hast doch gar keinen Eimer und der Brunnen ist tief; woher also nimmst du dieses lebendige Wasser? 12 Du bist doch nicht etwa größer als unser Vater Jakob? Denn der hat uns diesen Brunnen gegeben und selbst daraus getrunken, samt seinen Söhnen und seinem Vieh.“

13 Jesus erwiderte: „Wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen. 14 Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben will, wird niemals wieder durstig werden; sondern das Wasser, das ich ihm geben will, wird in ihm zu einer Quelle werden, deren Wasser zum ewigen Leben hervorquillt.“

Diese Antwort unseres Herrn ist weit entfernt von dem, was die Frau zu hören erwartet. Jesus erklärt ihr nicht, wie Er dazu kommt, sie um einen Trunk aus ihrem Becher zu bitten. Statt dessen versucht Er unmittelbar, ihr zu zeigen, dass sie diejenige ist, die „Wasser“ braucht, und dass das „Wasser“, das Er zu geben hat, weit besser ist als das Wasser, das sie geben kann.

Beachten Sie die einzelnen Bestandteile dieser Offenbarung. Zuerst leitet unser Herr vom buchstäblichen Wasser (Trinkwasser) zu einem „spirituellen“ Wasser über – zu der Erlösung, die Er dieser Frau anbietet. Als Zweites deutet Jesus an, dass es da etwas gibt, was die Frau nicht weiß. Sie kennt weder die „Gabe Gottes“ noch die Identität Dessen, der zu ihr spricht. Wenn sie diese Dinge kennen würde, so sagt ihr Jesus, hätte sie Ihn um etwas zu trinken gebeten und er hätte ihr „lebendiges Wasser“ zu trinken gegeben. Die Frau versteht nicht, was Jesus sagt; aber sie versteht doch so viel, dass Er jemand Wichtiges zu sein und etwas zu besitzen behauptet, das auch sie haben wollen würde, wenn sie erst wüsste, wer Er ist und was Er ihr geben kann.

So wie Nikodemus vor ihr, nimmt auch die Frau Jesus wörtlich. Sie glaubt, dass Jesus ihr sagen will, Er könne ihr besseres Wasser geben als das, was der Brunnen hergibt. Sie versteht Jesus so, dass Er mit „lebendigem Wasser“ Quellwasser meint. Wenn Jesus aber „besseres Wasser“ hat als das, was sie aus dem Jakobsbrunnen holt – woher will Er es dann nehmen? Der Brunnen ist tief und Jesus hat kein Gefäß, mit dem Er Wasser schöpfen könnte. Wie kann Er dann behaupten, dass Er ihr besseres Wasser geben könnte?

Wenn Sein Wasser wirklich besser ist als das, was man aus diesem Brunnen holen kann, dann muss Jesus der Meinung sein, Er sei zumindest mehr als Jakob, der den Brunnen grub, Menschen und Vieh damit gleichermaßen üppig versorgte und ihn dann seinen Nachkommen hinterließ, zu denen die Frau auch sich selbst zählt. Wagt Jesus etwa zu behaupten, er wäre größer als Jakob?

Jesus beantwortet die Frage, ob Er größer sei als Jakob, noch nicht sofort. Er lässt sie für den Moment außer Acht und antwortet darauf indirekt, indem Er zeigt, inwiefern Sein „Wasser“ besser ist als „Wasser“ vom Jakobsbrunnen. Das „Wasser“ vom Jakobsbrunnen löscht wohl vorübergehend den Durst, aber nur eine Zeit lang, und dann braucht man wieder Wasser. Die Frau sieht die Unterlegenheit dieses „Wassers“ ein, denn Tag für Tag muss sie wieder zum Brunnen gehen, um neues zu holen. Das „Wasser“, von dem unser Herr spricht, ist erheblich besser. Dieses „Wasser“ löscht den Durst anhaltend. Wer Sein Wasser trinkt, wird niemals wieder Durst leiden – und dieses „lebendige Wasser“ bringt ewiges Leben hervor.

Dritter Schritt:
Die Frau möchte dieses Wasser haben
(4:15-18)

15 Die Frau sagte zu ihm: „Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe und nicht mehr hierher kommen muss, um Wasser zu schöpfen.“

16 Er sprach zu ihr: „Geh, ruf deinen Mann und komm hierher zurück.“

17 Die Frau erwiderte: „Ich habe keinen Mann.“

Jesus sprach zu ihr: „Du hast Recht, wenn du sagst ‚Ich habe keinen Mann’, 18 denn fünf Männer hast du gehabt, und der Mann, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann. Darin hast du die Wahrheit gesagt!“

Wenn es etwas gibt, das zu brauchen die Samariterin zuzugeben bereit ist, dann ist es Wasser. Deshalb kommt sie ja heraus zum Jakobsbrunnen. Jesus bittet sie zunächst um etwas von diesem Wasser und leitet dann dazu über, ihr zu sagen, dass Er besseres Wasser – lebendiges Wasser – für sie hat, Wasser, das ewiges Leben hervorbringt, Wasser, das den Durst für immer stillt. So ein Wasser ist genau das, was die Frau braucht, und so sagt sie zu Jesus, dass sie gerne etwas von Seinem „Wasser“ hätte. Offensichtlich versteht sie nicht wirklich, was dieses „Wasser“ ist, aber sie ist gerne bereit, es anzunehmen, wenn es nur dazu beiträgt, dass dies ihr letzer Gang in der Mittagshitze zum Jakobsbrunnen war.

Hier möchte ich einen Moment innehalten. Seien wir ehrlich: Wirkt diese Frau nicht sehr leichtgläubig? Würde es uns wundern, wenn sie auch Interesse für jemanden zeigte, der ihr die Brooklyn Bridge für 25 Dollar anbietet? Würde sie töricht alles glauben, was ihr jemand erzählt? Ich denke, nicht. Jesus Selbst behauptet, „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ zu sein (Johannes 14:6). Sollte die Frau also Jesus nicht glauben? Alles, was Er sagt, ist doch wahr. Wenn Er, der die Wahrheit ist, Ihnen sagen würde, dass Er „lebendiges Wasser“ zu geben hat, das Ihren Durst für immer löscht und das ewiges Leben hervorbringt – sollten Sie Ihm dann nicht glauben? Diese Frau ist nicht töricht; sie hat Vertrauen zu Jesus, genug Vertrauen, um Seinem Wort zu glauben. Ich möchte Sie bei dieser Gelegenheit einfach noch einmal daran erinnern, dass jeder, der Jesus beim Wort nimmt, für töricht gehalten wird von denen, die nicht gerettet und die blind für die Wahrheit sind.

Jesus ist nun an dem Punkt, wo Er die Frau weiter voranbringen will in der Erkenntnis dessen, was dieses „lebendige Wasser“ wirklich ist. Er spricht nicht von gegenständlichem Wasser, sondern symbolisch von der Erlösung, die Er bringt. Also lenkt Er die Aufmerksamkeit der Frau auf einere tiefere Ebene ihrer Bedürftigkeit. Sie hat bereits ihre „Bedürftigkeit“ nach Wasser zu erkennen gegeben, das den Durst für immer löscht. Nun zeigt ihr Jesus, dass sie eines „Wassers“ bedarf, das sie von ihren Sünden reinigt. Also weist Er die Frau an, ihren Mann zum Brunnen zu bringen.

Jesus ist damit bis zur tiefsten Ebene der Bedürftigkeit dieser Frau vorgedrungen, zur Bedürftigkeit der Reinigung von Sünden. Dazu macht Er auf sanfte Weise die Sünde in ihrem Leben offenbar, indem Er sie auffordert, ihren Mann herzubringen. Sie trifft eine Entscheidung – keine ungewöhnliche, sondern eine sehr vorhersehbare Entscheidung. Sie entscheidet sich dafür, ihre Sünde zu verbergen, indem sie Jesus eine Antwort gibt, die zwar dem Wortlaut nach wahr, dem Inhalt nach aber unaufrichtig ist. Sie erzählt Jesus, dass sie keinen Ehemann hat.

Jeder andere Mensch (ohne göttliche Offenbarung) hätte ihre Antwort für bare Münze genommen und seine Aufforderung zurückgezogen. Jesus dagegen offenbart Seine Allwissenheit, indem Er der Frau sagt, dass sie (technisch gesehen) Recht hat – sie hat nicht einen Mann. Sie hatte fünf Ehemänner, und der Mann, mit dem sie jetzt zusammen ist, ist nicht ihr Ehemann. Im besten Falle sind die beiden nicht verheiratet; im schlimmsten Falle schläft sie mit dem Ehemann einer anderen Frau. Wie dem auch sei, Jesus hat dieser Frau damit soviel gesagt, dass sie (zu Recht) daraus schließen kann, dass Er göttliches Wissen hat. Zumindest muss er ein Prophet sein. Aus dem, was Er ihr gesagt hat, schließt sie, dass Er ihr im Weiteren buchstäblich alles sagen könnte, was sie je getan hat. Ihre sexuelle Sünde ist vielleicht nur „die Spitze des Eisbergs“, aber sie ist überzeugt davon, dass Er den ganzen Eisberg kennt. Und sie hat Recht damit.

Vierter Schritt:
Eine geistliche Lösung für die Sünde
(4:19-24)

19 Die Frau sagte zu ihm: „Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist. 20 Unsere Väter beteten auf diesem Berg an; ihr aber sagt, in Jerusalem sei der Ort, wo man anbeten müsse.“

21 Jesus sprach zu ihr: „Glaube mir, Frau, die Zeit wird kommen, da ihr den Vater weder auf diesem Berg noch in Jerusalem anbeten werdet. 22 Ihr betet an, was ihr nicht kennt. Wir beten an, was wir kennen, denn die Erlösung kommt aus den Juden. 23 Es kommt aber eine Zeit – und ist nun da –, da die wahren Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten werden, denn der Vater sucht solche Menschen als seine Anbeter. 24 Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen in Geist und Wahrheit anbeten.“

Jetzt liegen die Karten auf dem Tisch und die sprichwörtliche Katze ist aus dem Sack: Ihre Sünde – die den Tod verdient – liegt offen da. Jetzt wird ihr wahrer „Durst“, ihre wahre Bedürftigkeit offensichtlich. Manche Menschen betrachten die Antwort der Frau als Ausflucht, als den Versuch, das Gespräch fort von dem Gegenstand ihrer Sünde zu bringen. Dieser Meinung bin ich nicht. Ich denke, die Frau ist begierig darauf zu hören, was Jesus zu sagen hat, und immer begieriger darauf, etwas von diesem „lebendigen Wasser“ zu bekommen. Sie sieht die Sache so, dass Jesus ein Prophet sein muss, und das sagt sie Ihm auch. Ist das nicht ein Fortschritt? Ist es nicht mehr als alles, was Nikodemus zuzugestehen bereit war? Nikodemus scheint sich zu verschließen, sobald Jesus zu nahe an seine Sünde herankommt, die Frau dagegen scheint sich zu öffnen und noch mehr erfahren zu wollen. Und so bittet sie Jesus (der nach ihrer Vorstellung ein Prophet ist) um eine autoritative Aussage darüber, wer denn nun recht hat, die Juden oder die Samariter. Ihre Frage sieht für mich nicht aus wie eine falsche Fährte; vielmehr entspringt sie wohl dem ehrlichen Bemühen, zum Kern des Unterschiedes zwischen dem „Glauben“ der Samariter und dem „Glauben“ der Juden vorzudringen.

Ein entscheidender Unterschied zwischen Samaritern und Juden bestand darin, dass die Samariter glaubten, man müsse Gott auf dem Berg Gerizim anbeten, während die Juden darauf beharrten, dass Gott in Jerusalem angebetet werden müsse. Wenn Jesus „ein Prophet“ ist, dann kann Er diesen Streitpunkt doch entscheiden, zumindest für die Frau. Wieder einmal ist die Antwort unseres Herrn nicht das, was sie erwartet haben mag. Man sollte meinen, dass Jesus zu ihr sagen würde: „Die Juden haben Recht und die Samariter Unrecht; die Menschen müssen Gott in Jerusalem anbeten.“ Aber er sagt es nicht, obwohl das in der Vergangenheit zutraf.

Jesus nimmt ein Thema auf, das Johannes schon in Kapitel 1, in der Unterhaltung zwischen Jesus und Nathanael, eingeführt hat:

47 Jesus sah Nathanael herankommen und sagte über ihn: „Siehe, ein wahrer Israelit, in dem kein Falsch ist!“ 48 Nathanael fragte ihn: „Woher kennst du mich?“ Jesus erwiderte: „Bevor Philippus dich rief, sah ich dich, als du unter dem Feigenbaum warst.“ 49 Nathanael antwortete ihm: „Rabbi, du bist der Sohn Gottes; du bist der König von Israel!“ 50 Jesus sprach zu ihm: „Weil ich dir sagte, dass ich dich unter dem Feigenbaum sah, glaubst du? Du wirst noch größere Dinge sehen als das.“ 51 Und er fuhr fort: „Ich sage euch die tiefe Wahrheit: Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes zu des Menschen Sohn auf- und niederfahren sehen“ (Johannes 1:47-51; Hervorhebung durch B. Deffinbaugh).

Ich möchte Sie noch einmal an den Bezug der Worte aus Vers 51 zu der Jakobsvision in Genesis 28 erinnern.195 Jakob träumte von einer Leiter, die bis in den Himmel reichte. Engel stiegen an ihr hinauf und herunter. Jakob erkannte, dass Gott dort, im verheißenen Land Kanaan, den Menschen begegnete. Deshalb rief er aus: „Wirklich, der Herr ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht.“ Und er fürchtete sich und sprach: „Wie Ehrfurcht gebietend ist dieser Ort! Dies ist nichts anderes als das Haus Gottes und es ist das Tor zum Himmel!“ (Genesis 28:16-17, NKJV).

Im ersten Kapitel des Johannes-Evangeliums deutete Jesus Nathanael gegenüber an, dass sich mit Seiner Ankunft die Dinge ändern würden. Gott und die Menschen würden sich nicht mehr an einem bestimmten und dafür ausgewiesenen Ort treffen, sondern in einer dafür bestimmten Person – dem verheißenen Messias, der jetzt der Vermittler zwischen Himmel und Erde ist. Und deshalb hat es keinen Sinn, die Debatte darüber fortzusetzen, welcher Ort denn derjenige sei, an dem die Menschen Gott anbeten könnten. Er selbst war die Person, durch die die Menschen Gott anbeten mussten.

Jesus sagt der Frau noch nicht, dass Er der einzige Weg zu Gott ist. Zu diesem Zeitpunkt sagt Er ihr nur, dass es nichts bringt, immer noch über den rechten Ort zur Anbetung zu streiten. Allerdings gibt es schon einen schwerwiegenden Irrtum in der samaritischen Religion: Sie haben versucht, Gott auf ihre eigene Art anzubeten, unabhängig vom Judentum. Damit haben sie Unrecht, zutiefst Unrecht. Es ist falsch, die Errettung unabhängig von den Juden zu suchen: Die Erlösung kommt „aus den Juden“. Wenn die Samariter gerettet werden wollen, müssen sie sich von ihrem Religionssystem abkehren und einer Rettung zuwenden, die „aus den Juden“ kommt. Sie kommt in dem Sinne „aus den Juden“, dass der Messias ein Jude ist. Sie kommt „aus den Juden“, indem sie die Erfüllung von Gottes Verheißungen gegenüber den Juden darstellt, die Erfüllung durch Sein Wort, das Er den Juden gegeben hat. Gerade so, wie Nikodemus das Königreich Gottes nicht sehen kann, solange er den Traditionen der Pharisäer anhängt, kann auch die Frau das Königreich nicht sehen, wenn sie der Religion der Samariter folgt.

Eine Anbetung, die Gott annehmbar findet, entspricht nicht der samaritischen Anbetung und auch nicht der pharisäischen Anbetung (siehe Lukas 18:9-14). Die Menschen können Gott nur anbeten, wenn sie dies „in Geist und Wahrheit“ tun (Vers 23 und 24). Bibelstudierende interpretieren diese Worte auf unterschiedliche Weise. Ich neige dazu, unseren Herrn folgendermaßen zu verstehen: Weil Gott Geist ist, müssen die Menschen Gott „im Geist“ anbeten; das heißt, sie müssen Gott spirituell anbeten. Damit ist der Ort nicht so wesentlich wie der „Geist“, in dem die Anbetung geschieht. Außerdem neige ich zu der Auffassung, dass Jesus das Wort „Geist“ – wie Er es ja oft (z.B. beim „Wasser“) tut – in doppelter Bedeutung benutzt. So sagt unser Herr, dass die Menschen nur durch den Dienst des Heiligen Geistes anbeten können, der die geistliche Anbetung erst möglich macht. „Wahrheit“ schließlich verstehe ich so, dass sich das Wort auf die Wahrheit sowohl im allgemeinen (das, was wahr ist) als auch im besonderen Sinne (die Wahrheit von Gottes Wort und die Wahrheit der Worte unseres Herrn) bezieht. Die Menschen können Gott nicht nach Gutdünken anbeten (wie es die Samariter taten, die das Alte Testament auf die fünf Bücher des Gesetzes beschränkten); nein, die Menschen können Gott nur gemäß dem anbeten, was Er in Seinem göttlichen Wort offenbart hat. Solcherart sind die Anbeter, die Gott sich wünscht.

Fünfter Schritt:
Auf Christus als die Antwort vertrauen
(4:25-26)

25 Die Frau sagte zu ihm: „Ich weiß, dass der Messias196 kommt (der da Christus genannt wird). Und wenn er kommt, wird er uns alles kundtun.“

26 Jesus sprach zu ihr: „Ich bin es, ich, der zu dir spricht.“

Weder der samaritische noch der jüdische Glaube sind der Frau unbekannt. Also stellt sie eine Verbindung her zwischen dem, was unser Herr über die Anbetung „in Geist und Wahrheit“ sagt, und dem verheißenen Messias. Sie geht davon aus, dass der Messias, wenn Er kommt, alle diese Dinge schon irgendwie klären wird. Er wird die Wahrheit darüber offenbaren, wie die Menschen Gott anbeten müssen.

Wären Sie nicht auch gerne bei diesem Gespräch dabei gewesen, besonders als die Worte in den obigen zwei Versen gesprochen wurden? Die Frau sagt zu Jesus, dass sie auf den Messias wartet, der die Wahrheit über die wahre Anbetung offenbaren wird. Und Jesus sagt zu ihr: „Ich bin der Messias.“197 Das erinnert mich daran, wie Maria vor dem leeren Grab unseres Herrn weint. Ihre Augen sind so voller Tränen und ihre Hoffnungen so sehr am Boden zerstört, dass sie kaum auf Den achtgibt, der zu ihr spricht. Aber mit einem einzigen Wort, „Maria“, kommt die volle Erkenntnis darüber, wer da spricht und was es bedeutet, dass Er dort ist.

Ich würde nicht unbedingt davon ausgehen, dass die Frau in diesem Moment zur Erlösung kommt, aber sicher ist sie „nicht weit entfernt vom Königreich Gottes”. Und ich glaube, dass am Ende des Aufenthaltes unseres Herrn bei den Samaritern nicht nur die Frau, sondern auch die meisten Bewohner von Sychar an Seinen Namen zu ihrer Rettung glaubten. An dieser Stelle, möchte ich betonen, bringt unser Herr die Frau erst einmal an den Punkt, wo sie einsieht, dass sie als Sünderin der Erlösung bedarf, wo sie versteht, dass ihre (samaritische) Religion sie nicht retten kann und wo sie erkennt, dass die Rettung nur durch den Glauben an Jesus als den verheißenen (jüdischen) Messias kommt. Das bringt uns zum nächsten und letzten Schritt.

Sechster Schritt:
Die Gute Nachricht mit anderen teilen
(4:28-30)

27 Genau in diesem Augenblick kamen seine Jünger zurück. Sie waren schockiert darüber, dass er mit einer Frau sprach, doch keiner sagte: „Was willst du?“ oder „Warum redest du mit ihr?“ 28 Da ließ die Frau ihren Krug stehen198 und ging fort in die Stadt und sagte zu den Leuten199: 29 „Kommt her und seht, da ist ein Mensch, der mir alles gesagt hat, was ich je getan habe. Er ist doch nicht etwa der Messias?“ 30 Da liefen sie aus der Stadt heraus und kamen zu ihm.

Ich übergehe Vers 27 erst einmal und nehme ihn wieder auf, wenn wir betrachten, wie unser Herr mit Seinen Jüngern umgeht. Im Moment beschäftigen wir uns erst einmal mit Vers 28-30. Diese Verse bilden den abschließenden Schritt im Prozess der Erlösung – das Teilen des neu gefundenen Glaubens mit anderen200. Ursprünglich hatte die Frau vorgehabt, Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen, aber nun lässt sie ihren Wasserkrug stehen und eilt zurück nach Sychar, wo sie den anderen von Jesus erzählt. Sie sieht über die Enthüllung der Tatsachen über ihre Ehen und ihre Unmoral durch unseren Herrn hinaus und erzählt ihnen, dass ein Mann ihr „alles erzählt habe, was sie je getan hat“. Die Frau spricht davon, dass Jesus möglicherweise der Messias ist. So, wie sie ihre Frage formuliert, ist sie sich in dieser Hinsicht nicht sicher, aber zumindest betrachtet sie Jesus als möglichen Messias. Das erweckt wohl die Neugier derer, die diese Frage hören, und die ganze Stadt macht sich gemeinsam mit der Frau auf den Weg hinaus zum Brunnen.

Der Umgang mit den Jüngern
(4:27, 31-38)

27 Genau in diesem Augenblick kamen seine Jünger zurück. Sie waren schockiert darüber, dass er mit einer Frau sprach, doch keiner sagte: „Was willst du?“ oder „Warum redest du mit ihr?“ ... 31 In der Zwischenzeit drängten ihn seine Jünger: „Rabbi, iss etwas.“ 32 Er aber sprach zu ihnen: „Ich habe eine Speise zu essen, von der ihr nichts wisst.“ 33 Da redeten die Jünger untereinander: „Es hat ihm doch niemand etwas zu essen gebracht, oder?“

34 Jesus sprach zu ihnen: „Meine Nahrung ist es, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und dass ich sein Werk vollende. 35 Sagt ihr nicht ‚Noch vier Monate, dann kommt die Ernte’? Ich sage euch: Hebt doch eure Augen auf und seht, dass die Felder schon weiß zur Ernte sind! 36 Der Schnitter empfängt seinen Lohn und sammelt Frucht für das ewige Leben, so dass der Sämann und der Schnitter sich gemeinsam freuen können. 37 Denn in diesem Fall trifft das Sprichwort zu: ‚Einer sät, und ein anderer erntet.’ 38 Ich habe euch ausgesandt zu ernten, wofür ihr nicht gearbeitet habt; andere haben gearbeitet und ihr seid in ihre Arbeit gekommen.“

Lassen Sie mich einmal versuchsweise dieses Bild zeichnen, so wie ich es sehe: Jesus und Seine Jünger machen Rast am Brunnen. Jesus ist müde und verweilt dort, während Seine Jünger in die Stadt gehen, um Lebensmittel zu kaufen. Nachdem sie gegangen sind, kommt die Samariterin, und es entspinnt sich eine Unterhaltung, die Johannes für uns aufgezeichnet hat. Das Gespräch endet gerade, als die Jünger von Sychar zurückkehren. Die Frau lässt ihren Wasserkrug stehen und eilt zurück in die Stadt. Die Jünger drängen Jesus, doch von dem zu essen, was sie gerade aus der Stadt mitgebracht haben. Wenn man den Jüngern über die Schulter schaut, sieht man die Bewohner von Sychar von Weitem en masse herbeiströmen, um Den zu sehen und zu hören, über den die Frau Zeugnis abgelegt hat.

Die Jünger kommen demnach gerade rechtzeitig aus Sychar zurück, um das Ende der Unterhaltung zwischen Jesus und der samaritischen Frau mitzuerleben, und sind erstaunt darüber, dass Jesus mit ihr gesprochen hat. Das liegt nicht daran, dass sie eine Samariterin ist, auch nicht daran, dass sie eine Sünderin ist (sie wissen über ihr moralisches Verhalten ja nicht das, was Jesus weiß), sondern schlicht und einfach daran, dass sie eine Frau ist. Vonseiten der Jünger geht es also nicht so sehr um rassenbezogene als um geschlechtsbezogene Vorurteile. Sie können sich keinen einzigen guten Grund dafür vorstellen, dass Jesus mit einer Frau sprechen sollte. Morris hilft uns, das vom jüdischen Standpunkt aus zu verstehen:

Vielleicht der größte Makel in der rabbinischen Einstellung Frauen gegenüber lag darin, dass die Rabbiner zwar das Studium des Gesetzes für das größte Gut im Leben überhaupt hielten, die Frauen andererseits aber ganz und gar davon abhalten wollten. Als Ben Azzai vorschlug, dass Frauen für bestimmte Zwecke im Gesetz unterrichtet werden sollten, entgegnete ihm R. Eliezer: ‚Wenn ein Mann seiner Tochter Wissen über das Gesetz verschafft, so ist das geradesogut, wie wenn er sie die Wollust lehren würde’ (Sot. 3:4).201

Auch wenn die Jünger unseres Herrn überrascht darüber sind, dass Jesus mit einer Frau spricht, bringen diesen Punkt doch nicht zur Sprache. Vielleicht sind sie in der letzten Zeit schon einmal zu oft ins Fettnäpfchen getreten und jetzt will keiner mehr die Peinlichkeit auf sich nehmen, schon wieder der zu sein, der eine dumme Frage stellt. Sie fangen wohl zumindest an zu lernen, dass unser Herr immer im Recht ist, selbst mit dem, was der Judaismus als Unrecht bezeichnen würde.202 Vielleicht stellen die Jünger aber ihre Frage auch einfach zurück zugunsten eines wichtigeren Themas – Mittagessen. Das klingt albern, nicht wahr? Aber ist es nicht vielleicht wirklich so? Sind die Jünger nicht ganz besorgt darum, dass unser Herr auch ja etwas isst? Warum sollten sie das sein?

Dafür kann man sich mehrere Gründe vorstellen, von denen keiner besonders fromm ist. Im besten Fall könnte man die Worte der Jünger etwa so verstehen: „Jesus, Du bist müde und Du musst Deine Kräfte wieder aufbauen. Bitte iss, denn Du brauchst Nahrung, wenn wir unsere Reise fortsetzen wollen.“ Etwas davon mag hier schon enthalten sein. Es kann aber auch sein, dass die Jünger mit dem Essen gewartet haben, bis Jesus mit ihnen essen konnte. Sie möchten, dass Er isst, damit sie auch essen können. (Oder vielleicht hat Petrus sogar schon ein halbes Sandwich heruntergeschlungen und drängt Jesus jetzt mit vollem Mund, es ihm nachzutun: „Na los, Jesus, iss schon was.“) Und schließlich sind die Jünger vielleicht auch deswegen so auf das Mittagessen fixiert, weil sie es mit so großer Mühe beschafft haben: Sie sind den ganzen Weg bis in die Stadt und zurück gelaufen. Sie sind in die Stadt gegangen, um Lebensmittel zu kaufen, und nachdem sie diese ganze Anstrengung auf sich genommen haben, um das Essen für unseren Herrn zu besorgen, ist das Mindeste, was Er tun kann doch, sich die Zeit zu nehmen und zu essen. Vielleicht waren die Jünger ja eine kollektive, männliche Version der Martha (siehe Lukas 10:38-42).

Wieder einmal ist die Antwort unseres Herrn auf das Drängen Seiner Jünger nicht das, was man erwarten würde. Statt über das buchstäbliche Essen zu sprechen, spricht Er über geistliche „Nahrung“. Die Antwort unseres Herrn an Seine Jünger legt einige sehr wichtige Prinzipien fest, Prinzipien, die nicht nur Sein Leben und Seinen Dienst leiteten, sondern von denen auch Seine Jünger geleitet werden sollten – und zu diesen „Jüngern“ sollten auch wir uns zählen.

(1) Die wichtigste „Nahrung“ unseres Herrn ist es, den Willen des Vaters zu tun, indem Er Sein Werk vollbringt (Vers 34). Warum bezeichnet Jesus Sein „Werk“ als Seine „Nahrung“? Ich frage mich, ob die Antwort auf diese Frage nicht in der Szene über die Versuchung unseres Herrn enthalten ist:

1 Und Jesus kehrte, erfüllt vom Heiligen Geist, vom Jordan zurück, und er wurde vom Geist in der Wüste umhergeführt 2 und dort vierzig Tage lang vom Teufel versucht. Während dieser Tage aß er nichts, und als sie vorüber waren, war er hungrig. 3 Der Teufel sprach zu ihm: „Wenn du der Sohn Gottes bist, so befiehl diesem Stein, dass er zu Brot werden soll.“ 4 Jesus antwortete ihm: „Es steht geschrieben: ‚Der Mensch lebt nicht von Brot allein.’“ (Lukas 4:1-4)

Jesus hat Hunger, denn Er hat 40 Tage lang gefastet. Satan versucht Ihn zu überreden, dass Er einem Stein zu Brot zu werden befiehlt. Die Macht, das zu tun, hat Jesus natürlich. Aber er lehnt es ab und zitiert Deuteronomium 8:

1 „Jedes Gebot, dass ich dir heute gebiete, müsst ihr sorgfältig beachten, um zu leben und euch zu mehren und hineinzugehen und das Land in Besitz zu nehmen, das der Herr euren Vätern zugeschworen hat. 2 Und gedenke des ganzen Weges, den dich der Herr, dein Gott, diese vierzig Jahre lang in der Wildnis geleitet hat, um dich zu demütigen und zu prüfen, damit erkennbar würde, was in deinem Herzen ist, ob du seine Gebote halten würdest oder nicht. 3 So demütigte er dich, ließ zu, dass du Hunger littest und nährte dich mit dem Manna, das weder du kanntest noch deine Vorfahren gekannt hatten, damit er dich wissen lasse, dass der Mensch nicht von Brot allein leben soll; sondern der Mensch lebt von einem jeden Wort, das aus dem Munde des Herrn kommt“ (Deuteronomium 8:1-3, NKJV).

Gott ließ zu, dass die Israeliten Hunger litten, um zu prüfen, was in ihren Herzen war. Selbst Satan glaubt, dass die Menschen Gott anbeten werden, solange Er sie nur mit allem segnet, was sie begehren (siehe Hiob 1:6-12). Zum eigentlichen Test für den Glauben und Gehorsam des Menschen Gott gegenüber kommt es inmitten von Kummer und Not. Also ließ Gott zu, dass die Israeliten Hunger und Durst erlitten, damit der Zustand ihres Herzens offenbar würde – entweder durch ihren Gehorsam oder durch ihre Auflehnung.

Einer ähnlichen Prüfung wird auch unser Herr in der Wüste unterworfen, wo Er 40 Tage lang fastet. Satan versucht unseren Herrn dazu zu bringen, dass Er Brot „erschafft“, um Seinen Hunger zu stillen. Jesus aber lehnt das ab und verweist auf den obigen Text aus Deuteronomium. Die dort beschriebenen Umstände gleichen denen, in denen Er selbst sich befindet. „Der Mensch lebt nicht von Brot allein“, erinnert Jesus Satan, „sondern von einem jeden Wort, das aus dem Munde des Herrn kommt.“ Nicht nur tatsächliches Brot hält unseren Herrn (und jeden anderen auch) am Leben, sondern Gottes Wort, und insbesondere auch der Gehorsam gegenüber Gottes Wort.203

Als Jesus von Seinen Jüngern dazu gedrängt wird zu essen, weigert Er Sich und sagt ihnen, dass Er eine andere „Speise“ zu essen hat, die sie nicht kennen. Damit spricht Er die gleiche Wahrheit aus, die Er schon Satan gegenüber kundgetan hat und die Gott, durch Moses, den Israeliten verkündet hatte. Nicht nur die Aufnahme von tatsächlicher Nahrung hält uns am Leben, sondern den Willen Gottes zu tun. Wenn das Essen uns daran hindert, den Willen Gottes zu tun, muss das Essen warten und nicht der Gehorsam Gott gegenüber. Gottes Willen zu tun – nämlich (selbst den Heiden) die Erlösung zu bringen und zu verkünden – ist die primäre Absicht und Berufung unseres Herrn. Und Er würde niemals zulassen, dass Ihn eine Mahlzeit davon abhielte. Es gibt etwas zu tun in diesem Moment – die Menschen aus der Stadt sind schon von Weitem sichtbar. Da hat man keine Zeit zu essen.

Ist das nicht überhaupt die Wahrheit, die dem Fasten zugrunde liegt? Ich weiß, viele machen mehr aus dem Fasten als eigentlich angemessen ist. Fasten ist keine Zauberei, es bedeutet nicht, dass wir Gott dazu bringen, unseren Willen zu tun. Vielmehr ist es unsere Unterwerfung unter Seinen Willen, die sich in diesem Fall darin ausdrückt, dass wir unsere Zeit lieber im Gebet oder mit einem bestimmten Dienst verbringen als damit, eine Mahlzeit zu uns zu nehmen. Und drückt sich das nicht auch bei den selteren Gelegenheiten aus, wenn ein Mann und seine Frau freiwillig übereinkommen, auf den Geschlechtsverkehr zu verzichten, damit sie sich umso mehr dem Gebet hingeben können (siehe 1. Korinther 7:5)?

Ich muss zugeben, dass mich nur sehr wenige Dinge vom Essen abhalten können. Jesus ordnet das Essen der Notwendigkeit unter, den Willen Gottes zu tun. Normalerweise müssen wir essen, damit wir die Kraft haben, Seinen Willen zu tun (siehe 1. Samuel 14:24-30). Aber es gibt Zeiten, da uns nichts von der uneingeschränkten Hingabe an unsere Pflicht abhalten darf. Gottes Willen zu tun, ist wichtiger als eine Mahlzeit herunterzuschlingen. Ich frage mich, worauf wir bereit sind zu verzichten, damit wir das Evangelium mit denen teilen können, die verloren und für die Ewigkeit in der Hölle bestimmt sind?

(2) Die Mission unseres Herrn war umso dringender, als Seine Zeit auf der Erde kurz bemessen war (Vers 35 ff.). Hat Jesus noch nicht einmal Zeit, sich hinzusetzen und ein Sandwich zu essen? Jesus hat ein Gefühl dafür, wann die rechte Zeit für jedes Ding gekommen ist (siehe Johannes 2:4, 7:6) – und Seine Zeit ist wirklich begrenzt. Und weil Er so wenig Zeit hat, nimmt Er Sich nicht die Zeit, die Ihn eine Mahlzeit kosten würde.

Was die Heiligen von heute daraus lernen sollen, ist ganz offensichtlich: Sind wir uns dessen bewusst, wie kurz die Zeit bemessen sein kann? Haben wir ein Gefühl für die Dringlichkeit unserer Mission? Der schlechte Diener hat das Gefühl, dass die Zeit noch lang ist und nichts ihn drängt (Lukas 12:35-48). Das Wort Gottes aber ruft uns immer wieder dazu auf, die Zeit einzulösen, denn unsere Zeit ist kurz.

15 Achtet also genau darauf, wie ihr lebt, dass ihr nicht als Unweise, sondern als Weise lebt 16 und jede Gelegenheit ausnutzt, denn die Tage sind schlecht. 17 Seid deshalb nicht töricht, sondern weise, und erkennt, was der Wille unseres Herrn ist (Epheser 5:15-17).

29 Und ich sage euch dies, Brüder und Schwestern: Die Zeit ist kurz. So seien fortan die, die Ehefrauen haben, so wie jemand, der keine hat, 30 die Weinenden so wie jemand, der nicht weint, die sich freuen so wie jemand, der sich nicht freut, die kaufen so wie jemand ohne Besitztümer, 31 die Gebrauch von dieser Welt machen so, als machten sie keinen vollen Gebrauch von ihr. Denn die gegenwärtige Gestalt dieser Welt vergeht (1. Korinther 7:29-31).

Verhaltet euch gegenüber Außenstehenden mit Weisheit und macht das beste aus jeder Gelegenheit (Kolosser 4:5).

Ihr wisst nicht, was morgen sein wird. Denn was ist euer Leben? Eine Rauchwolke seid ihr, die für kurze Zeit erscheint und dann wieder verschwindet (Jakobus 4:14).

Gesegnet ist, der die Worte dieser Prophezeiung laut liest, und gesegnet sind, die das hören und befolgen, was darin geschrieben steht, denn die Zeit ist nahe (Offenbarung 1:3).

Jetzt ist die Zeite der Ernte – nicht später. Anscheinend bedeutet die Aussage „Noch vier Monate, dann kommt die Ernte“ in gewisser Weise, dass die Erntezeit noch lange hin ist. Für die Getreideernte mag das zutreffen, nicht aber für die Ernte der Seelen, die genau dort und in wenigen Augenblicken stattfinden wird. Es gilt keine Zeit zu verlieren, keine Zeit zu vergeuden. Die Zeit der Ernte ist da.

(3) Unser Herr erfüllte Seine Mission; uns aber hat er den Auftrag gegeben, das Evangelium der verlorenen Welt zu verkünden, bis Er wiederkommt. Die Zeit ist kurz, und ein ganzes Team von Arbeitern wird benötigt, um diese Aufgabe zu erfüllen (Vers 36-38). Anscheinend waren diejenigen, die die Ernte einbrachten, nicht diejenigen, die die Felder eingesät hatten. Das ist, glaube ich, heute noch so. Wo heutzutage in den Vereinigten Staaten Weizen angebaut wird, legen die Farmer vielleicht ihre eigenen Getreidepflanzungen an, aber die Erntezeit ist so kurz, dass meist eine ganze Kolonne professioneller Erntehelfer beschäftigt wird. Lastwagen und Mähdrescher werden herangeschafft, und innerhalb von Stunden ist das Feld abgeerntet. Durch unvorhergesehene Verzögerungen bei der Ernte würde ein großer Teil des Getreides verloren gehen.

Die Jünger haben keine Vorstellung davon, was für eine große „Ernte“ gleich stattfinden wird und dass sie die Erntehelfer sind. Sie sind viel zu sehr mit dem Mittagessen beschäftigt gewesen, während andere fleißig bei der Arbeit waren und das Evangelium aussäten. In der Vergangenheit hatten nämlich die Propheten die Saat durch ihre Worte und durch die Schriften gelegt; und auch Männer wie Johannes der Täufer hatten die Saat des Evangeliums gesät204. An eben jenem Tag schließlich ist die Samariterin in die Stadt gegangen und hat Zeugnis darüber abgelegt, dass Jesus am Brunnen sitzt und ihr „alles gesagt hat, was sie je getan hat“. Sie hat die Saat gelegt, und nun ist es an Jesus und Seinen Jüngern zu ernten. Kein Wunder, dass Er keine Zeit zum Essen hat. „Die Felder sind schon weiß zur Ernte.“205

In unserem Land wird individuelle Leistung gut bezahlt und hoch belohnt. Konkurrenz scheint also eher angebracht zu sein als Kooperation. Jesus sagt Seinen Jüngern, dass sie in Kürze eine Ernte einbringen werden, aber Er weist sie auch darauf hin, dass sie dort ernten, wo andere gesät haben. Es ist nicht alleine ihre Arbeit; sie vollenden nur, was andere begonnen haben. Auch die Evangelisation ist keine Ein-Mann-Unterhaltung, sondern eine gemeinsame Anstrengung.

Die Erlösung kommt nach Samarien
(4:39-42)

39 Und viele Samariter aus dieser Stadt glaubten an ihn aufgrund der Rede der Frau, die bezeugte: Er hat mir alles gesagt, was ich je getan habe.” 40 Als aber die Samariter zu ihm kamen, baten sie ihn, bei ihnen zu verweilen. Er blieb zwei Tage dort, 41 und aufgrund seines Wortes kamen noch viel mehr zum Glauben. 42 Sie sagten zu der Frau: „Wir glauben nun nicht mehr um deiner Worte willen, denn wir haben selbst gehört und wir erkennen, dass dieser wirklich der Erlöser der Welt ist.“

Was für ein Gegensatz ist doch Kapitel 4 zu Kapitel 3! In Kapitel 3 spricht Jesus mit Nikodemus, dem berühmtesten Lehrer und Führer seiner Zeit. Dieser Mann erkennt, dass Jesus etwas Besonderes an sich hat, und bekennt, dass Gott irgendwie mit Jesus sein muss, aber er widersteht allem, was unser Herr ihm sagt. Keinerlei Anzeichen deuten bei dieser ersten Begegnung zwischen Nikodemus und unserem Herrn darauf hin, dass Nikodemus zum Glauben finden wird. Der große „Führer“ findet es schwierig, Jesus zu „folgen“, und er führt niemanden zu Ihm. Die Frau am Brunnen scheint dagegen viel aufmerksamer und aufnahmefähiger für das zu sein, was Jesus ihr zu sagen hat. Schon nach dem ersten Gespräch mit Ihm ist sie auf einem guten Weg zum Glauben, ja, noch mehr, sie bringt auch noch viele andere zu Ihm. Wer hätte je gedacht, dass Nikodemus so wenig für das Reich Gottes tun würde und dass Gott andererseits so großen Gebrauch von dieser Samariterin machen würde?

Sehen Sie nur, was für ein Glaube sich in den Worten der Samariter widerspiegelt. Zunächst nehmen sie das Wort der Samariterin; aber nachdem sie Jesus selbst sprechen gehört haben, verlassen sie sich nicht mehr auf das Zeugnis der Frau, sondern auf das, was sie von Jesus selbst gehört haben. Keine Wunder werden uns berichtet (außer vielleicht dem, dass Jesus der Frau zu verstehen gab, dass Er alles über ihr Leben und ihre Sündhaftigkeit wusste), keine Zeichen, die unser Herr in Samarien vollbrachte (obwohl es natürlich Wunder gegeben haben kann, die Johannes bewusst nicht aufgezeichnet hat). Diese Samariter haben einen viel besseren Glauben als bloß den „Zeichenglauben“. Ihr Glaube ist „Wortglaube“, Glaube an Jesus Christus aufgrund von Dessen eigenen Worten. Die Samariter gelangen zum Glauben an Jesus als den Messias, als den „Erlöser der Welt“.

Schlussfolgerung

Ist das nicht ein großartiger Text? Man kann aus diesem Text viele Lektionen lernen, aber ich werde jetzt abschließend nur einige davon herausheben. Ist dieses ganze Kapitel nicht ein Prototyp, ein Vorgeschmack auf das, was kommt? Lag es nicht an der Hartherzigkeit und am Unglauben der Juden, dass das Evangelium zu den Heiden kam? Was für ein erstaunliches Beispiel für die Gnade, die Gott den Sündern entgegenbringt, und was für eine Ermutigung! Wieder einmal sehen wir, dass diejenigen das Evangelium ablehnen, die sich „zu gut dafür“ sind. Diese Frau aber – gemeinsam mit vielen Menschen aus ihrer Heimatstadt – bekennt ihre Sündhaftigkeit und findet ihre Errettung in Jesus Christus. Niemand ist je zu sündig, um gerettet zu werden – aber es sind derer viele, die zu „gerecht“ (selbstgerecht) sind, um gerettet zu werden. Das vierte Kapitel des Johannes-Evangeliums bereitet uns auf die große Ernte der sündigen Heiden vor, die in Kürze gerettet werden sollen durch Tod, Begräbnis und Auferstehung Jesu Christi und durch die Ablehnung der Juden, die Ihn nicht als den Messias anerkennen wollen.

Wie merkwürdig, dass es unserem Herrn notwendig erschien, durch Samarien zu reisen. Warum war das so? Nun, natürlich deswegen, weil Gott vorhatte, die Samariter aus ihrer Sündhaftigkeit zu erlösen. Aber es gibt auch noch einen anderen, einen ganz einfachen Grund: Die Samariter würden nicht zu Jesus kommen, also kam Jesus zu ihnen. Wir gehen, denke ich, öfters davon aus, dass die Ungläubigen zu uns kommen sollten; aber das ist nur eine Erwartung unsererseits, und zwar eine schlechte. „Geht“ ist ein wichtiges Wort innerhalb des Großen Auftrags, und Jesus hat uns das beispielhaft vorgemacht206. Wenn die Kirche zu den Ungläubigen sagt „kommt“, wollen wir daran denken, dass unser Herr zur Kirche sagt „geht“. Das erste, was die Samariterin tut, ist, zu den Verlorenen in ihrer Stadt zu „gehen“.

Unser Text fordert mich dazu heraus zu fragen, wie engagiert ich denn selbst dabei bin, unserem Herrn zu gehorchen. Das „Werk“, dem unser Herr Sich widmete, war das „Werk des Vaters“, das Werk der Erlösung. Er gab Sich der Vollendung Seines Werkes so sehr hin, dass er es sogar ablehnte zu essen, wenn das Werk dadurch behindert wurde. Bin ich genauso engagiert bei der Errettung der Menschen wie Gott es ist? Bin ich bereit, auf eine Mahlzeit zu verzichten, auf einen ruhigen Abend, auf ein größeres Haus, auf einen aufwändigeren Lebensstil, damit Gottes Werk vorangebracht wird? Dieser Text entblößt meine eigene Selbstbezogenheit, mein Zögern, wenn es darum geht, meine eigenen Interessen denen Gottes unterzuordnen.

Ich bin auch herausgefordert zu überdenken, was es eigentlich ist, das mich inspiriert und motiviert. Mein Appetit ist für mich eine starke Motivation zu essen und mein Bedürfnis zu befriedigen. Gottes Absicht und Werk war die Motivation für unseren Herrn. Nahrung gibt uns Kraft und Ausdauer. Wenn die „Nahrung“ unseres Herrn darin bestand, das Werk zu vollbringen, das Sein Vater Ihm aufgetragen hatte, dann kam seine Stärke und Motivation für den Dienst aus diesem Werk. Heutzutage hört man viel von „Burnout“, und ich habe damit schon immer meine Schwierigkeiten gehabt, denn ich finde diesen Ausdruck nirgendwo in der Bibel. Inzwischen frage ich mich, ob die zugrunde liegende Vorstellung denn biblisch ist. Sind Christen „ausgebrannt“, wenn sie zu viel dafür gearbeitet haben, den Willen des Vaters zu tun? Mir scheint, dass wir doch kaum dadurch „ausgebrannt werden“ können, dass wir das Werk des Vaters zu unserem eigenen Werk machen, wenn es doch Sein Werk ist, das uns stärkt und befähigt. Dieses ganze Thema sollte noch einmal sorgfältig und unter Berücksichtigung unseres Textes durchdacht werden.

Wenn die Errettung der Verlorenen so wichtig ist, dann ist es klar, dass uns nichts davon abhalten sollte – noch nicht einmal etwas, das so „gut“ ist wie ein Mittagessen. Ist es nicht das, was Jesus Seinen Jüngern sagt? Und wenn etwas, das im Wesentlichen gut und notwendig ist, einmal ausgelassen werden muss, um Gottes Werk zu vollenden, dann müssen natürlich Dinge, die nicht gut sind, umso mehr beiseite gelassen werden:

1 Darum, dass wir eine so große Wolke von Zeugen um uns haben, müssen wir alles ablegen, was uns beschwert, und alle Sünde, die so fest an uns hängt, und mit Ausdauer das Rennen laufen, das uns zugedacht ist, 2 indem wir unsere Augen fest auf Jesus richten, den Vorreiter und den Vollender unseres Glaubens. Für die Freude, die vor ihm lag, ertrug er das Kreuz und missachtete dessen Schande, und er hat seinen Platz zur Rechten des Thrones Gottes eingenommen (Hebräer 12:1-2).

Welche Hindernisse sind es, die wir beiseite legen sollten, um den Willen des Vaters zur Errettung der Menschen effektiver auszuführen? Dass wir „Eigeninteressen“ beiseite legen müssen, haben wir bereits gesehen. In unserem Text lernen wir weiter, dass wir auch unsere Vorurteile bezüglich Rasse, Kultur, Geschlecht (um nur ein paar zu nennen) ablegen müssen. Wir müssen jede Selbstgerechtigkeit ablegen und erkennen, dass Christus kam, um die Sünder zu retten, unter denen wir selbst die größten sind (siehe Timotheus 1:12-16).

Wir müssen unsere falschen Ansichten über die Frömmigkeit ablegen. Wir werden nicht dadurch heiliger, dass wir jeden Kontakt mit Sündern vermeiden. Wir werden heilig, wenn wir die Gewohnheiten ablegen, die uns einst als Sünder kennzeichneten. Wie die Pharisäer Abstand von den Sündern zu halten, macht jemanden nicht frommer, und es hielt sie davon ab, das Licht des Evangeliums mit denen zu teilen, die dessen bedurft hätten.

Wir müssen auch unsere falschen Vorstellungen darüber ablegen, wen Gott zur Errettung anderer gebrauchen kann. Warum konzentrieren und fixieren heutzutage so viele Christen (wenn sie denn versuchen zu evangelisieren) ihre Aufmerksamkeit und Mühe auf die „Nikodemusse“ unserer Zeit? Warum bemühen wir uns um diejenigen, von denen wir annehmen, dass sie Ansehen und Einfluss haben, und glauben, dass sie dadurch mehr Menschen zu Christus bringen werden? Sollten wir nicht etwas aus dem Gegensatz zwischen Nikodemus in Kapitel 3 und der Frau am Brunnen in Kapitel 4 lernen? Und ist das nicht genau das, was auch der Apostel Paulus lehrte?

18 Denn die Botschaft vom Kreuz ist Torheit für die, die zugrunde gehen; für uns aber, die wir gerettet sind, ist sie die Kraft Gottes. 19 Denn es steht geschrieben: „Ich will die Weisheit der Weisen zunichte machen, und die Klugkeit der Klugen will ich vereiteln.“ 20 Wo ist der Weise? Wo der Rechtsgelehrte für das Mosaische Gesetz? Und wo der kluge Redner dieser Zeit? Hat Gott nicht die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? 21 Denn da in der Weisheit Gottes die Welt Gott durch ihre eigene Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott, durch törichte Predigt die zu erretten, die daran glauben. 22 Nun fordern die Juden Wunderzeichen, und die Griechen fragen nach Weisheit. 23 Wir aber predigen einen gekreuzigten Christus, einen Stolperstein für die Juden und eine Torheit für die Heiden. 24 Für die aber, die berufen sind, Juden wie Griechen, ist Christus die Kraft Gottes und die Weisheit Gottes. 25 Denn die Torheit Gottes ist weiser als die Weisheit der Menschen, und die Schwachheit Gottes ist stärker als die Stärke der Menschen. 26 Bedenkt die Umstände eurer Berufung, Brüder und Schwestern. Nur wenige waren weise nach menschlichen Maßstäben, nur wenige waren mächtig, nur wenige gehörten zur Oberschicht. 27 Aber Gott erwählte, was die Welt für töricht hält, um die Weisen zu beschämen, und Gott erwählte, was die Welt für schwach hält, um die Starken zu beschämen. 28 Gott erwählte, was niedrig und verachtet ist in der Welt, was als Nichts erachtet wird, und ließ außer Acht, was als Etwas erachtet wird, 29 damit sich niemand in seiner Gegenwart rühmen kann. 30 Er allein ist der Grund dafür, dass ihr Gemeinschaft habt mit Christus Jesus, der für uns zur Weisheit von Gott geworden ist, und zur Gerechtigkeit und Heiligung und Erlösung, 31 damit es so sei, wie es geschrieben steht: „Wer sich rühmt, der rühme sich im Herrn“ (1. Korinther 1:18-31).

Schließlich gibt unser Text auch Anleitung dafür, wie wir die Verlorenen evangelisieren sollten. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass wir unbedingt die Wichtigkeit dieses Dienstes erkennen müssen – er ist Gottes Leidenschaft und sollte auch unsere sein. Er ist so wichtig, dass wir bereit sein sollten, darüber eine Mahlzeit (oder mehr) zu versäumen. Wir müssen unsere Vorurteile ablegen und unsere Prioritäten neu ordnen. Wir müssen dorthin gehen, wo die Verlorenen zu finden sind. Und wir müssen die Menschen dort abholen, wo sie sind – bei Dingen, die sie verstehen und von denen sie wissen, dass sie sie brauchen. Von diesen Dingen aus sollten wir dann zu den tiefer reichenden Themen der Sünde und der Erlösung übergehen. Wir müssen das Recht dazu erst verdienen, und es wird uns wahrscheinlich viel mehr Zeit kosten als unseren Herrn. Aber es ist das, was Gott von uns will, ja, was Er uns befiehlt. Es ist das, was Er Selbst getan hat, um uns zu erreichen und zu erretten. Deshalb müssen wir es auch tun.


181 Ich kann allerdings keine Garantie für die Echtheit dieser Meldung übernehmen, denn ich habe sie von einem Freund gehört. Wahrscheinlich wurde sie über das Internet verbreitet. Ich habe sie so wiedergegeben, wie ich sie erhalten habe.

182 Nur um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich betrachte auch das Pharisäertum von Nikodemus als eine Korrumpierung des wahren Judentums.

183 Morris merkt an: „Johannes’ Wort für ‚verlassen’ wird üblicherweise nicht im Sinne von ‚von einem Ort fortgehen’ benutzt. Es hat oft die Bedeutung ‚aufgeben’, ‚liegen lassen’ (wie in Vers 28 mit Bezug auf den Wasserkrug der Frau), und etwas von dieser Bedeutung mag auch hier mitschwingen.“ Leon Morris, The Gospel According to John [Das Evangelium nach Johannes], (Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans Publishing Co., 1971), S. 253. Anschließend zitiert Morris Morgan: „’Wir sollten diesen Gedanken nicht falsch verstehen, wenn wir sagen, dass Er Judäa verließ, liegen ließ. Er kehrte schon dorthin zurück, aber nur ganz selten. Er war in Judäa gewesen. Er war in den Tempel gegangen. Er hatte Seinen Dienst in der Gegend auf dem Land mit fabelhaftem Erfolg versehen; aber nun regte sich dort Feindseligkeit, und Er verließ Judaä, Er brach mit Judäa.’“ Morris, S. 253, Fn. 10.

184 „Obwohl das unpersönliche Verb dei' (dei, ‘musste’) manchmal so verstanden wird, dass es nur eine logische Notwendigkeit ausdrückt, hat der Gebrauch dieses Wortes im Johannes-Evangelium doch normalerweise mit Gottes Willen oder Plan zu tun (3:7, 14, 30; 4:4, 20, 24; 9:4; 10:16; 12:34; 20:9).“ Studierhinweis zu Vers 4 in der NET-Bibel.

185 „Einige populäre Kommentare bestehen darauf, dass die übliche Route für jüdische Reisende die längere durch das Transjordanland gewesen sei – so groß sei ihre Abneigung gegen die Samariter gewesen. Das wiederum legt die Vermutung nahe, dass die Formulierung ‚musste’ (edei) einen Zwang aufgrund göttlicher Festlegung und nicht aufgrund geographischer Verhältnisse ausdrückt. Von Josephus erhalten wir dagegen nicht nur reichlich Bestätigung dafür, wie ausgeprägt die Abneigung zwischen Juden und Samaritern war, sondern auch dafür, dass die Juden, die von Judäa nach Galiläa und zurück mussten, trotz allem die kürzere Route durch Samarien bevorzugten (Ant. Xx.118; Bel. Ii. 232; Vita 269).“ D.A. Carson, The Gospel According to John [Das Evangelium nach Johannes], (Grand Rapids: William B. Eerdmans Publishing Company, 1991), S. 216. – Morris ergänzt: „Josephus benutzt genau den Ausdruck, der hier mit ‚musste’ übersetzt wird, wenn er sagt ‚für ein schnelles Vorankommen war es unumgänglich, diese Route (d.h. die durch Samarien) zu nehmen’.“ Morris, S. 255. Weiter sagt Morris: „Josephus sagt, dass die Galiläer üblicherweise durch Samarien kamen, wenn sie zu den Festen nach Jerusalem hinaufzogen (Ant. xx, 118).“ Morris, S. 255, Fn. 16.

186 Über die Tageszeit ist man sich hier nicht ganz einig, denn es gab damals zwei Möglichkeiten, die Zeit anzugeben: die römische Methode (nach der es Abend gewesen wäre) und die jüdische Methode, die den Gang der Frau zum Brunnen auf den Mittag festlegen würde. Alles in allem geht man wohl am besten davon aus, dass die Frau am Mittag zu dem Brunnen kam, wo nicht viele andere Menschen zu erwarten waren. Auf diese Weise würde auch der Kontrast hervorgehoben zwischen der Frau und zwischen Nikodemus, der in der Nacht zu Jesus kam.

187 Wo genau „Sychar“ lag, ist nicht bekannt. Morris schreibt: „Sychar ist vielleicht identisch mit dem Ort Askar nahe Schechem. Es wird erwähnt, dass Jakob in dieser Gegend ein Stück Land kaufte (Gen. 33:19). ... Es gibt im Alten Testament keine Erwähnung dessen, dass er dort einen Brunnen gegraben hätte; aber es gibt auch nichts, was dagegen sprechen würde.“ Morris, S. 257.

188 Johannes benutzt hier das Wort phgh‰, und nicht das übliche Fre‰ar. „Über den Unterschied zwischen den beiden Begriffen sagt Loyd: ‘Eine Quelle ist etwas Gottgegebenes. Gott erschafft die Quelle; der Mensch gräbt nur den Brunnen.’ Es ist merkwürdig, dass ein so tiefer Brunnen in einem Land gegraben worden sein soll, wo es zahlreiche Quellen gibt. (Godet sagt, dass es bis zu achtzig Quellen in dieser Gegend gibt.) Der Brunnen muss ursprünglich deutlich über einhundert Fuß tief gewesen sein; es war also keine geringe Mühe, ihn zu graben und auszumauern. Diese Tatsache hat man als Argument dafür genommen, dass der Brunnen wirklich von Jakob gegraben wurde. Nur ein ‚Fremder im Land’ hätte sich solche Mühe gemacht, um einen Brunnen in einem Land zu bauen, das so reichlich mit Quellen versorgt ist! Viele Kommentatoren geben die Tiefe des Brunnens mit 75 Fuß an, aber nach Hendrikson wurde eine Menge Schutt hinausgeräumt und der Brunnen in seiner ursprünglichen Tiefe wiederhergestellt.“ Morris, S. 257, Fn. 20.

189 Die Zeit erlaubt es nicht, das Brunnen-Motiv im Buch Genesis ausführlich zu untersuchen, aber darüber ist anderswo auch schon berichtet worden. Viele wichtige Ereignisse in der Genesis fanden an einem Brunnen statt. An einem Brunnen fand Abrahams Knecht eine Frau für Isaak (siehe Genesis 24). An einem Brunnen sah Jakob Rachel zum ersten Mal (Genesis 29). Und ein Brunnen spielt auch eine entscheidende Rolle für das Überleben von Hagar und ihrem Sohn Ismael (Genesis 16).

190 Siehe auch Johannes 8:1-11.

191 „Nach jüdischem Recht konnte sich eine Frau nicht von ihrem Mann scheiden lassen. Aber sie konnte sich unter bestimmten Umständen an das Gericht wenden, das dann, sofern es ihm rechtens erschien, den Ehemann zwang, sich von ihr scheiden zu lassen (siehe z.B. Mischna, Ket. 7:9, 10). Oder sie konnte ihrem Mann Geld zahlen oder Dienstleistungen anbieten, um ihn dazu zu bringen, sich von ihr scheiden zu lassen (Git. 7:5, 6). Theoretisch war die Zahl der Ehen nicht begrenzt, die man nach einer gültigen Scheidung eingegangen konnte, aber die Rabbis betrachteten für eine Frau zwei, höchstens drei Ehen als das Maximum (SBk, II, S. 437).“ Morris, S. 264, Fn. 43.

192 „Was immer man über die Schicklichkeit einer Bitte um etwas zu trinken denken mag …, hätte doch kein Rabbi je ein Gespräch mit einer Frau geführt. Eine ihrer Redensarteten lautete: ‚Ein Mann soll in einem Gasthaus nicht mit einer Frau alleine sein, noch nicht einmal mit seiner Schwester oder seiner Tochter, um dessentwillen, was die Menschen denken könnten. Ein Mann soll auf der Straße nicht mit einer Frau sprechen, noch nicht einmal mit seiner eigenen Frau und noch weniger mit einer anderen Frau, um dessentwillen, was die Menschen reden könnten.’“ Morris, S. 274, wo er SBk, II, S. 438, zitiert.

193 Beachten Sie auch die Veränderung in Petrus’ Ansicht über Frauen, die in 1. Petrus 3:7 deutlich wird.

194 “Das hier verwendete Verb sugra‰omai wurde gewöhnlich im Sinne von ‚vertrauten Umgang mit jemandem pflegen’ verstanden. D. Daube zeigt jedoch, dass diese Bedeutung nirgendwo sonst gefunden wird und auch auf diesen Abschnitt bezogen höchst unwahrscheinlich ist (JBL, LXIX, 1950, S. 137-147). Im eigentlichen Sinne bedeutet das Verb ‚gemeinsam mit jemandem benutzen’, und das scheint auch die Bedeutung in diesem Text zu sein. Juden benutzen (Gegenstände) nicht gemeinsam mit Samaritern.“ Morris, S. 259, Fn. 25.

195 Siehe Lektion 4, „Die ersten Jünger“.

196 Wartete diese Frau auf einen samaritischen „Messias“, oder war sie schon so weit, dass sie die Worte unseres Herrn über die Erlösung, die „aus den Juden kommt“, annehmen konnte und bereit war, einen jüdischen Messias, wann immer Er kommen würde, zu empfangen? Ich neige zu der Ansicht, dass die Frau, noch während unser Herr zu ihr spricht, weitere Fortschritte im Glauben macht. Sie glaubt Jesus, als Er vom physikalischen, buchstäblichen „Wasser“ zum „geistlichen Wasser“ des ewigen Lebens übergeht, und auch, als Er von der jüdischen messianischen Hoffnung zum Messias – Jesus Selbst – übergeht. Ich glaube, all das geschieht innerhalb von Stunden – nicht nur für die Frau, sondern auch für die Bewohner von Sychar.

197 Wörtlich lautet der griechische Text: „Ich bin; Der,der zu dir spricht.“ Das “Ich bin” steht mit großer Wahrscheinlichkeit in Verbindung mit dem „Ich bin“ in Johannes 8:58, das die Juden als Anspielung auf Exodus 3:14 verstanden. Sie wussten, dass Er damit beanspruchte, Gott zu sein.

198 Siehe Fußnote 3.

199 Manche Menschen vertreten die Ansicht, dass „Leuten“ eigentlich mit „Männern“ übersetzt werden sollte, dass es also die männlichen Bewohner von Sychar sind, mit denen die Frau spricht. In Anbetracht ihrer Situation ist das zumindest eine Möglichkeit. Kein Wunder dann, dass die Männer der Stadt herauskommen, um Den zu sehen, der der Frau „alles, was sie je getan hat“ gesagt hat.

200 Ich weiß, dass die Errettung einen vergangenen, einen gegenwärtigen und einen zukünftigen Aspekt hat. Hier spreche ich allerdings von dem letzten Schritt im Verlaufe des Prozesses, der jemanden zum Glauben an Jesus Christus bringt, und nicht von der anschließenden, immer weiter fortschreitenden Heiligung oder der schließlich und endlich stattfindenden Erlösung.

201 Morris, S. 274, Fn. 68.

202 Ich beeile mich hinzuzufügen, dass es hier meiner Meinung nach keineswegs um irgendetwas Unanständiges in der Art geht, wie Jesus mit jemandem vom anderen Geschlecht umgeht. Jesu Verhalten schockiert, weil Er dieser Frau zutraut, eine intelligente spirituelle und theologische Unterhaltung zu führen, und nicht weil Er sich jemandem vom anderen Geschlecht gegenüber moralisch unangemessen verhalten hätte.

203 Es ist doch interessant, dass Adam und Eva nicht vom Baum des Lebens aßen, sondern dadurch strauchelten, dass sie Gott nicht gehorchten und von der verbotenen Frucht der Erkenntnis von Gut und Böse aßen. Die Korinther ihrerseits waren nicht bereit, auch nur eine Mahlzeit auszulassen, und so bestanden sie darauf, das “Götzen dargebrachte Fleisch” zu essen (1. Korinther 8:10). Auch sie wollten also nicht so lange warten, bis auch ihre Brüder und Schwestern am Tisch des Herrn angelangt wären, sondern entschieden sich dafür, auf Kosten derer zu genießen, die weniger hatten als sie selbst (1. Korinther 11). Essen ist wirklich eine Prüfung, nicht wahr?

204 „J.A.T. Robinson legt, meiner Meinung nach überzeugend, dar, dass sich das Gesagte vorwiegend auf das Werk von Johannes dem Täufer und seinen Anhängern bezieht. Dessen Arbeit auf diesem schwierigen Gebiet hatte den Weg für Jesus und Seine Leute bereitet.” Morris, S. 281-282.

205 Die Ernte scheint länger gedauert zu haben als der kurze Aufenthalt unseres Herrn. „Cullmann sieht – unterstützt von M. Simon (St. Stephanus und die Hellenisten, 1958, S. 36ff.) – in den ‚anderen’ die Hellenisten von Kapitel 8 der Apostelgeschichte (vor allem Philippus), die das Evangelium nach Samarien brachten, während nach ihnen die Apostel Petrus und Johannes die Frucht ihrer Mühen ernteten.“ Morris, S. 282, Fn. 93.

206 Ich weiß wohl, dass das „geht“ in Matthäus 28:19 ein Partizip ist und kein Imperativ, aber die Stoßrichtung der Worte unseres Herrn lässt es zu einem solchen werden, und der grammatische Aufbau unterstützt diese Auffassung ebenfalls. In der NET-Bibel gibt es eine ausgezeichnete Anmerkung dazu bei Vers 19:

„Geht … tauft … lehrt” sind Partizipien, die den Imperativ „macht Jünger“ erweitern. Nach Auffassung von Wallace (Exegetical Syntax [Exegetische Syntax] 645) folgt das erste Partizip (poreuqevnte, „geht“) dem typischen formalen Muster eines begleitenden Umstandswortes (dem Aorist-Verb vorangestelltes Aorist-Partizip, wobei die Form des Hauptverbs gewöhnlich imperativ oder indikativ ist) und übernimmt so die (in diesem Falle imperative) Form des Hauptverbs (maqhteuvsate, „macht Jünger“). Das bedeutet, dass die Tätigkeit des „Gehens“ vom Semantischen her genauso befohlen wird wie die des „Jüngermachens“. Was die beiden dem Hauptverb nachgestellten Partizipien betrifft (baptivzonte, „taufend“ und didavskonte, „lehrend“), so folgen sie nach Wallace nicht dem normalen Muster für begleitende Umstandswörter, da sie Partizip Präsens und dem Hauptverb im Aorist nachgestellt sind. Manche Übersetzer sehen sie dennoch so an, als tragen sie in diesem Zusammenhang zusätzliche imperative Kraft; andere betrachten sie als Mittel, Artung, oder sogar als Ergebnis in Bezug auf das Hauptverb.

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11. Jesus heilt den Sohn des Königlichen Beamten (Johannes 4:43-54)

Einleitung

Ich weiß, wie es ist, wenn ein geliebter Mensch in Lebensgefahr schwebt. Als ich 16 war, wurde meine Mutter bei einem Unfall schwer verletzt, und der Unfallfahrer beging Fahrerflucht. Ich war es, der meine Mutter ins Krankenhaus fuhr, während mein Vater sich bemühte, ihre Blutungen zum Stillstand zu bringen. Als wir am Krankenhaus ankamen, sprang ich aus dem Auto und rannte in das Krankenhaus. Die Diensthabende wollte anfangen, irgendwelche Formulare auszufüllen, aber dem setzte ich rasch ein Ende. Ich brauchte Hilfe für meine lebensbedrohte Mutter und hatte keine Zeit für Papierkram! Später im Leben wachten meine Frau und ich dann eines Morgens auf und stellten fest, dass unser erstes Kind im Schlaf gestorben war. Sie können sich meine Reaktion vorstellen, als unser nächstes Kind einmal offenbar ernsthaft krank wurde. Als ich meine Tochter damals hochhob, verdrehte sie so die Augen, dass man nur noch das Weiße sah. Um Geschwindigkeitsbegrenzungen kümmerte ich mich an dem Tag nicht – nur darum, so schnell wie möglich Hilfe für sie zu erlangen.

Genauso muss es dem königlichen Beamten in unserem Text ergangen sein, denn das Leben seines Sohnes hängt an einem seidenen Faden. Seine einzige Hoffnung ist Jesus. Als er hört, dass Jesus zurückgekehrt und nun in Kana in Galiläa anzutreffen sei, eilt er von seinem eigenen Wohnort Kapernaum aus 20 Meilen weit dorthin. Ob sein Sohn noch lebt oder während der fast acht Stunden, die er für den Weg zu Jesus braucht, schon gestorben ist, weiß der Mann nicht. Aber als er Jesus findet, bewegt ihn nur ein Gedanke – er muss Jesus dazu zu bringen, mit zurück nach Kapernaum zu kommen, und zwar so schnell wie möglich und hoffentlich noch rechtzeitig, um das Leben des Kindes zu retten.

Was für ein Schock muss für diesen königlichen Beamten die Erkenntnis sein, dass Jesus nicht mit ihm nach Kapernaum kommen wird. Schlimmer noch: Die Antwort unseres Herrn auf das Hilfeansinnen des Beamten klingt fast wie ein Tadel. Wie ist das möglich? Wie kann Jesus einem Vater, der doch nur versucht, das Leben seines Sohnes zu retten, so schroff antworten? Diese Frage werden wir beim Studium unseres heutigen Textes zu beantworten versuchen. Es ist ein wunderbarer Text, aus dem wir, ebenso wie der königliche Beamte, etwas lernen können. Hören wir also und lernen, was der Geist Gottes uns in diesem Teil Seines heiligen Wortes zu geben hat.

Die Rückkehr nach Galiläa
(4:43-45)

43 Nach diesen zwei Tagen kehrte er von dort nach Galiläa zurück. 44 (Denn Jesus selbst hatte bezeugt, dass einem Propheten in seinem eigenen Land keine Ehre zuteil wird.) 45 Als er nun nach Galiläa kam, hießen ihn die Galiläer willkommen, weil sie alles gesehen hatten, was er beim Fest in Jerusalem getan hatte. (Denn sie waren selbst bei dem Fest gewesen.)

Diese Verse verursachen manchem Studenten des Neuen Testaments erhebliches Kopfzerbrechen. Das zentrale Problem liegt dabei in Vers 44, wo Jesus bezeugt, dass „einem Propheten in seinem eigenen Land keine Ehre zuteil wird“. Die Verse 44 und 45 werden manchmal als unlogisch empfunden: Warum erzählt Johannes, dass die Galiläer Jesus „willkommen hießen“, wenn Jesus doch der Meinung ist, dass Ihm in „Seinem eigenen Land“ keine Ehre zuteil wird? Alle möglichen Lösungen sind schon für dieses Problem dargeboten worden, dabei scheint es doch eigentlich gar nicht so groß zu sein. Dasselbe Sprichwort findet sich in Matthäus 13:57, Markus 6:4 und Lukas 4:24; und in allen diesen Fällen sind die Umstände die gleichen. Bei Matthäus lesen wir:

53 Als Jesus nun dieses Gleichnis beendet hatte, ging er von dort weg. 54 Er kam in seine Heimatstadt207 und lehrte die Menschen dort in ihrer Synagoge. Sie waren erstaunt und sagten: „Woher hat dieser Mann solche Weisheit und wunderbaren Fähigkeiten? 55 Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns? Ist nicht Maria seine Mutter? Und sind seine Brüder nicht Jakobus und Joseph und Simon und Judas? 56 Und sind nicht alle seine Schwestern hier unter uns? Woher also hat er diese Dinge?“ 57 Und sie nahmen Anstoß an ihm. Jesus aber sagte zu ihnen: „Einem Propheten wird überall Ehre zuteil, außer in seiner eigenen Heimatstadt und in seinem eigenen Hause.“ 58 Und er tat dort nicht viele Wunder um ihres Unglaubens willen (Matthäus 13:53-58).

Jesus ist nach Nazareth gekommen und spricht dort in der Synagoge zu den Menschen. Einige von ihnen sind wahrscheinlich in Jerusalem gewesen, als auch Jesus dort war und Seine Wunderzeichen vollbracht hat (siehe Johannes 2:23, 4:45); und wer nicht persönlich dort war, muss doch auf jeden Fall von den Wundertaten gehört haben, die Er dort vollbracht hat. Als Jesus in Seine „Heimatstadt“ kommt, schlagen folglich die Erwartungen hohe Wellen: „Was wird Jesus hier vollbringen, in Seiner eigenen „Heimatstadt“? Aber trotz der hochgesteckten Erwartungen formiert sich in den Köpfen doch gelegentlich eine Frage. Denn auch wenn Jesus immer mehr zu einer Berühmtheit wird und Nachfolger anzieht, kennen sie doch Seine Ursprünge (oder glauben sie zumindest zu kennen). Nazareth ist Seine Heimatstadt, und so glauben sie, alles über Ihn zu wissen. Sie kennen Seine Mutter und (so glauben sie) Seinen Vater, Seine Brüder und Seine Schwestern. Wie kann irgendjemand von Wichtigkeit so niederen Ursprungs sein? Und da sie Jesus so wahrnehmen, ziehen sich einige Seiner Landsleute zurück oder fallen von ihm ab. Jesus betrachtet diese Reaktion als typisch und sprichwörtlich. Schließlich „wird einem Propheten überall Ehre zuteil, außer in seiner eigenen Heimatstadt und in seinem eigenen Hause“ (Vers 57). Infolgedessen vollbringt Jesus dort, ihres Unglaubens wegen, nur wenige Wunder208.

Lassen Sie uns nun diese Beschreibung einer Predigt unseres Herrn in Nazareth zu unserem Text im Johannes-Evangelium in Bezug setzen, in dem von Seiner Rückkehr nach Galiläa, in Sein „eigenes Land“ die Rede ist. Die naheliegende Frage ist: Wie kann Johannes das Sprichwort vom Propheten zitieren, dem im eigenen Land keine Ehre zuteil wird, und uns gleichzeitig erzählen, dass die Menschen in Galiläa Jesus bei Seiner Ankunft „willkommen heißen“? Beim Vergleich mit dem Bericht von Matthäus sehen wir hier wie dort buchstäblich dasselbe Phänomen: Jesus kehrt in Seine „Heimatstadt“ zurück und wird dort anfänglich wärmstens willkommen geheißen. Die Menschen wissen um die Wunder, die Er in Jerusalem (und vielleicht auch noch anderswo) vollbracht hat und hoffen, dass sie noch viel mehr in dieser Art in ihrer eigenen Stadt zu sehen bekommen werden. Wenn sie andererseits an Jesu Herkunft denken, sind sie sich da gar nicht mehr so sicher. Ist Er gekommen, um die Heiden ebenso zu segnen wie die Juden? Das wäre unverzeihlich (Lukas 4:16-30). Und so endet das, was so gut begann, mit großer Enttäuschung sowohl für unseren Herrn als auch für die Menschen in Seiner „Heimatstadt“.

Hier kommt ein Prinzip zum Tragen, das, einmal erkannt, den scheinbaren Widerspruch in unserem Text sofort löst: Die kurzfristige und oberflächliche Annahme unseres Herrn ist nicht dasselbe wie eine langfristige, aufgeklärte Hingabe an Ihn. Im Gleichnis von den vier Erdböden wird diese oberflächliche, vorübergehende Hingabe, glaube ich, durch die zweite Art von Boden dargestellt:

16 Und das sind die, die auf felsigen Grund gesät werden: Sobald sie das Wort hören, empfangen sie es sofort mit Freuden. 17 Aber sie haben keine Wurzel in sich selbst und bleiben nur eine Zeit lang. Wenn sie dann um des Wortes willen auf Schwierigkeiten oder Verfolgung treffen, fallen sie sofort ab209 (Markus 4:16-17).

Wir sollten also nicht glauben, dass die Galiläer Jesus wahrhaftig als ihren Messias annehmen, nur weil sie Ihn anfangs „willkommen heißen“. Diese Leute sind noch nicht einmal „Zeichengläubige“ – sie sind Ungläubige, die von den Zeichen fasziniert sind. Der Besuch unseres Herrn in Seiner Heimat endet mit einer Enttäuschung, und doch genau so, wie es unser Herr beabsichtigt hat. Er hat Judäa verlassen, weil Er dort zu schnell zu berühmt geworden ist (Johannes 4:1-3), und ist in Seine Heimat gegangen, um nicht so sehr „geehrt“ zu werden. Dort in der Heimat wird Er anfangs zwar willkommen geheißen, aber Er wird nicht wirklich geehrt.

Die Bitte des königlichen Beamten
(4:46-50)

46 So kam er erneut nach Kana in Galiläa, wo er das Wasser zu Wein gemacht hatte. In Kapernaum aber gab es einen königlichen Beamten, dessen Sohn war krank. 47 Als der hörte, dass Jesus aus Judäa nach Galiläa gekommen war, ging er zu ihm hin und bat ihn dringend, hinab zu kommen und seinen Sohn zu heilen, denn der lag im Sterben. 48 Jesus sprach zu ihm: „Wenn ihr keine Zeichen und Wunder seht, werdet ihr niemals glauben.“ 49 Der Beamte sagte zu ihm: „Herr, komm zu uns, bevor mein Kind stirbt.“ 50 Jesus sprach zu ihm: „Geh nach Hause, dein Sohn wird leben.“ Der Mann glaubte das Wort, das Jesus zu ihm gesagt hatte, und machte sich auf den Weg nach Hause.

Ich möchte hier eine Tatsache nicht verschweigen, die von anderer Seite sehr wichtig genommen wird: Gelegentlich wird gesagt, diese Episode sei nur eine andere Version der Geschichte von der Heilung des Dieners des Zenturion (Matthäus 8:5-13; Lukas 7:2-10). Der Ähnlichkeiten sind hier wenige, aber es gibt zahlreiche Unterschiede. Erlauben Sie mir, einige dieser Unterschiede zu nennen:

  • Der Zenturion ist ein Heide, der königliche Beamte dagegen offenbar ein Jude.
  • Der Sklave des Zenturions leidet an einer Lähmung, der Sohn des königlichen Beamten an einer fieberhaften Erkrankung.
  • Der Zenturion ist in Kapernaum, der königliche Beamte in Kana.
  • Der Glaube des Zenturions ruft Jesu Lob hervor; der königliche Beamte und die anderen werden für ihren Mangel an Glauben getadelt.
  • Der Zenturion drängt Jesus, nicht zu ihm zu kommen, sondern nur ein Wort zu sprechen; der königliche Beamte drängt Jesus, zu ihm zu kommen.
  • Der Zenturion veranlasst die jüdischen Ältesten, für ihn zu bitten; der königliche Beamte bittet Jesus selbst.210

Ich glaube, wir können also mit Recht annehmen, dass der Bericht über das Wunder von der Heilung des Sohnes des königlichen Beamten einmalig ist – so wie der größte Teil des Materials im Johannes-Evangelium.

Jesus kehrt also zurück nach Kana in Galiläa, wo Er das Wasser zu Wein gemacht hatte (Johannes 2:1-11). Ein königlicher Beamter211, der in Kapernaum lebt, hört, dass Jesus wieder in Kana ist. Der Sohn dieses Beamten ist todkrank; und wie verzweifelt der Vater sein muss, weiß jeder, der so etwas je durchgemacht hat. Jesus ist seine letzte und einzige Hoffnung auf Rettung für seinen Sohn. Eilig macht er sich auf den 20 Meilen langen Weg nach Kana, um Jesus aufzusuchen. Er findet Ihn und bittet Ihn, sofort mit nach Kapernaum zurückzukommen und seinen Sohn zu heilen, der ansonsten sterben würde.

Die Antwort, die unser Herr dem königlichen Beamten gibt, ist seltsam, ja fast irritierend: „Jesus sprach zu ihm: ‚Wenn ihr keine Zeichen und Wunder seht, werdet ihr niemals glauben.’“ Die NET-Bibel weist, wie auch einige andere Übersetzungen, ausdrücklich darauf hin, dass das „ihr“ in Vers 48 im Plural und nicht im Singular gemeint ist. Jesus spricht also zu einem größeren Publikum und nicht nur zu dem königlichen Beamten. Ich könnte mir vorstellen, dass der königliche Beamte in der Stadt herumfragt, um herauszukriegen, wo sich Jesus aufhält. Dabei sammelt sich eine Gruppe neugieriger Gaffer und folgt dem königlichen Beamten zu Jesus, in der Hoffnung, dass Der ihnen ein Wunder vorführen werde. Jesus ist aber aus Judäa fortgegangen und nach Galiläa gekommen, um der öffentlichen Aufmerksamkeit aus dem Weg zu gehen, denn Er möchte nicht vorzeitig unangemessene messianische Hoffnungen wecken. Unser Herr ist also wohl kaum darauf aus, jetzt ein Wunder so zu vollbringen, dass Er dadurch schon wieder alle Aufmerksamkeit auf Sich Selbst lenkt.

Wenn nun unser Herr mit dem königlichen Beamten zu dessen Haus in Kapernaum zurückgekehrt wäre, wären Ihm vermutlich eine ganze Menge Menschen dorthin gefolgt. Und wenn die dann Zeugen der Heilung des Kindes geworden wären, hätten sie anderen davon erzählt, und dann wären die Leute wieder in Strömen zu unserem Herrn gekommen, um geheilt zu werden. Das möchte Jesus vermeiden. Und mit Seiner Antwort an den Beamten, wie auch an die versammelten Zuschauer, erreicht unser Herr, was Er will: die Menschenmenge löst sich auf. Was Er da äußert, ist eine Zurechtweisung. Diese Galiläer glauben nicht wirklich an Ihn als den Messias. Sie wissen nur, dass Er anderswo Zeichen vollbracht hat und wollen sehen, ob Er das (oder vielleicht sogar noch mehr) auch für sie tun wird. Jesus rügt sie zu Recht dafür, dass sie nur an Seinen Wundern interessiert sind und sich dabei die eigentliche Bedeutung dieser Wunder nicht zu Herzen nehmen. Die Botschaft von Jesu Tadel ist die, dass unser Herr jetzt nicht für Seine Zuhörer „durch den Reifen springen“ wird, den sie ihm hinhalten. Wenn sie nur gekommen sind, um ein Wunder zu erleben, dann werden sie für den Moment leer ausgehen. Alles, was sie erleben, ist eine Zurechtweisung.

Warum noch weiter ausharren, wenn nichts Sensationelles geschieht? Ich denke, die Menschen werden sich daraufhin wohl zerstreut haben. Natürlich hätten ihnen die folgenden Worte Jesu zu denken geben sollen. Jesus sagt ja zu dem Mann: „Geh nach Hause, dein Sohn wird leben.“ Rückblickend aus heutiger Sicht würde man also vielleicht erwarten, dass die gesamte Stadt dem Beamten nach Kapernaum gefolgt wäre, um zu sehen, ob sich die Worte unseres Herrn tatsächlich bewahrheiten. Aber denken Sie daran: Diese Menschen sind Wundersucher und keine Männer und Frauen des Glaubens. Sie gehören nicht zu denen, die an Jesus als ihren Messias glauben. Als sie unseren Herrn sagen hören „Geh nach Hause, dein Sohn wird leben“, sagen sie sich wahrscheinlich „Ja, ja – schon recht!“ und glauben, dass diese Worte nur darauf abzielen, den hartnäckigen Vater loszuwerden, aber nicht wirklich die Heilung des Sohnes zusichern. Es ist nicht überliefert, dass irgendjemand den Beamten nach Kapernaum begleitet hätte, noch dass irgendjemand außer dessen eigenen Dienern zum Glauben an Jesus gekommen wäre. Die Menge zerstreut sich, die Wundersucher gehen fort, sie sind enttäuscht und vielleicht auch etwas verärgert.

Allerdings scheint unser Herr bei seinem Tadel an die Menge doch auch den königlichen Beamten selbst mit einzuschließen. Mangelt es unserem Herrn hier nicht an Mitgefühl für den verzweifelten Mann, dem es doch einzig und allein um das Wohlergehen seines Sohnes geht? Man mag durchaus versucht sein zu fragen: „Wie kann denn Jesus so rüde sein, so unsensibel, so kritisch?“ Darf ich vorschlagen, dass wir den Ausweg aus diesem Dilemma im Markusevangelium suchen:

24 Jesus verließ den Ort und begab sich in die Gegend von Tyrus. Er ging in ein Haus und wollte nicht, dass es die Leute erfuhren, aber es gelang ihm nicht, unbemerkt zu bleiben. 25 Vielmehr hörte sogleich eine Frau von ihm, deren Tochter einen unreinen Geist hatte. Sie kam und fiel zu seinen Füßen nieder. 26 Die Frau war eine Griechin aus Syrophönizien. Sie bat ihn, den Dämon aus ihrer Tochter auszutreiben. 27 Er sprach zu ihr: „Lass zunächst die Kinder satt werden. Denn es ist nicht recht, dass man den Kindern das Brot wegnimmt und es den Hunden vorwirft.“ 28 Sie antwortete: „Ja, Herr, aber selbst die Hunde unter dem Tisch essen die Brotkrumen der Kinder.“ 29 Da sprach er zu ihr: „Weil du das gesagt hast, geh hin: Der Dämon hat deine Tochter verlassen.“ 30 Sie ging nach Hause und fand das Kind auf dem Bett liegend, und der Dämon war fort (Markus 7:24-30)

Ist unser Herr hier unangemessen schroff zu dieser heidnischen Frau, die Ihn bittet, einen Dämon aus ihrer Tochter auszutreiben? Ich glaube nicht. Erstens einmal stimmt es, was Jesus sagt. Er ist „zuerst zu den Juden“ gekommen und dann zu den Heiden (siehe Matthäus 10:5-6; Römer 1:16, 2:9-10). Darüber hinaus bin ich der Meinung, dass unser Herr hier mit dieser Frau gerade so umgeht, dass Er sie zum Glauben inspiriert. Geht denn die Frau eingeschüchtert weg, nachdem sie gehört hat, was Jesus sagt? Nein – sie hakt um ihrer Tochter willen sogar noch intensiver nach und erinnert Ihn daran, dass die Heiden ebenso wie die Juden von Seiner Herabkunft profitieren sollen.

Dasselbe geschieht, glaube ich, in unserem Text. Die unbeteiligten Zuschauer sind nur Wundersucher und lassen sich vermutlich von den Worten unseres Herrn nach Hause schicken. Der königliche Beamte will seinen Sohn nicht sterben lassen und er weiß, dass Jesus seine einzige Hoffnung ist. Mag sein, dass sein Glaube schwach ist, dass er sehen muss um zu glauben, aber er glaubt jedenfalls, dass Jesus in der Lage ist seinen Sohn zu heilen, und deshalb beharrt er auf seinem Ansinnen. Ich glaube, die Worte unseres Herrn drängen ihn in die richtige Richtung: Sie zielen nicht darauf ab, dass er sich abwendet, sondern dass er sich im Glauben zu Jesus wendet.

Nach allem, was wir lesen, glaubt der Beamte offenbar an das Sprichwort „Wo Leben ist, ist Hoffnung“. Er denkt, dass Jesus Kranke heilen, aber nicht Tote auferwecken kann.212 Und es ist kein Wunder, dass er so denkt, denn Jesus hat bisher noch niemanden von den Toten auferweckt. Und der königliche Beamte glaubt offenbar, dass Jesus seinen Sohn zwar heilen kann, wenn Er direkt vor ihm steht, aber nicht aus 20 Meilen Entfernung. Aber dann sagt Jesus zu diesem Beamten: „Geh nach Hause; dein Sohn wird leben.“ und der Beamte geht nach Hause. In den wenigen Minuten, in denen er mit Jesus verhandelt hat, scheint der Glaube dieses Mannes schon gewachsen zu sein. Und so geht der Beamte fort und kehrt zu seinem Sohn zurück im Glauben an die Worte unseres Herrn.

Das erinnert mich an meine Zeit als Seminarstudent im Masters-Programm. Ich trug mich für einen Kurs ein, der von Dr. S. Lewis Johnson gehalten wurde. Dr. Johnson lehrte damals an der Believers Chapel, wo ich seine Kurse besuchte, und ich trug wirklich reichen Segen von seinem Dienst davon. Ich wollte am liebsten sämtliche Kurse belegen, die er am Seminar anbot. Als er einen Kurs „Wie Paulus das Alte Testament benutzt“ anbot, meldete ich mich dafür an. Am ersten Kurstag war Dr. Johnson offensichtlich überrascht darüber, wie viele Studenten den Kurs belegt hatten – mehr als er erwartet hatte und mehr als ihm lieb war. Deshalb eröffnete Dr. Johnson der Klasse, dass es sich hier um einen „Promotionskurs“ für angehende Doktoren handelte, der für alle anderen zu schwierig wäre. Er forderte uns buchstäblich auf, den Kurs zu verlassen und irgendeinen anderen zu belegen. Ich rührte mich nicht vom Fleck. Ich wollte diesen Kurs machen und ich würde mich davon nicht durch seine Warnungen abhalten lassen. Ich überlebte den Kurs und schnitt sogar ganz vernünftig ab. Einige „fielen ab“ aufgrund dessen, was er sagte, aber ich nicht. Ich wusste, was ich wollte, und ich wusste, dass ich es von ihm wollte. Genauso verhielt es sich auch mit dem königlichen Beamten und Jesus.

Das Wunder und der Glaube
(4:51-54)

51 Und als er hinabging, kamen ihm seine Sklaven entgegen und sagten ihm, dass sein Sohn leben werde. 52 Also erfragte er von ihnen den Zeitpunkt, zu dem dessen Zustand sich zu bessern begonnen hatte, und sie sagten ihm: „Gestern um ein Uhr nachmittags verließ ihn das Fieber.“213 53 Da wurde dem Vater bewusst, dass das genau der Zeitpunkt war, zu dem Jesus ihm gesagt hatte: „Dein Sohn wird leben.“ Und er wurde, gemeinsam mit seinem ganzen Haushalt, gläubig. 54 Das ist das zweite Wunder, das Jesus tat, als er von Judäa nach Galiläa kam.

Jesus sagt zu dem königlichen Beamten: „Geh nach Hause, dein Sohn wird leben.“ Die Bitte des königlichen Beamten erfüllt sich also nicht: Jesus ist nicht bereit, mit ihm nach Kapernaum zurückzugehen. Trotzdem glaubt der Mann Jesus; er verlässt Ihn und kehrt nach Hause zurück. Was genau glaubt er? Ich denke, er vertraut Jesus einfach, obwohl er nicht genau weiß, was Der eigentlich gemeint hat. Er versteht Jesu Worte so, dass sein Sohn noch nicht gestorben ist und auch nicht sterben wird. Auf dem Weg nach Hause müssen ihm unzählige Gedanken durch den Kopf gegangen sein, während er wohl sämtliche Möglichkeiten in Betracht zog. Aber noch während er unterwegs ist, kommen ihm seine Diener entgegen, die Neuigkeiten über den Zustand des Kindes haben und nicht wollen, dass ihr Herr länger als irgend nötig von Sorgen gequält wird.

Wir sollten hier einen Moment innehalten und das Ereignis aus der Sicht der Diener214 betrachten. Der Sohn ihres Herrn wird sehr krank und sie müssen hilflos zusehen, wie das Fieber gefährlich hoch ansteigt. Sie wissen, dass der Junge sterben wird, wenn nicht bald etwas geschieht. Sie sehen, wie ihr Herr voller Verzweiflung nach Kana in Galiläa eilt, weil er hofft, Jesus zu finden und dazu zu überreden, dass Er kommt und das Kind heilt. Nachdem ihr Herr fortgegangen ist, verschlechtert sich der Zustand des Kindes immer weiter. Sie verlieren allmählich jegliche Hoffnung und mögen gar nicht daran denken, wie ihr Herr wohl reagieren wird, wenn er nach Hause zurückkehrt und seinen Sohn tot vorfindet. Dann ist das Fieber auf einmal gebrochen und das Kind erholt sich zusehends. Die Diener wissen, dass die Gefahr vorüber ist und der Junge leben wird. Sie haben keine Ahnung, wie das geschehen ist; aber sie wollen auf keinen Fall, dass ihr Herr unnötig lange von Sorgen gequält wird, und daher gehen einige von ihnen los, ihrem Herrn entgegen, um ihm die gute Nachricht zu überbringen.

Sobald der Herr in Sicht ist, rufen sie ihm schon von Weitem die gute Nachricht zu: Sein Sohn wird leben. Die Worte klingen verblüffend ähnlich wie die Zusicherung, die der Vater nur wenige Stunden zuvor von unserem Herrn erhalten hat. Man sieht das Gesicht dieses Vaters geradezu vor Augen: den Ausdruck von Erleichterung und Freude, die ihn überkommen – aber dann ändert sich seine Miene kaum merklich und wird nachdenklicher. Der Vater beginnt, eins und eins zusammenzuzählen. Er bemerkt (im Gegensatz zu seinen Dienern), wie sehr die Worte der Diener denen von Jesus ähneln. Jesus hatte Recht und das Vertrauen des königlichen Beamten war offenbar begründet. Aber der Mann beginnt nun über diese Worte nachzudenken. Hat Jesus als Prophet gesprochen und ihm versichert, dass sein Kind sich von alleine erholen und nicht sterben werde? Oder hat Jesus durch Sein Wort eine wunderbare „Fernheilung“ bewirkt, als Er ihm etwa acht Stunden zuvor zusicherte, dass der Junge leben werde?

Es gibt einen Weg, das herauszufinden. Also richtet der Herr folgende Frage an seine Diener: „Wieviel Uhr war es denn genau, als es dem Jungen so plötzlich besser ging?“ Sie erzählen ihm, dass die Wende um 13:00 mittags eingetreten ist. Da weiß er es mit Sicherheit, denn das war genau der Zeitpunkt, zu dem Jesus ihm zusicherte, dass es seinem Kind gut gehen werde: Es ist tatsächlich ein Wunder, ein Wunder, das unser Herr durch ein einziges Wort vollbracht hat. Ein Wunder wie bei der Schöpfung, als Er die Welt durch Sein Wort ins Sein brachte (siehe Johannes 1:1-3; Hebräer 11:3; Genesis 1).

Der Vater215 erkennt, dass er Zeuge eines Wunders geworden ist, und er „wird, gemeinsam mit seinem ganzen Haushalt, gläubig“. Haben wir nicht bereits in Vers 50 gehört, dass er „glaubte“? Dort glaubte der Beamte, was Jesus sagte. Den Glauben in Vers 53 sehe ich als einen tieferen, aufgeklärten Glauben, einen Glauben an Jesus als den Messias, als den Erlöser der Welt. Der Mann und sein gesamter Haushalt werden zu einem Haushalt des Glaubens. So ist es mit dem Glauben. Sehen Sie sich die Jünger in den Evangelien an. Im ersten Kapitel des Johannes-Evangeliums sehen wir einige Jünger zum Glauben an Jesus als den verheißenen Messias gelangen. Dann sehen sie, wie der Herr Wasser in Wein verwandelt, und es wird wiederum gesagt, dass sie an Jesus glaubten (Johannes 2:11). Im Verlaufe des Lebens unseres Herrn vollbringt Er immer mehr Wunder und die Jünger werden davon Zeuge. Und je mehr sie von Ihm sehen, umso mehr wächst ihr Glaube an Ihn. Der Glaube ist nichts Statisches, nichts, was wir einmal erfahren und was dann anschließend immer unverändert bleibt. Unser Glaube sollte immer mehr wachsen, während wir unseren Herrn und Sein Wort immer besser kennenlernen, während wir erkennen, dass Der, auf den wir unser Vertrauen gesetzt haben, noch viel größer ist, als wir gedacht haben!

In Vers 54 sagt Johannes, dass dies das zweite Wunderzeichen war, das Jesus vollbrachte, als Er von Judäa nach Galiläa kam. Das kann nicht bedeuten, dass Er nur zwei Zeichen vollbrachte, denn wir wissen, dass Johannes sehr wählerisch bezüglich der Zeichen war, die er in seinen Bericht aufnahm (Johannes 2:23, 3:2, 20:30-31). Es ist das zweite dieser „ausgewählten“ Wunder, die dazu da sind, Männer und Frauen zum Glauben an Jesus als den verheißenen Erlöser zu bringen.

Schlussfolgerung

Was für ein großartiges Wunder das doch ist! Merken Sie es: Dieses Wunder ist dem von der Verwandlung des Wassers in Wein in gewisser Weise sehr ähnlich. Durch die Art und Weise, wie Er das Wasser in Wein verwandelt, verhindert Jesus, dass die meisten Menschen bei der Hochzeit auch nur mitbekommen, dass irgendetwas geschehen ist. Ein „Zeichen“ ist es offenbar für wenige und bewirkt den Glauben der Jünger unseres Herrn (Johannes 2:11). Genauso ist es auch, als der Sohn des königlichen Beamten geheilt wird. Wenn Jesus das Wunder so vollbracht hätte, wie der Beamte gehofft hat (nämlich indem Er persönlich zu dem Kind gekommen wäre und Seinen Dienst an ihm verrichtet hätte), wären viele Menschen mitgegangen und die Popularität unseres Herrn hätte ordentlich zugenommen. Aber das ist es nicht, was unser Herr zu diesem Zeitpunkt will. Deswegen hat Er ja Judäa verlassen und ist nach Galiläa zurückgekehrt (4:1-3). Jesus vollbringt das Wunder so, dass nur der Beamte erkennt, dass es ein Wunder ist. Und als der vor seinen Dienern „Zeugnis ablegt“ für dieses Wunder, werden auch sie Mitglieder im „Haushalt des Glaubens“. Jesus vollbringt also nicht nur ein Wunder, sondern Er tut es auch noch so, dass es mit Seinen Absichten im Einklang steht.

Jesus vollbringt dieses Wunder so, dass der Glaube des Beamten von einem „Zeichenglauben“ zu einem „Wortglauben“ wird. In Kapitel 2 führt Johannes nämlich ein Thema ein, das sich durch sein ganzes Evangelium hindurchzieht:

23 Und als Jesus während der Feier des Passah in Jerusalem war, glaubten viele Menschen an seinen Namen, weil sie die Wunderzeichen sahen, die er tat. 24 Aber Jesus vertraute sich ihnen nicht an, weil er alle Menschen kannte. 25 Er hatte es nicht nötig, dass irgendjemand Zeugnis über einen Menschen ablegte, denn er wusste, was im Menschen war (Johannes 2:23-25; Hervorhebung durch R. Deffinbaugh).

Es ist ganz offensichtlich, dass „Zeichenglaube“ unserem Herrn nicht gefällt, denn Er vertraut Sich den „Zeichengläubigen“ nicht an. Zeichenglaube ist nicht schlecht für den Anfang, aber man sollte es nie dabei belassen. Jesus möchte, dass die Menschen ihren Glauben auf Sein Wort gründen und nicht auf Wunder.

Johannes der Täufer vollbrachte kein einziges Wunder, aber seine Worte waren mächtig und viele glaubten daran. Nikodemus war, wie auch seine Mit-Pharisäer, nicht bereit, Jesus bei Seinem Wort zu nehmen. Er hatte immer noch eine weitere Frage, und doch brachten ihn alle Fragen (zu diesem Zeitpunkt) nicht zum Glauben (Johannes 3). Die Frau am Brunnen nahm Jesus beim Wort, und die Einwohner von Sychar genauso (Johannes 4:4-42). Die Galiläer waren zwar beeindruckt von den Zeichen, die unser Herr tat, aber sie waren weniger geneigt, Sein Wort anzunehmen. Und der königliche Beamte gelangte an den Punkt, dass er bereit war, Jesus bei Seinem Wort zu nehmen, und so wurden er und sein Haushalt gläubig.

Falls ich Ihnen inzwischen vorkomme wie eine Schallplatte die einen Sprung hat und ständig dasselbe Motiv wiederholt, kann ich nur sagen, dass auch Johannes dieses Motiv ständig wiederholt: „Zeichenglaube“ ist weniger wert als „Wortglaube“. Wer unserem Herrn als Jünger folgen will, muss Ihn nach Seinem Willen bei Seinem Wort nehmen.

Wir können von diesem königlichen Beamten noch etwas anderes lernen. Er täuscht sich, als er (zunächst) annimmt, dass Gott unsere Bitten nur so erfüllen kann, wie wir es Ihm vorschreiben. So machen wir es ja gerne, wenn wir beten: Wir sagen Gott, was wir möchten, und anschließend sagen wir Ihm, wie Er es anstellen soll. Wir gehen davon aus, dass unsere Erwartungen an Sein Handeln am ehesten dem entsprechen, wie Er handeln kann und wird. So denkt der königliche Beamte, dass Jesus seinen Sohn nur heilen kann, wenn Er nach Kapernaum kommt und dort persönlich Seinen Dienst an dem Kind verrichtet. Aber darin täuscht er sich. Unser Herr will den Sohn dieses Mannes schon heilen, aber auf Seine eigene Weise. Er muss dazu gar nicht am Bett stehen, Er kann ihn aus der Entfernung heilen. (Und, menschlich gesehen: Wenn Jesus zugestimmt hätte und mit dem Beamten gegangen wäre, hätte der Sohn gut und gern in der Zeit sterben können, die sie unterwegs gewesen wären. Aber natürlich hätte Er den Jungen dann auch von den Toten auferwecken können.) So, wie unser Herr das Kind heilt, vermeidet Er, dass die Massen Zeuge des Wunders werden, und beschränkt die zum Glauben Kommenden auf den Beamten und dessen Haushalt. Geben wir also nicht gleich die Hoffnung auf, wenn Gott Sich weigert, „durch unseren Reifen zu springen“, und unsere Gebete nicht so erhört, wie wir es erwarten.

33 Oh, wie tief sind der Reichtum und die Weisheit und die Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Entscheidungen und wie unergründlich seine Wege! 34 Denn wer hat des Herrn Sinn erfasst, und wer ist je sein Ratgeber gewesen? 35 Oder wer hat Gott etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste? 36 Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen (Römer 11:33-36).

9 Sondern so, wie geschrieben steht: „Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört und kein Sinn je erdacht hat – das ist, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben“ (1. Korinther 2:9).

Gott gefällt es, unsere Gebete so zu erhören, dass Seine Macht und Gnade und Ehre und Souveränität dadurch hervorgehoben werden. Wir sollten Ihm also besser vertrauen, dass Er unsere Gebete auf Seine Weise erhöht.

Bevor ich schließe, möchte ich Sie noch auf ein sehr wichtiges Prinzip hinweisen: Gott bringt oft Widrigkeiten in unser Leben – Widrigkeiten, denen zu begegnen über unsere eigenen Fähigkeiten hinausgeht, so dass wir zu Ihm als zu unserer einzigen Hoffnung kommen müssen, so dass wir auf Ihn alleine vertrauen müssen. Ich bezweifle sehr, dass der königliche Beamte 20 Meilen weit gereist wäre, um Jesus um Heilung seines Sohnes zu bitten, wenn der Sohn Fußpilz oder einen eingewachsenen Zehennagel gehabt hätte. Dieser Mann ist verzweifelt. Er hat keine Hilfe und keine Hoffnung außer Jesus Christus. Jesus hat es Selbst gesagt: Er ist gekommen, um die Kranken zu heilen, nicht um den Gesunden zu dienen. Es gab Menschen, die nur deshalb zu Jesus kamen und mit Ihm argumentierten, damit sie selbst gut dastünden und Er schlecht. Aber abgesehen von solchen Unruhestiftern waren die meisten, die in den Evangelien zu Jesus kommen, Menschen, die verzweifelt nach Hilfe suchten, die verletzt und hilflos waren.

Bist du verletzt? Fühlst du dich hilflos und nicht in der Lage zu bewältigen, was ansteht? Das könnte die gnädige Hand Gottes sein, die dich zu Ihm zieht, zu Seiner Barmherzigkeit und Gnade in deiner Zeit der Not. Seien wir ehrlich: Wir suchen Gott nicht, wenn alles gut für uns läuft, sondern wir neigen dazu, uns nur in unserer Schwäche, unserer Not und unserer Verzweiflung an Gott zu wenden. Wenn das auch für dein Leben zutrifft, dann ist es möglicherweise die gnädige Hand Gottes, die dich nötigt, im Glauben zu Ihm zu kommen. Nimm Ihn bei Seinem Wort. Komm zu Ihm, der die Erfüllung all deiner Bedürfnisse ist.


207 Der hier benutzte griechische Ausdruck für „Heimatstadt“ findet sich in Matthäus 13:54,57, Markus 6:1,4 und Lukas 4:24 und wird in der NET-Bibel in allen diesen Fällen mit „Heimatstadt” übersetzt. Man darf daher begründet annehmen, dass derselbe Begriff, wenn er in Johannes 4:44 verwendet wird, auch dort im Wesentlichen dieselbe Bedeutung hat.

208 Hier handelt es sich um eine ausgesprochen interessante Umkehrung von Tatsachen: Johannes schrieb sein Evangelium – und nahm darin all die Zeichen auf, die Er vollbracht hat – damit die Menschen zum Glauben an Jesus als den Christus kämen (20:31). Die Menschen in Nazareth andererseits glauben nicht, und deshalb erleben sie auch nur sehr wenige Wunder.

209 Das griechische Wort, das in Markus 4:17 mit „abfallen“ übersetzt wird, ist im Prinzip dasselbe, das in Matthäus 13:57 mit „Anstoß nehmen“ übersetzt wird.

210 Siehe Leon Morris, The Gospel According to John [Das Evangelium nach Johannes], (Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans Publishing Co., 1971), S. 288.

211 Basilikov“ wird zwar oft als „Edelmann“ übersetzt; es bezieht sich hier aber ziemlich sicher auf einen Mann, der in Diensten von Herodes, dem Tetrarchen von Galiläa (im NT als König bezeichnet: Mar 6:14,22; Mat 14:9) steht. Kapernaum war eine Grenzstadt, deshalb hatten dort sicherlich zahlreiche Verwaltungsbeamte ihren Wohnsitz.“ Anmerkung des Übersetzers in der NET-Bibel.

212 Vergleiche Marthas Worte in Johannes 11:21.

213 Manche Menschen zerbrechen sich sehr den Kopf darüber, wie spät es eigentlich war, als Jesus dem Beamten zusicherte, dass sein Sohn leben werde. Da es zwei Arten der Zeitangabe gibt (die römische und die jüdische), ist hier schon ein gewisser Raum für unterschiedliche Meinungen darüber, um wieviel Uhr genau Jesus dem Beamten zusichert, dass sein Sohn leben wird. Nach dem römischen System der Zeiterfassung wäre es um 7:00 abends gewesen, nach dem jüdischen System um 13:00 mittags. Manche Menschen fragen sich auch, warum der Mann für seinen Heimweg einen vollen Tag gebraucht haben sollte, und es gibt jede Menge Theorien zur Erklärung der scheinbaren Unstimmigkeiten. Offen gesagt: Johannes fand diese Einzelheiten gar nicht wichtig genug, um sie alle mitzuteilen. Zudem haben sie auch offensichtlich nichts mit der Bedeutung und Botschaft dieses Wunders zu tun; deshalb übergehe ich dieses Thema hier.

214 Sie sollten sich zu dieser Bezeichnung einmal die Anmerkung des Übersetzers in der NET-Bibel ansehen.

215 Beachten Sie, dass der Beamte jetzt in Vers 53 als „der Vater“ bezeichnet wird, denn das ist seine vorrangige Rolle. Er agiert in dieser Situation nicht als königlicher Beamter, sondern als ein besorgter Vater.

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12. Jesus heilt den Mann am Teich von Bethesda (Johannes 5:1-18)

Einleitung

Vor Kurzem zeigte mir meine Tochter ein Buch, in dem einige ausgesprochen merkwürdige Gesetze verzeichnet sind, die in unserem Lande immer noch Gültigkeit haben. Zu diesen „umwerfenden“ Gesetzen gehören die Folgenden:

  • „In Pennsylvania wird Fluchen mit einem Bußgeld von vierzig Cent bestraft. Wenn allerdings Gott in dem Fluch vorkommt, beträgt das Bußgeld siebenundsechzig Cent.“
  • „Es ist verboten, den Namen der Stadt Joliet in Illinois falsch auszusprechen.“
  • „In Utah verlangt es das Gesetz, dass zwischen einem tanzenden Paar Tageslicht zu sehen sein muss.216
  • „In San Francisco ist es nicht erlaubt, einen Korb an einer Stange zu tragen.“
  • „Goldfische dürfen in Seattle, Washington, nicht busfahren, wenn sie dabei nicht still liegen.“
  • „Früher wurde nach dem Gesetz von Michigan in jedem Winter die Durchführung einer Bienenzählung verlangt.“
  • „In Natchez, Mississippi, dürfen Elefanten kein Bier trinken.“
  • „Eine alte Verordnung in Hollywood, Kalifornien, verbietet es, mehr als zweitausend Schafe auf einmal über den Hollywood-Boulevard zu treiben.“
  • „In Muncie, Indiana, dürfen Sie kein Angelzeug auf den Friedhof mitnehmen.“
  • „Das Strafgesetzbuch von Kalifornien verbietet es, Tiere – mit Ausnahme von Walen – aus einem Auto heraus zu schießen.“
  • „In Kansas City, Missouri, ist es Kindern per Gesetz verboten, eine Schreckschusspistole zu erwerben. Das Gesetz hindert sie aber nicht daran, eine richtige Pistole zu kaufen.“
  • „Ein Gesetz in Minnesota fordert, dass Unterwäsche von Männern und Frauen nicht gleichzeitig auf einer Wäscheleine aufgehängt wird.“
  • „In Joliet, Illinois, dürfen Frauen nicht mehr als sechs Kleidungsstücke auf einmal in einem Laden anprobieren.“217

Ich führe diese „umwerfenden“ Gesetze unseres eigenen Landes hier auf, weil ich im Folgenden auf einige der „umwerfenden“ jüdischen Gesetze zu Zeiten Jesu eingehen möchte. Man mag geneigt sein zu schmunzeln, wenn man diese Gesetze liest, und sich zu wundern, wie lächerlich sie doch sind. Bevor wir uns aber zu sehr vom Lachen hinreißen lassen, möchte ich doch eines sagen: Jedes einzelne dieser scheinbar lächerlichen Gesetze erfüllte für die Gesetzgeber zu der Zeit, als es Gesetz wurde, einen Sinn. Die „umwerfenden“ Gesetze entstanden nicht aus dem Nichts; sie stellten den Versuch eines Gesetzgebers dar, irgendein reelles Problem seiner Zeit zu umgehen oder zu lösen. Und damit Sie nicht auf die Idee kommen, dass Gesetzgeber gerne ihre Zeit damit verbringen, dumme Gesetze zu erfinden, möchte ich hier noch sagen, dass sie das wohl wegen der „umwerfenden“ Menschen wie du und ich tun müssen.

Als Eltern sollten wir ja wohl verstehen, wie so etwas zustande kommt. Unseren Kindern würden wir am liebsten ein ganz allgemeines Prinzip oder eine allgemeine Richtlinie vorgeben und dann darauf vertrauen, dass sie sie befolgen. Wir wünschten, beispielsweise, wir könnten zu unseren Kindern sagen: „Sei doch einfach zu einer vernünftigen Zeit wieder zu Hause.“ Das Problem dabei ist, dass die Kinder eine andere Auffassung von „vernünftig“ haben als wir; also müssen wir eine genaue Zeit angeben. Oder das Kind sagt: „Mama, kann ich nach nebenan zu Charlie spielen gehen?“ Wir sagen: „Nein, ich möchte nicht, dass du bei Charlie zu Hause mit ihm spielst.” Also geht das Kind nach nebenan und spielt mit Charlie draußen im Hof (um unsere Vorgaben einzuhalten) oder im Haus mit Charlies Bruder. Demzufolge lernen wir, die Regeln immer spezifischer zu formulieren, damit unsere Kinder auch das tun, was wir mit den Regeln beabsichtigt haben. Und je spezifischer wir die Regeln formulieren, umso dümmer erscheinen sie anderen.

Damit will ich nicht das Pharisäertum oder den Legalismus der Juden zur Zeit Jesu verteidigen. Viele von deren Gesetzen wären sehr schwer zu verteidigen. Trotzdem muss ich schon sagen, dass die meisten der Vorschriften, auf die ich jetzt gleich Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte, wahrscheinlich notwendig wurden, weil die Menschen nicht Willens waren, allgemeine Prinzipien zu befolgen. Dadurch waren die religiösen Führer gezwungen, immer detailliertere Regeln aufzustellen, bis sie schließlich aus Mücken geradezu unglaubliche Elefanten machten. Es folgen also einige der jüdischen Vorschriften aus der Zeit unseres Herrn:

Einige dieser detaillierten Vorschriften gehen wunderbar durch. Beispielsweise: ‚Ein Mann darf (am Sabbat) von einem anderen ein Fass Wein oder Öl borgen, vorausgesetzt dass er nicht zu ihm sagt: ‚Leihe es mir’ (Shab. 23:1)’. Leihen hätte eine Transaktion beinhaltet, und bei einer Transaktion musste man vielleicht etwas aufschreiben, und Schreiben war verboten. Oder aber: ‚Wenn ein Mann die Lampe (in der Sabbatnacht) auslöscht, weil er Angst vor den Heiden oder vor Dieben oder vor einem bösen Geist hat oder weil er einen Kranken zum Schlafen bringen will, so ist er nicht schuldig; (wenn er es aber in derAbsicht tut) um die Lampe zu schonen oder Öl zu sparen oder den Docht zu sparen, ist er schuldig’ (Shab. 2:5). Die Haltung gegenüber dem Heilen wird deutlich durch die merkwürdige Bestimmung, dass ein Mann nicht Essig auf seine Zähne tun darf, um seine Zahnschmerzen zu lindern. Im normalen Gang der Dinge darf er aber mit den Mahlzeiten Essig zu sich nehmen, und die Rabbis zogen den philosophischen Schluss: ‚Wenn er dadurch geheilt wird, ist er eben geheilt!’ (Shab. 14:4).218

Die Mischna sagt: ‚Wer am Sabbat Korn erntet, so viel wie eine Feige, der ist schuldig; und wer Ähren pflückt, der erntet.’ Körner aus den Ähren zu lösen war dreschen. Selbst auf dem Gras zu laufen war am Sabbat verboten, weil es ja eine Art Dreschen darstellte. An anderer Stelle sagt der Talmud: ‚Wenn eine Frau den Weizen rollt, um die Spelzen zu entfernen, bedeutet das, die Spreu vom Weizen zu trennen; wenn sie die Ähre reibt, ist es so gut, als dresche sie; wenn sie die seitlichen Anhängsel entfernt, ist es so gut wie die Frucht auszusieben; wenn sie sie in ihrer Hand hochwirft, ist es worfeln.’ (Jer. Shabt, S. 10a). Die Juden nahmen es mit dem Sabbat extrem und geradezu lächerlich genau. Ein jüdischer Seemann, der eines Freitags nach Sonnenuntergang in einen Sturm geriet, weigerte sich trotz Todesgefahr, das Ruder auch nur anzufassen. Tausende ließen sich in den Straßen von Jerusalem durch Antiochus Epiphanes dahinschlachten, anstatt am Sabbat zu ihrer Selbstverteidigung eine Waffe zu erheben! Für solche Puristen war die Handlung der Jünger eine krasse Entweihung des Sabbatgesetzes. Und das Schlimmste war, dass Jesus so etwas auch noch erlaubte und guthieß.219

In den obigen Zitaten bezieht sich J.W. Shepard auf die Sabbatgesetze zu Jesu Zeiten; aber man würde fehlgehen in der Annahme, dass sich mit der Zeit etwas zum Besseren geändert hat. Ein Freund lieh mir einmal ein Buch von Rav Jehoshua J. Neuwirth mit dem Titel ‚Shemirath Shabbath: A Guide to the Practical Observance of Shabbath’ [Sabbat-Gesetze: Leitfaden für die praktische Einhaltung des Sabbat]220. Dieses Buch (mein Freund weist mich darauf hin, dass es nur der erste Band ist) behandelt bis ins Detail die Interpretation und Anwendung der Sabbatvorschriften für den zeitgenössischen Judaismus. Im Vorwort zu seinem Werk schreibt der Autor: „Die Mischna (Chagiga: Kapitel 1, Mischna 8) vergleicht die Gesetze des Sabbat mit ‚Bergen, die an einem Haar aufgehängt sind’, indem eine Vielzahl von Vorschriften und Regeln, einschließlich der schwersten Strafen für den, der sie bricht, auf den allerentferntesten Hinweisen aufgebaut sind, die sich nur in einem Bibelvers finden lassen.“221

Der Autor erinnert uns ferner an die Bedeutung, die der Judaismus schon immer der Einhaltung des Sabbat beigemessen hat und noch immer beimisst:

Mögen wir doch den Vorzug genießen, durch die richtige Einhaltung des Sabbat die endgültige Erlösung Israels zu sehen. Rabbi Jochanan sagte im Namen von Rabbi Simon ben Jochai: „Wenn Israel nur zweimal den Sabbat richtig einhalten würde, würden sie sofort erlöst werden“ (Shabbath 118b). Bis zu diesem Zeitpunkt ist Gottes einziger Wohnort auf dieser Erde innerhalb der vier Wände der Halacha (Berachoth 8a).222

Das Buch enthält zahlreiche Anweisungen zur Einhaltung des Sabbats. Ich erwähne hier nur einige davon:

Kochen in praktisch jeder Form (Dünsten, Grillen, Backen, Braten etc.) ist am Sabbat verboten, besonders wenn dabei auf über 45°C (113° Fahrenheit) erhitzt wird.223

Wenn der Heißwasserhahn versehentlich aufgedreht gelassen wurde, darf er am Sabbat nicht zugedreht werden.224

Wenn Gas entweicht, kann man das Gas abdrehen, aber nicht auf die normale Art und Weise: Man muss den Schalter eines Gasbrenners mit dem Handrücken oder mit dem Ellbogen zudrehen.225

Die Essenszubereitung ist in großem Ausmaß von den Sabbatgesetzen betroffen. Man darf keine Zitrone in ein Glas Eistee auspressen, aber man kann Zitrone auf ein Stück Fisch auspressen.226

Im alttestamentarischen Gesetz wird gelehrt, dass man kein Feuer am Sabbat anmachen darf (vgl. Exodus 35:3). Die strenggläubigen Juden verstehen das so, dass damit auch das An- oder Ausschalten von elektrischem Licht am Sabbat verboten ist. Das Problem kann aber dadurch gelöst werden, dass man einen Timer benutzt, der diese Aufgabe automatisch erledigt.227

Ebenso darf ein Jude am Sabbat nicht die Klimaanlage anschalten, aber er könnte einen Nicht-Juden dazu bringen, das zu tun.228

Mit einem Stück Seife darf man am Sabbat nicht baden, aber flüssige Seife ist akzeptabel.229

Am interessantesten finde ich den Teil, der sich mit den „gefundenen Gegenständen“ beschäftigt (S. 233-235): Am Sabbat darf man keine Gegenstände transportieren. Das sollte die Händler davon abhalten, am Sabbat ihre Geschäfte zu machen. Das Gesetz wurde dann so weit verfeinert, dass man jetzt noch nicht einmal irgendetwas tragen darf, was man aus Versehen mitgenommen hat. Wenn man am Sabbat unterwegs ist und feststellt, dass man irgendetwas in der Tasche hat, gibt es mehrere Möglichkeiten, um den Sabbat nicht zu verletzen. Man kann den Gegenstand beispielsweise fallen lassen; aber nicht auf die normale oder übliche Weise (indem man ihn fasst, aus der Tasche nimmt und auf den Boden fallen lässt), sondern man kann seine Tasche umstülpen und den Gegenstand auf unnatürliche Weise – aber damit gesetzeskonform – loswerden. Wenn der Gegenstand wertvoll ist und man ihn nicht auf dem Boden liegen lassen möchte, kann man einen Nicht-Juden bitten, darauf aufzupassen. Alternativ könnte man den Gegenstand auch weitertragen, aber nicht auf die normale Art und Weise. Man darf ihn eine vorgeschriebene Strecke (etwas weniger als vier amoth) weit tragen, ihn dann ablegen, wieder aufnehmen, und so weiter. Alternativ könnte man ihn abwechselnd mit einem anderen Israeliten tragen, wobei jeder den Gegenstand immer nur die erlaubte Strecke weit trägt. Wo sich diese Vorgehensweise nicht empfiehlt, kann man den Gegenstand auf irgendeine unnatürliche Weise tragen, ihn zum Beispiel in den Schuh stecken, an sein Bein binden, oder ihn irgendwo zwischen die Kleidung und den Körper klemmen.

Die folgenden Regeln über das Arbeiten am Sabbat fügt Morris noch hinzu:

Mischna, Shab. 7:2 führt neununddreißig Arten von Arbeit an, die am Sabbat verboten sind. Die letzte davon ist „irgendetwas aus einem Bereich in einen anderen zu überführen“. Eine interessante Regelung sorgt dafür, dass, wenn jemand „einen lebenden Menschen auf einem Sofa überführt, er des Sofas wegen nicht schuldig wird, da das Sofa dabei sekundär ist“ (Shab. 10:5). Daraus folgt ganz klar, dass das Hinübertragen des ‚Sofas’ als solches eine Schuld wäre.230

Das alles erzähle ich Ihnen nicht zur Erheiterung, sondern als Vorbereitung auf die Themen, die sich beim Studium von Johannes, Kapitel 5, und auch noch später im Johannes-Evangelium ergeben werden. In Kapitel 5 findet eine entscheidende Veränderung statt. Bisher haben die Zeichen und Wunder vielleicht noch nicht alle überzeugt, aber sie haben eindeutig bewirkt, dass einige Menschen zum Glauben kamen. Als Jesus Wasser in Wein verwandelt, erkennen nur wenige, was geschehen ist, und nur von den Jüngern unseres Herrn wird gesagt, dass sie „glaubten“ (Johannes 2:11). Als unser Herr nach Jerusalem geht und den Tempel reinigt (Johannes 2:12-22), vollbringt Er eine Reihe von Zeichen, die dazu führen, dass einige „an seinen Namen glaubten“ (2:23-25). Und Nikodemus ist zumindest von den Zeichen beeindruckt, die Jesus vollbracht hat (3:2). Die Samariter brauchen dagegen kein Zeichen, sondern viele von ihnen glauben an Jesus, als sie Sein Wort hören (4:4ff.). Der königliche Beamte, der zu Jesus kommt, glaubt gezwungenermaßen dem Wort, das Jesus spricht, und das Wunder, das daraus resultiert, bewirkt dann, dass er gemeinsam mit seinem ganzen Haus zum Glauben kommt (4:43-54).

Wenn wir aber in das fünfte Kapitel des Johannes-Evangeliums kommen, rufen die Wunder unseres Herrn plötzlich eine intensive Opposition und Verfolgung hervor. Die Heilung des Mannes am Teich von Bethesda erzeugt eine so heftige Reaktion, dass die Juden danach umso entschlossener sind, Jesus zu töten. In Kapitel 6 speist Jesus die 5000 – aber nachdem Er diese Möchtegern-Jünger darüber aufklärt, dass sie an Seinen Opfertod glauben müssen, verlassen Ihn buchstäblich alle. In Kapitel 7 schicken die Juden Beamten aus, um Jesus verhaften zu lassen, als Er in Jerusalem erscheint. In Kapitel 8 wollen etliche Ihn gleich steinigen, als Er in einer lebhaften Diskussion mit den Juden die Äußerung tut: „Ehe Abraham ins Dasein kam, bin ich!“. Von Kapitel 5 an sind die Juden entschlossen, Jesus loszuwerden. Und je weiter die Zeit voranschreitet, umso tiefer wird ihre Abneigung gegen Jesus.

Wenn wir nun unser Studium des fünften Kapitels beginnen und dabei Zeuge der wunderbaren Werke unseres Herrn werden, die hier eine so heftige Reaktion hervorrufen, wollen wir doch genau hinhören und lernen, was Gott uns damit lehren will.

Die Szenerie
(5:1-15)

1 Etwas später war ein231 jüdisches Fest, und Jesus ging hinauf nach Jerusalem. 2 Nun gibt es in Jerusalem beim Schaftor einen Teich mit fünf überdachten Säulengängen, der auf aramäisch Bethesda heißt. 3 In diesen Säulengängen lagerte eine große Zahl von Kranken, Blinden, Verkrüppelten und Gelähmten [„die warteten darauf, dass sich das Wasser bewegte. 4 Denn ein Engel des Herrn kam zu bestimmten Zeiten herab und rührte das Wasser auf. Wer aber als Erster in das bewegte Wasser hineinstieg, der wurde geheilt, was immer auch sein Leiden war.“]

5 Es war dort auch ein Mann, dessen Behinderung schon achtunddreißig Jahre währte. 6 Als Jesus diesen Mann dort liegen sah und erkannte, dass er schon so lange Zeit krank war, sprach er zu ihm: „Willst du gesund werden?“ 7 Der Kranke antwortete ihm: „Herr, ich habe keinen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser aufgerührt wird. Und bis ich in das Wasser komme, ist schon ein anderer vor mir hinuntergegangen. 8 Jesus sprach zu ihm: „Steh auf! Nimm deine Bettstatt auf und gehe.“ 9 Sofort war der Mann geheilt, und er nahm sein Bettzeug auf und ging umher.

(An diesem Tag war aber der Sabbat.) 10 Daher sagten die jüdischen Beamten zu dem Geheilten: „Es ist dir am Sabbat nicht erlaubt, dein Bett zu tragen.“ 11 Er aber gab ihnen zur Antwort: „Der Mann, der mich gesund gemacht hat, sagte zu mir: ‚Nimm deine Bettstatt auf und geh.’“ 12 Da fragten sie ihn: „Wer war denn dieser Mann, der zu dir gesagt hat: ‚Nimm deine Bettstatt auf und geh.’?“ 13 Aber der Geheilte wusste nicht, wer es war; denn da an dem Ort sehr viele Menschen waren, war Jesus unbemerkt gegangen.

14 Später fand Jesus ihn beim Tempel und sprach zu ihm: „Sieh, du bist gesund geworden. Sündige nicht weiter, damit dir nichts Schlimmeres zustößt.“ 15 Der Mann ging fort und sagte den jüdischen Beamten, dass es Jesus gewesen war, der ihn geheilt hatte.

Wir wissen nicht, welches „Fest“ Jesus „hinauf nach Jerusalem“ (siehe Fußnote 16) führte. Offensichtlich war es Johannes nicht wichtig, uns das wissen zu lassen, denn diese Information würde nichts zum Verständnis dessen beitragen, was folgt. Früher gab es zudem beträchtliche Diskussionen über den Ort, an dem Jesus auf den behinderten Mann traf; das aber scheint heute recht sicher geklärt. William Hendriksen schreibt:

Nach vielem Rätselraten darüber, um welchen Teich es sich hier handelt, ist dessen Lokalisation schließlich zur Zufriedenheit der meisten Wissenschaftler festgestellt worden. Der Teich (oder eigentlich der Speicher, der diesen Teich bildete) wurde im Jahr 1888 bei der Wiederherstellung der Kirche St. Anne im nordöstlichen Teil von Jerusalem freigelegt. Ein verblasstes Fresko an der Wand stellt einen Engel dar, der das Wasser „aufwühlt“. Es scheint also, dass die frühe Kirche dieses Wasserbecken als Bethsatha angesehen hat. Zu Zeiten unseres Herrn hatte es fünf Porticos oder überdachte Kolonnaden, wo die Kranken vor jeglichem Wetter geschützt lagern konnten.232

Ein Heer von körperbehinderten Menschen versammelt sich um diesen Teich. Unter ihnen ist ein Mann, der schon seit 38 Jahren behindert ist. Wir wissen nicht genau, was ihm fehlt, aber offenbar kann er sich aufgrund seiner Erkrankung nicht fortbewegen, denn er würde fremde Hilfe benötigen, um in den Teich zu gelangen (Vers 7). Die große Frage ist: Was tun alle diese gebrechlichen Menschen am Teich von Bethesda?

Wer mich kennt, weiß, dass ich normalerweise nicht einfach bestimmte Passagen aus der Schrift abtue, nur weil sie in einer Reihe von hochangesehenen Handschriften nicht erscheinen.233 Obwohl beispielsweise umstritten ist, ob die Geschichte von der „ertappten Ehebrecherin“ in Kapitel 8 ursprünglicher Bestandteil der Schrift ist, bin ich durchaus geneigt, sie als solchen anzunehmen. Die fraglichen Verse in unserem Text hier scheinen allerdings wirklich nicht ursprünglich zu sein; sie wirken eher wie der spätere Versuch einer Erklärung für das, was der gebrechliche Mann in Vers 7 sagt. Meine Bedenken, ob das Ende von Vers 3 sowie der gesamte Vers 4 wirklich Teil des ursprünglichen Textes sind, will ich hier kurz zusammenfassen.234

Erstens fehlen diese Verse über einen Engel, der das Wasser des Teiches aufrührt, in den besten Handschriften. Keines der besten und ältesten Manuskripte enthält diese Worte, die dementsprechend auch nicht in der A.R.V überliefert werden. Andererseits zeigt bereits Tertullian (ca. 145-220 v.Chr.), dass er diese Textstelle kennt, denn er stellt fest:

„Ein Engel pflegte durch seine Einwirkung den Teich von Bethsaida in Bewegung zu setzen. Darauf gab Acht, wer über schlechte Gesundheit zu klagen hatte, denn wer immer dann als Erster in das Wasser hinabstieg, war des Klagens nach dem Bade enthoben“ (Über die Taufe, Kap. 5) 235

Zweitens ähneln die behaupteten „Wunderheilungen“ am Teich von Bethesda keiner der anderen Heilungen, die man in der Bibel findet. Denken Sie einmal darüber nach: Haben Sie je von einem derartigen Wunder in der Bibel gelesen, dass ein Engel irgendwie Wasser energetisiert und der Erste im Wasser anschließend geheilt wird? Wo liest man je, dass Engel an Heilungen beteiligt sind? Wasser wird zwar oft bei Heilungen benutzt, aber die entsprechenden Wunder sind immer spezifisch – und nicht unpersönlich. Naaman wurde vom Aussatz geheilt, als er Elisas Anweisung folgte und sieben Mal in den Jordan eintauchte (2. Könige5). Menschen werden individuell und spezifisch geheilt, und nicht nach dem Motto „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“. Selbst im Fall der Bronzeschlange, auf die in Johannes 3 Bezug genommen wird, wird jeder geheilt, der zu der Schlange aufschaut. Mit diesem Wunder hier hat es etwas ganz absonderliches, ganz ungewöhnliches (darf ich sagen: „aufrührendes“?) auf sich. Heilt Gott wirklich jemanden, nur weil der als Erster mit Klauen und Ellbogen seinen Weg zum Teich freimacht?

Drittens war es nicht die Zeit für Wunder. Die 400 Jahre, die zwischen dem letzten Buch des Alten Testamentes und der Ankunft Christi liegen, waren eine Zeit der Stille. Soweit ich weiß, sprachen oder schrieben in dieser Zeit keine Propheten. Erst Jesus brach diese Stille. Johannes bahnte den Weg für Jesus, aber es wird ausdrücklich gesagt, dass er keine Wunder vollbrachte (Johannes 10:41). Warum sollten wir annehmen, dass es für die auf einen „das Wasser aufrührenden“ Engel wartenden Menschen am Teich „Wunder im Angebot“ gab, wenn es doch gar nicht die Zeit für Wunder war?

Viertens ist der gebrechliche Mann, dessen Worte in Vers 7 gar nicht zur Diskussion stehen, kein Mann des Glaubens, und daher sollten seine Bemerkungen über die angeblichen magischen Fähigkeiten des Teiches mit Vorsicht betrachtet werden. Ich bezweifle gar nicht, dass dieser Mann annahm, dass der Teich zu gewissen Zeiten Heillwirkung hatte, aber ich stelle ernsthaft infrage, dass das tatsächlich so war. Hören sie, was Carson dazu sagt:

Der Behinderte hing anscheinend dem populären Glauben an, dass nach dem Aufrühren des Wassers der Erste und nur der Erste im Teich auf wunderbare Weise geheilt würde. Andere mehr oder weniger mit Jesus zeitgenössische Quellen beinhalten keine weitere Bestätigung dieses Glaubens, aber ein entsprechender Aberglaube, sowohl im Altertum als auch in modernen Zeiten, findet sich leicht.236

Fünftens ist es ganz und gar nicht ungewöhnlich, dass sich Kranke um mineralhaltige Gewässer versammeln, denen heilende Kräfte zugesprochen werden.

Ganz allgemein gesagt, war es zu keiner Zeit etwas Ungewöhnliches, wenn Menschen, die von den verschiedensten Krankheiten betroffen waren, bei Mineralquellen zusammenkamen. Denken Sie nur an die Quellen in der Umgebung von Tiberias oder, in unserem eigenen Land, and die Wasser von Hot Springs, Arkansas, denen schon lange vor der Ankunft der Spanier heilende Wirkung zugesprochen wurden.237

Sechstens wundere ich mich darüber, warum Jesus diesen Mann fragen sollte, ob er gesund werden will – und noch mehr wundert mich die Antwort des Mannes. Warum fragt Jesus den Mann, ob er gesund werden will? Und warum antwortet der Mann nicht einfach mit „Ja“? Stattdessen scheint er sein „System“ dagegen verteidigen zu wollen, dass es ihm keine Heilung gewährt. Er macht andere für sein Scheitern verantwortlich, da ihm ja keiner in den Teich hilft und andere immer schneller sind als er. Anders als die Frau am Brunnen in Kapitel 4 oder selbst Nikodemus in Kapitel 3 scheint dieser Mann keine geistliche Erkenntnis zu haben, kein theologisches Wissen und definitiv keinen Glauben.238 Aus der nachfolgenden Einschätzung von Carson wird ersichtlich, dass er nicht viel von diesem Typen hält:

Er versucht, Schwierigkeiten mit den Behörden aus dem Weg zu gehen, indem er die Schuld auf den schiebt, der ihn geheilt hat (Vers 11); er ist so ungerührt, dass er zunächst noch nicht einmal den Namen seines Wohltäters in Erfahrung bringt (Vers 13), und nachdem er ihn schließlich herausgefunden hat, zeigt er Jesus bei den Behörden an (Vers 15). So gesehen, liest sich Vers 7 weniger wie eine angemessene und feinfühlige Antwort auf Jesu Frage als wie die mürrische Beschwerde eines alten und nicht sehr empfänglichen Mannes auf das hin, was er einfach für eine dumme Frage hält.239

Vielleicht hilft es, wenn ich meine Vorbehalte mit dem folgenden Vorschlag an Sie zusammenfasse: Sehen Sie sich die Wunderheilung durch das vom Engel aufgerührte Wasser doch einmal so an, wie sie in einem Film über diesen Lebensabschnitt unseres Herrn erscheinen würde. Um textgetreu zu sein, lassen wir eine sehr große Zahl von Kranken und Verletzten am Teich von Bethesda zusammenkommen. Jeder von ihnen ist hoffnungslos und unheilbar krank; man kann nichts mehr für sie tun. Alles, was sie selbst tun können, ist betteln und hoffen und beten, dass ein Wunder geschieht. Mit welcher Begeisterung würden sie all die Geschichten glauben, die über Wunderheilungen am Teich kursieren, selbst wenn sie selbst noch niemals wirklich jemanden geheilt gesehen hätten.

Plötzlich beginnt das Wasser des Teiches in irgendeiner Form zu schäumen oder zu blubbern oder zu brodeln und allgemeines Chaos bricht aus. Ein Mensch nur wird durch die „Bewegung“ des Wassers geheilt werden – derjenige, der als Erster im Teich ist. Jeder einzelne Gebrechliche dort am Teich konkurriert jetzt mit der gesamten Menge der anderen, die ebenfalls auf Heilung hoffen. Ob und wann das Wasser in Bewegung gerät, wagt keiner dem anderen zu sagen, denn der könnte ja dann den Teich vor ihm erreichen. Können Sie sich das Drängeln, Schieben und Treten vorstellen, wenn alle Kranken gleichzeitig versuchen, als Erste ins Wasser zu gelangen? Was für ein Mitleid erregender Anblick, all die Verkrüppelten, die kriechend, hüpfend, rollend, robbend den Weg zum Rand des Gewässers überwinden. Was für ein Chaos das wäre! Und selbst wenn dann ein Mensch geheilt würde, wäre es nicht derjenige, der die Heilung am nötigsten hat, denn derjenige mit der geringsten Behinderung hätte ja die größten Chancen, als Erster im Teich zu sein. Der Bedürftigste dagegen hätte die geringsten Chancen, zuerst ins Wasser zu gelangen. Also würde wahrscheinlich der am wenigsten Bedürftige geheilt werden, während sich alle anderen aus dem Wasser hinaus und zurück auf ihre „Posten“ kämpfen, um dort auf die nächste Chance zu warten. Was für ein Bild des Jammers!

Zweierlei Ansichten über dieses Wunder

Man kann die Heilung des Mannes am Teich von Bethesda auf vielerlei Weise verstehen. Ich möchte Ihnen zwei extreme Sichtweisen vorstellen – und Sie sind dann gefordert, sich für die eine oder die andere, oder für irgendeinen Mittelweg, zu entscheiden.

„Best Case“-Szenario

Bei der Betrachtung dieser Geschichte wollen wir in jedem Zweifelsfall für den gelähmten Mann entscheiden: Es kommt wirklich von Zeit zu Zeit ein Engel zum Teich und rührt ihn auf; und der Glückliche240, dem es gelingt, den gesamten Rest der Gebrechlichen auszumanövrieren, erlangt Heilung. Jesus kommt am Teich vorbei, Ihm fällt speziell dieser eine Typ auf, der wohl schon am längsten von allen erfolglos ist, und Er fragt ihn, ob er geheilt werden möchte. Der Mann sagt im Prinzip „Ja“. Jesus fordert ihn auf aufzustehen, seine Bettstatt aufzunehmen und zu gehen, und im Vertrauen auf Jesus tut der Mann das auch. Zufällig geschieht das am Sabbat. Der Geheilte wird sofort von „den Juden“ aufgehalten, die ihn darauf hinweisen, dass er das Gesetz bricht, wenn er am Sabbat sein Bett trägt. Er sagt ihnen, dass derjenige, der ihm befahl aufzustehen und zu gehen, ihm auch befohlen hat sein Bett mitzunehmen. (Was er meint ist: Wenn Er ihm befehlen konnte zu gehen – und er dann tatsächlich gehen konnte – kann es ja nur falsch sein, Ihm nicht zu gehorchen, wenn Er befiehlt, das Bett mitzunehmen.) Er sagt seinen Anklägern auch, dass er keine Gelegenheit hatte, den Namen Dessen herauszufinden, der ihn geheilt und ihm befohlen hat, das Bett zu tragen.

Der ehemalige Gelähmte macht sich auf den Weg zum Tempel, wo er Gott preist und ein Opfer darbringt. Während der Mann beim Tempel anbetet, findet ihn Jesus und mahnt ihn, nicht weiter zu sündigen, damit ihm nichts Schlimmes zustoße. Der Mann erkennt, dass es Jesus war, der ihn geheilt hat. Und er ist so dankbar für seine Heilung, dass er es nicht lassen kann, anderen davon zu erzählen. Als er den Juden erzählt, dass es Jesus war, der ihn geheilt hat, geht es ihm nur darum, Zeugnis abzulegen für seine Heilung und für das großartige Werk, das unser Herr vollbracht hat.

„Worst Case“-Szenario

Der Gelähmte ist einer von vielen körperbehinderten Menschen, die sich am Teich von Bethesda eingefunden haben. Das ist wahrscheinlich ein relativ bequemer Platz, wo man sowohl vor der Sonnenhitze als auch vor den kalten, beißenden Winterwinden geschützt ist. Es ist vielleicht auch ein guter Ort zum Betteln, denn es kommen immer viele Menschen zu dem Teich, genauso wie Jesus ja auch. Außerdem besagt der Volksglaube, dass von Zeit zu Zeit ein Engel dorthin kommt und das Wasser aufrührt, so dass der Erste, der daraufhin in den Teich gelangt, geheilt wird. Der Mann wartet am Teich und hofft auf eine solche Heilung.

Als Jesus zum Teich kommt, erregt der Gelähmte weder durch sein Betteln noch durch seine Gebete oder seine Frömmigkeit die Aufmerksamkeit unseres Herrn, sondern deshalb, weil unser Herr erkennt, dass dieser Mann schon 38 Jahre lang so leidet. Unser Herr wählt ihn aus und fragt ihn, ob er gesund werden möchte. Er fragt ihn nicht, ob er den Glauben hat, geheilt zu werden, denn in diesen Kategorien denkt der Mann ja überhaupt nicht. Er ist fixiert auf eine einzige Art von „Wunder“: auf das Wunder, dass es ihm gelingen würde, als Erster in das vom Engel aufgerührte Wasser zu gelangen. Er gesteht nicht ein – und wird auch nie eingestehen –, dass er durch sein System gar keine Heilung erlangen kann. Statt dessen sucht er Ausflüchte: Es ist ja nicht seine Schuld; keiner hilft ihm, in das aufgewühlte Wasser zu kommen; irgendjemand ist immer schneller auf dem Weg zum Teich als er. Wenn er irgendetwas von Jesus erhofft, dann dass Der neben ihm stehen bleibt, bis das Wasser wieder „aufgerührt wird“, und ihm dann schnell ins Wasser hilft.

Jesus diskutiert nicht mit dem Mann über seinen Aberglauben für die Heilung. Aber die Art und Weise, wie Er ihn heilt, steht schon in deutlichem Gegensatz zu dem System des Mannes: Der Mann muss auf „aufgewühltes Wasser“ warten. Jesus heilt ihn augenblicklich und ohne die Hilfe des Wassers. Der Mann ist Teil einer Menschenmenge, die alle darauf hoffen, durch eigene Anstrengung und Initiative (wenn auch vielleicht mit Unterstützung anderer) vor all den anderen Gebrechlichen ins Wasser zu gelangen und so durch eigene Anstrengung Heilung zu erlangen – nach dem Motto „Nur der Stärkste überlebt“ (oder vielmehr der Schnellste). Jesus heilt den Mann, ohne dass der Ihn auch nur selbst darum bitten muss. Auf die Anweisung unseres Herrn hin stellt sich der Mann auf seine eigenen Füße, nimmt seine Bettstatt auf und geht.241 Wie es scheint, kann er gar nicht anders als gehorchen. Das geschieht so, damit aus der Mobilisierung des Mannes nicht gleich eine große Szene entsteht, die die Aufmerksamkeit der gesamten Menschenmenge erregt. Und auf diese Weise „geht Jesus unbemerkt“ und ohne Hysterie unter den Massen von leidenden Menschen zu erzeugen, die sonst alle hätten geheilt werden wollen.

Während der Mann am Sabbat mit seiner Bettstatt unterwegs ist,242 wird er von den religiösen Führern der Juden angehalten. Sie interessieren sich eigentlich nicht für diesen Menschen – sie erkennen noch nicht einmal seine Heilung an, geschweige denn, dass sie sich vielleicht darüber freuen würden.243 Das einzige, was ihnen auffällt, ist, dass er „gegen die Regeln verstößt“ – gegen ihre Regeln.244 Der geheilte Gelähmte hat nun schon schrecklich schnell eine Entschuldigung bei der Hand: Es ist ja nicht seine Schuld, argumentiert er, er tut nur, was ihm aufgetragen wurde. Der, der ihn geheilt hat, hat ihm gesagt, er solle seine Bettstatt aufnehmen und gehen. Was hätte er da tun sollen? Und schon ist aus Dem, der ihn geheilt hat, Der geworden, der Schuld hat.

Die Juden verlangen nun zu wissen, wer genau dieser Mensch war, der ihm aufgetragen hat, seine Matte aufzuheben und zu gehen. Aber der Mann hat keine Ahnung. Bei all den vielen Menschen am Ort ist es Jesus gelungen, „unbemerkt zu gehen“245. Der Mann wäre niemals in der Lage gewesen, Jesus als den an seiner Heilung „Schuldigen“ zu identifizieren, wenn ihn unser Herr nicht Selbst – zum zweiten Mal – ausgesucht hätte. Diesmal findet Jesus den Mann im Tempel. So gerne, wie man möchte, dass dieser Mann „zum Licht kommt“, ist man fast geneigt, das als Zeichen für eine Art Glauben zu akzeptieren. Aber wenn der Mann gläubig geworden ist – warum erwähnt Johannes das dann nicht, so wie er es doch jedes Mal vorher getan hat? Schlimmer noch: Warum erzählt uns Johannes, dass der Mann anschließend die Juden aufsucht, um ihnen zu sagen, dass es Jesus ist, den sie suchen? Der Mann ist ein Judas – ein Verräter, der sich gegen Den wendet, der ihm nur Gutes getan hat.

Warum also sucht Jesus den Mann im Tempel auf? Und warum bin ich so sicher, dass der Mann dort nicht Gott preist und anbetet? Ich will Ihnen zuerst einmal eine Frage stellen: Gehen Sie davon aus, dass jemand allein dadurch, dass er in die Kirche – in irgendeine Kirche – geht, schon ein wahrer Glaubender ist und sich dort aufhält, um in Geist und Wahrheit anzubeten? Viele Menschen sind aus den falschen Gründen in der Kirche. Wie viele sind dann im Tempel, um dort Gott in Geist und Wahrheit anzubeten? Als Jesus zu einem früheren Zeitpunkt einmal in den Tempel ging, hielt Er es für notwendig, Menschen (und Vieh) aus dem Tempel zu treiben. Ist denn die Tatsache, dass sie sich im Tempel befanden, ein Beweis für ihre Frömmigkeit? Ich glaube nicht!

Jesus trifft den Mann im Tempel an. Ein weiteres Mal hat Er ihn ausgesucht. Jesus muss sich dessen bewusst sein, dass Er daraufhin bei den Behörden angezeigt werden und in große Schwierigkeiten geraten wird (genauso, wie Er wusste, dass der Mann schon lange und schwer gelitten hatte, als Er gerade ihn heilte – Vers 5:6). Aber obwohl Er das weiß, geht Jesus zu ihm hin und hat dabei nur Eines im Sinn: den Mann zu warnen, dass er „nicht weitersündigen“ soll, damit ihm nicht noch Schlimmeres zustößt.246

Mann könnte sagen, dass der Gelähmte 38 Jahre zuvor gesündigt hatte und dass seine Erkrankung Folge dieser Sünde war. Warum drängt Jesus dann diesen Mann offenbar, „nicht weiterzusündigen“, so als ob der immer noch sündigen würde?247 Mancher nimmt vielleicht naiverweise an, dass der Mann, da er ja behindert war, keine Möglichkeit zum Sündigen hatte. Aber es gibt immer noch die Sünde der Gedanken. Der Mann könnte eine Möglichkeit zur Sünde gefunden haben, zu der ihn gerade seine persönlichen Umstände befähigten (und verführten). Ich neige nämlich zu der Annahme, dass die Sünde dieses Mannes damit zu tun hatte, wie er die Genesung von seiner Krankheit anstrebte. Wer unter starken Beschwerden leitet, ist oft versucht, alles nur irgend mögliche zu unternehmen, um Linderung zu erlangen. Einige Menschen wenden sich beispielsweise dem Alkohol oder Drogen zu, um „Schmerzen zu lindern“, andere werden zu Sklaven anderer Süchte und Abhängigkeiten. Dieser Mann weiß vielleicht, dass sein „Heilmittel“ reiner Aberglaube ist und dass Gott es ebenso wenig gutheißt wie die Tatsache, dass Saul mit Hilfe eines Mediums Anleitungen für sein Handeln finden wollte (1. Samuel 28). Deshalb erscheint der Mann vielleicht so defensiv, als er Jesus erklären will, warum seine Methode nichts geholfen hat.. Ist das auch der Grund, warum Jesus ihn fragt, ob er wirklich geheilt werden will?

Soviel wissen wir sicher: Der Mann ist einer Sünde schuldig, die er noch nicht aufgegeben hat. Jesus heilt ihn trotzdem, aber Er kommt später noch einmal zurück, um dem Mann zu sagen, dass Er von dessen Sünde weiß und dass der Mann diese Sünde aufgeben oder aber mit noch schlimmeren Konsequenzen rechnen muss. Man findet keine Anzeichen für irgendwelche Reue, es ist keine Rede von Glauben und es gibt keinerlei Fragen darüber, wer Jesus denn ist oder was Er vorhat (wie bei der Samariterin). Wir erfahren nur, dass der Mann nach dieser Konfrontation hingeht und Jesus bei den Behörden verrät. Das ist fast zu schlimm um wahr zu sein. Vielleicht ist es deshalb so schwer zu akzeptieren.

Der Kampf beginnt
(5:16-18)

16 Daraufhin begannen die jüdischen Würdenträger Jesus zu verfolgen, weil er das an einem Sabbat getan hatte. 17 Da antwortete248 Jesus ihnen: „Mein Vater ist fortwährend am Werk, und auch ich bin am Werk.“ 18 Aus diesem Grunde waren die jüdischen Würdenträger nur umso mehr bestrebt, ihn zu töten; denn er brach nicht nur den Sabbat, sondern er nannte auch Gott seinen Vater und machte sich so Gott gleich.

Sehr schnell steht nicht mehr der Gelähmte im Blickpunkt, sondern Jesus. Sobald die Juden erfahren, dass es Jesus ist, der den Gelähmten geheilt hat, hören sie auf, den Geheilten zu plagen und fixieren ihre Aufmerksamkeit auf Jesus. Johannes sagt uns, dass sie „Ihn verfolgten“. Ursprünglich dachte ich, dass diese „Verfolgung“ ständiges Fragen, Widersprechen und Dazwischenreden beinhaltete, und natürlich auch den Versuch, unseren Herrn beim Volk in Misskredit zu bringen. Johannes aber sagt uns in Vers 18, dass sie von diesem Zeitpunkt an nur umso mehr bestrebt waren, ihn zu töten. Das bedeutet doch wohl, dass die erwähnte Verfolgung wirklich sehr heftig war.

In allen Evangelien taucht das Thema ‚Sabbat’ auf und wird zu einem nachhaltigen Streitpunkt zwischen Jesus und den Pharisäern. In der Einleitung zu dieser Lektion werden ja Beispiele dafür angeführt, wie extrem manche Juden die „Verteidigung“ des Sabbats betrieben. In jedem einzelnen der Evangelien wird Jesus beschuldigt, den Sabbat zu verletzen. Mit den Beispielen in den Synoptischen Evangelien werden wir uns in Kürze in einer späteren Folge dieser Reihe beschäftigen. Bei Johannes ist die Sabbat-Kontroverse in Kapitel 5 eigentlich nur sehr kurzlebig, wird aber in Kapitel 7 (Vers 22-23) und 9 (Vers 16) noch einmal aufgenommen. Hier im fünften Kapitel taucht das Thema ‚Sabbat’ zwar auf, aber die Erwiderung unseres Herrn auf die Anschuldigung, Er verletze die Sabbatgesetze, ruft eine ungleich größere Beunruhigung bei den Juden hervor – indem Er nämlich behauptet, Eins mit Gott zu sein. Mit Seinen nachfolgenden Worten konzentriert sich unser Herr auf dieses wichtigere Thema statt auf den Bruch der Sabbatgesetze.

Die Antwort unseres Herrn auf die Sabbat-Frage ist im Johannes-Evangelium einzigartig. Zwar wird von den Juden ebendiese Anklage des Sabbat-Bruchs in gleicher Weise auch in allen anderen Evangelien vorgebracht, aber die Antwort unseres Herrn ist dort ganz anders als Seine Verteidigung hier im Johannes-Evangelium. Hier verteidigt Jesus Seine Handlungen durch den Hinweis, dass Er dasselbe tut wie Sein Vater, wenn Er am Sabbat arbeitet. Sie erinnern sich: Die Einhaltung des Sabbats steht im Vierten Gebot, aber geschichtlich basiert der Sabbat auf der Vorgehenweise Gottes bei der Schöpfung:

8 Gedenke des Sabbat-Tages und halte ihn heilig. 9 Sechs Tage sollst du arbeiten und all deine Arbeiten erledigen, 10 aber der siebte Tag ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. An ihm sollst du nicht arbeiten: du nicht und auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh oder der Fremde, der sich innerhalb deiner Tore aufhält. 11 Denn in sechs Tagen hat der Herr die Himmel gemacht und die Erde, das Meer und alles, was darin ist; und am siebten Tag ruhte er. Darum segnete derHerr den Sabbat-Tag und heiligte ihn“ (Exodus 20:8-11; NKJV)

Der Sabbat ist das „Zeichen des Mosaischen Bundes“, daher ist die Verletzung des Sabbats ein todeswürdiges Vergehen (Exodus 31:14-17, 35:2-3; Numeri 15:32-36). Das Vierte Gebot fordert, dass das Volk Gottes Gott nachahmt, der am siebten Tag der Schöpfung „ruhte“. Die Logik ist ganz einfach: Gott ruhte am siebten Tag, und genauso muss es der Mensch tun. Aber Jesus zeigt uns die Sache aus einem anderen Blickwinkel. Er argumentiert, dass Gott ständig am Werk ist, selbst am Sabbat. Und da Gott ohne Unterbrechung wirkt, wirkt auch der Sohn und kann damit nicht während des Sabbats aufhören.

Nicht nur diese Logik irritiert die Juden, sondern auch, wie Jesus Sein Verhältnis zu Gott charakterisiert. Jesus sagt nicht „Unser Vater ist fortwährend am Werk, und auch ich bin am Werk.“ Er sagt: Mein Vater ist fortwährend am Werk, und auch ich bin am Werk.“249 Die Schlussfolgerung ist ganz klar: Jesus behauptet, dass Gott Sein Vater ist; Er behauptet, Gott zu sein. Wenn der Anspruch unseres Herrn richtig ist, können und dürfen die jüdischen Autoritäten den Sohn Gottes nicht daran hindern, am Sabbat zu wirken.

In welchem Sinne ist Gott „am Werk“? Natürlich ist Gott in einem ganz allgemeinen Sinn am Werk, indem Er Seine Schöpfung unterhält und Seine Pläne und Absichten zur Verwirklichung bringt:

„Und wir wissen, dass Gott alles zum Guten zusammenwirken lässt für die, die Gott lieben, für die, die nach Seinem Vorsatz berufen sind“ (Römer 8:28; NASB).

In einem besonderen Sinn ist Gott seit der Schöpfung „am Werk“ und bewirkt die Rettung für gefallene Menschen. Normale Menschen können zu diesem „Werk“ nichts beitragen; es ist Gottes Werk. Daher sollten die Menschen am Sabbat ruhen. Da aber Jesus Gott ist, muss Er, als Gott, am Werk Seines Vaters arbeiten. Ein Bestandteil dieses Erlösungswerkes ist die Heilung von Kranken (siehe Lukas 4:16-21; Johannes 11:2-6)250. Die Juden sind also im Unrecht, wenn sie Jesus wegen der Heilung eines Menschen am Sabbat verurteilen.

Die Juden verstehen durchaus die Bedeutung dessen, was unser Herr sagt. Beachten Sie, dass Johannes hier nicht sagt: Die Juden wollen Jesus von nun an töten. Er sagt: „Aus diesem Grunde waren die jüdischen Würdenträger nur umso mehr bestrebt, ihn zu töten (Vers 18). Diese Juden sind also zuvor schon überzeugt davon, dass Jesus getötet werden muss. Das beschriebene Ereignis, und vor allem die Worte unseres Herrn, sind ihnen weitere Motivation, Ihn so bald wie nur möglich zu Tode zu bringen. Sie beschließen nun, ihre Anstrengungen diesbezüglich zu verdoppeln, denn Er verletzt nicht nur den Sabbat (was allein schon eine todeswürdige Sünde darstellt), sondern Er stellt Sich auch noch Gott gleich.

Schlussfolgerung

Es geht hier nicht um das entscheidende Ereignis, das die Juden zu der Überzeugung bringt, dass Jesus sterben muss. Diese Entscheidung ist schon früher gefallen – bei einer Gelegenheit, die Johannes nicht in sein Evangelium aufgenommen hat. Er führt das Thema ‚Opposition’ hier mit der Geschichte von der Heilung des Gelähmten ein. Die Feindschaft setzt sich dann bis zum Ende des Evangeliums fort und findet ihren Höhepunkt auf Golgatha.

Die drei Kapitel dieses Abschnitts, Johannes 5-7, berichten darüber, wie sich die Einstellung gegenüber Jesus von bloßer Reserviertheit und Zögerlichkeit hin zu unverblümter und manchmal offizieller Gegnerschaft verlagert. Den ersten Streitpunkt bildet der Sabbat (5:9ff.); aber er wird schnell ersetzt durch ein fundamentales christologisches Thema, das sich aus der Diskussion um den Sabbat ergibt (5:16-18), und dieses wiederum führt zu einem längeren Diskurs über Jesu Verhältnis zum Vater und über die Schriften, die Zeugnis über ihn ablegen (5:19-47). Wenn auch die Wunder in Kapitel 6 oberflächlichen Beifall hervorrufen (6:14-15,26), so kann diese Loyalität doch nicht Jesu Lehren standhalten: Selbst von seinen Jüngern verlassen ihn viele (6:66). In Kapitel 7 wird Jesus dann angeklagt, von bösen Geistern besessen zu sein (7:20); und während die Verwirrung der Massen zunimmt, will ihn die Behörde festnehmen lassen (7:30), dies jedoch ohne Erfolg (7:45-52). Inmitten des ständig lauter werdenden Protestes zeigt sich Jesus immer mehr als der gehorsame Sohn Gottes, seines Vaters (5:19ff.), als das Brot des Lebens, das wahre Manna, das alleine der Welt Leben geben kann (6:51), als der, der alleine den durststillenden Trank des Geistes gewähren kann (7:37-39).251

Das Ereignis in Johannes 5 bewirkt zweierlei Dinge. Erstens enthüllt es die Bosheit der ungläubigen Juden, insbesondere der ungläubigen religiösen Führer der Juden. Der Text beschreibt einen Mann, der 38 Jahre lang behindert war. Jesus sieht ihn und hat Mitleid mit ihm, nicht weil er so fromm wäre, sondern weil er schon so lange gelitten hat. Jesus heilt den Mann und fordert dafür noch nicht einmal seinen Glauben. Jesus sucht den Mann dann noch einmal auf und mahnt ihn, nicht mehr zu sündigen. Und was tut dieser Mann? Er teilt den religiösen Führern der Juden Jesu Identität mit. Sofern er weiß, dass die Juden bereits den Entschluss gefasst haben, Jesus zu töten (wie es uns Johannes in seinem Text mitteilt), liefert er Jesus damit dem Tod aus.

Die jüdischen Führer geben sich infolge des gnädigen Wunders unseres Herrn als das zu erkennen, was sie sind. Sie glauben Gott zu lieben, und ihre Mitmenschen auch, und so dem Gesetz des Moses zu gehorchen. Sie halten sich für fromm und erwarten die ersten zu sein, die in das Reich Gottes hineinkommen. Ja, sie erwarten für sich sogar eine wichtige Führungsrolle in diesem Königreich. Aber als Jesus in die Stadt kommt und einen Gelähmten heilt, ist ihre einzige Sorge, dass der Geheilte (mit seiner Matte unter dem Arm) „dem Gesetz zuwider läuft“. Sie scheinen kaum zu bemerken (oder es kümmert sie nicht), dass der Mann eben „läuft“ – der Gelähmte ist geheilt! Und weil Jesus ein solches Wunder vollbracht hat, beginnen sie dann den Sohn Gottes zu verfolgen.252 Als Jesus darauf hinweist, dass Er genau das ist, verdoppeln sie noch ihre Anstrengungen, Ihn zu töten. Die menschliche Bosheit kann einen doch immer wieder erstaunen!

Das Zweite, was das Ereignis im Johannes-Evangelium bewirkt, ist, dass es Jesus Gelegenheit gibt, ganz deutlich (und in diesem Evangelium schon sehr früh) zu sagen, wer Er eigentlich ist. Ich habe schon oft die Redensart gehört: „Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“ Jesus sagt den jüdischen Würdenträgern, wer Er ist – und das gefällt ihnen gar nicht.

Dabei ist das, liebe Freunde, das Wichtigste von allem. Ausschlaggebend ist genau das: wer Jesus ist. Manchmal wird aus Dummheit oder Unwissenheit gesagt, dass Jesus nie behauptet habe, Gott zu sein. Wer das sagt, hat die Evangelien wohl nicht richtig gelesen, und das Johannes-Evangelium wahrscheinlich überhaupt nicht! Johannes sagt uns, dass Jesus Gott ist (Johannes 1). Er sagt uns jetzt auch, dass Jesus beansprucht, Gott zu sein (Kapitel 5 – ganz zu schweigen von Kapitel 3 und 4). Und er sagt uns weiter, dass die Juden eben diesen Anspruch, Gott zu sein, als Rechtfertigung für ihren Entschluss benutzten, Jesus töten zu wollen.

Es ist also ganz klar: Johannes weist Jesus als Gott aus, der zur Erde herabgekommen ist und menschliche Fleischlichkeit angenommen hat. Ebenso klar ist: Jesus erklärt, dass Er Gott ist und vom Vater im Himmel herabgekommen. Außerdem ist klar, dass auch die Juden Seine Aussage so verstehen. Die Frage ist nicht, ob unser Herr behauptet, Gott zu sein. Auch nicht, ob Seine Feinde denken, dass Er beansprucht, Gott zu sein. Die Frage ist, ob unser Herr Der ist, der Er zu sein beansprucht.

Wenn Jesus Der wäre, der Er zu sein beansprucht, dann dürfte man erwarten, dass Er Gewalt über Krankheit und Dämonen, ja selbst über den Tod hat. Die Zeichen, die Er vollbringt, zeigen, dass es tatsächlich so ist. Wenn Er der Sohn Gottes ist, dann besitzt Er auch die Autorität, in Gottes Namen, ja als Gott zu handeln – am Sabbat zu heilen, Sünden zu vergeben oder den Tempel zu reinigen. Alles, was unser Herr sagt und tut, hängt in der Tat einzig und allein von dieser Frage ab: Ist Jesus Der, der Er zu sein beansprucht? Wenn Er es ist, dann müssen wir Sein Wort als Gottes eigenes Wort annehmen. Wir müssen uns auf Ihn werfen, um die Vergebung unserer Sünden und das Geschenk des ewigen Lebens zu erhalten. Mit den Worten von Johannes gesagt: Wir müssen „glauben“ und in Seinem Namen Leben haben (20:31).

Die wichtigste Antwort, die du je geben wirst, ist die Antwort auf die Frage: „Wer ist Jesus Christus?“ Johannes beantwortet diese Frage eindeutig: Jesus Christus ist der Sohn Gottes, der für Gott und als Gott spricht und handelt. Jesus Christus ist das „Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg nimmt“. Er ist der Einzige, durch den deine Sünden vergeben werden können, der einzige Weg in den Himmel (Johannes 14:6). Glaubst du das? Johannes schrieb sein Evangelium, um dich von dieser Wahrheit zu überzeugen (20:31). An Ihn zu glauben, ist der einzige Weg, der in den Himmel führt. Ihn zurückzuweisen bedeutet, für die Hölle bestimmt zu bleiben. So einfach ist das. Das sind nicht meine Worte, es sind Seine Worte, und du musst entscheiden, ob du Ihm glaubst oder nicht. Seine Worte werden nicht dadurch wahr, dass du sie glaubst – genauso wenig, wie sie durch Unglauben falsch werden. Du solltest ihnen Glauben schenken, weil sie wahr sind, weil sie von dem Sohn Gottes gesprochen sind. Sie zu glauben bringt dir Rettung, sie zurückzuweisen zeigt, dass du ewiger Verdammnis (der Hölle) wert bist.

Es hat schon seine Bedeutung, wenn Johannes dieses Wunder als ein weiteres Zeichen dafür auswählt, dass Jesus der Messias ist. Denken Sie an die Worte des Propheten Jesaja und vergleichen Sie sie nicht nur mit der Geschichte von der Heilung des gelähmten hier in unserem Text, sondern auch mit der Heilung des Lahmen in Apostelgeschichte 3:

4 Sagt zu denen, die ängstlichen Herzens sind: / „Seid stark, fürchtet euch nicht! / Seht, euer Gott wird kommen zur Rache, / Gott, der vergilt; Er wird kommen und euch retten.“ 5 Dann werden die Augen der Blinden geöffnet, / Und die Ohren der Tauben werden aufgetan. 6 Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, / Und die Zunge der Stummen wird singen. Denn Wasser werden im Ödland hervorbrechen / Und Ströme in der Wüste (Jesaja 35:4-6, NKJV)

1 Petrus und Johannes gingen nun zur Gebetszeit hinauf zum Tempel, um drei Uhr am Nachmittag. 2 Und ein Mann, der von Geburt an lahm war, wurde heraufgetragen; der wurde jeden Tag an dem Tempeltor hingesetzt, das das ‚Schöne Tor’ genannt wird, damit er dort von denen, die in den Tempelhof gingen, Almosen erbitten konnte. 3 Als er nun sah, wie Petrus und Johannes in den Tempelhof gehen wollten, bat er um ein Almosen. 4 Petrus sah ihn an (und auch Johannes) und sagte: „Sieh uns an!“ 5 Da richtete er seine Aufmerksamkeit auf sie und erwartete, dass er etwas von ihnen bekommen würde. 6 Aber Petrus sagte: „Gold und Silber habe ich nicht; doch was ich habe, gebe ich dir. Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und gehe!“ 7 Dann nahm Petrus ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf, und augenblicklich wurden die Füße und Knöchel des Mannes fest. 8 Er sprang auf, konnte stehen und gehen, und er betrat den Tempelhof mit ihnen, ging und sprang umher und pries Gott. 9 Und alle Leute sahen ihn umhergehen und Gott preisen; 10 und sie erkannten ihn als den Mann, der immer am Schönen Tor des Tempels gesessen und um Gaben gebeten hatte, und waren voll Erstaunen und Verwunderung über das, was ihm widerfahren war (Apostelgeschichte 3:1-10).

Unser Text enthält noch einige weitere Lektionen für uns, die ich hier kurz anführen möchte.

Man kommt gar nicht umhin zu bemerken, dass gerade diejenigen sich hier am meisten im Irrtum befinden, die am festesten davon überzeugt sind, im Recht zu sein. Im Recht sein wollen oder glauben, im Recht zu sein, ist nicht dasselbe wie tatsächlich im Recht sein. Kaum ein Unrecht ist so groß wie das, Schlechtes zu tun und dabei zu behaupten, dass man Gutes tut.

„Wehe denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, / Die Finsternis für Licht und Licht für Finsternis hinstellen, / Die bitter für süß und süß für bitter ausgeben!“ (Jesaja 5:20, NKJV)

Und die, die Schlechtes tun im Namen des Guten sind es auch, die Jesus schlecht nennen, weil Er Recht hat und tut, was recht ist.

Wenn man tut, was recht ist, führt das nicht unbedingt immer zu gerechten oder anerkennenden Reaktionen. Zu tun, was recht ist, ist immer richtig. Zu tun, was recht ist, mag auch sehr wohl vorteilhafte Reaktionen hervorrufen. Aber wir müssen andererseits daran denken, was Jesus gesagt hat: Wenn die Menschen Ihn ablehnten und verfolgten, werden sie dasselbe natürlich auch mit uns machen. Wenn die gute Tat unseres Herrn zum Verrat vonseiten des Empfängers der übernatürlichen Heilung und zur Verfolgung vonseiten der religiösen Führer der Juden führte, müssen wir damit rechnen, dass auch unsere guten Taten unerfreuliche Reaktionen hervorrufen können.

18 „Wenn euch die Welt hasst, so seid euch dessen bewusst, dass sie mich vor euch gehasst hat. 19 Wenn ihr zur Welt gehörtet, so würde die Welt euch als das Ihre lieben. Da ihr aber nicht zur Welt gehört, sondern ich euch aus der Welt heraus erwählt habe, hasst euch die Welt. 20 Denkt daran, was ich euch gesagt habe: ‚Ein Sklave ist nicht größer als sein Herr.’ Haben sie mich verfolgt, so werden sie auch euch verfolgen; haben sie an meinem Wort festgehalten, so werden sie auch an eurem Wort festhalten. 21 Aber das alles werden sie euch um meines Namens Willen antun, weil sie den nicht kennen, der mich gesandt hat. 22 Wenn ich nicht gekommen wäre und nicht zu ihnen gesprochen hätte, wären sie nicht der Sünde schuldig. So aber haben sie keine Entschuldigung mehr für ihre Sünde. 23 Wer mich hasst, der hasst auch meinen Vater. 24 Wenn ich nicht unter ihnen die wunderbaren Werke getan hätte, die kein anderer sonst getan hat, wären sie nicht der Sünde schuldig. Doch nun haben sie die Taten gesehen und hassen sowohl mich als auch meinen Vater. 25 Das aber geschah, damit das Wort erfüllt wird, das in ihrem Gesetz geschrieben steht: ‚Sie hassten mich ohne Grund’“ (Johannes 15:18-25).

Diese Textstelle erinnert uns daran, wie „schwach“ Zeichen und Wunder doch sind und wie mächtig Gottes Wort. Zeichen und Wunder bewirken nicht unbedingt Glauben, und der Glaube, den sie hervorrufen, ist an und für sich zweitklassig (2:23-25). Hier bewirkt das Wunder, das Jesus vollbringt, noch nicht einmal Glauben bei dem, der dadurch geheilt wurde. Der Gelähmte verrät unseren Herrn und denunziert Ihn bei der Behörde. Zeichen und Wunder sind so etwas wie illegale „Drogen“ – sie rufen zu Beginn vielleicht spektakuläre Effekte hervor, aber mit zunehmender Zeit verlangt man dann immer mehr davon: Zeichen und Wunder zeigen einen Gewöhnungseffekt. Sie sind nicht schlecht, denn Johannes benutzt sie in seinem Evangelium ja, um seine Leser davon zu überzeugen, dass Jesus der Messias ist, damit Männer und Frauen zum Glauben an Seinen Namen kommen und das Geschenk des ewigen Lebens erhalten.

Während durch Zeichen immer weniger Menschen zu Heiligen werden, bleibt das Wort unseres Herrn mächtig. Jesus braucht kein vom Engel aufgerührtes Wasser am Teich von Bethesda, um den Gelähmten zu heilen. Er braucht noch nicht einmal den Glauben des kranken Mannes. Erforderlich ist allein Sein Wort. Auf Seinen Befehl hin steht der Mann, der seit 38 Jahren behindert ist, auf und kann gehen – und er kann nicht nur gehen, sondern dabei auch noch seine Bettstatt tragen. Er, der Das Wort ist, der Logos, der die Welt mit einem Wort erschuf, heilt auch mit nichts als einem Wort. Wir sollten also Seine Worte befolgen, denn sie sind Geist und Leben (Johannes 6:63).

Schließlich bekommen wir in unserem Text ein schönes Beispiel für die souveräne Gnade zu sehen. Gottes Gnade ist unverdiente Gunst, unverdiente Güte. Weil sie Gnade ist und nicht verdient werden kann, muss sie souverän verliehen werden. Gnade wird einem Menschen also nicht für das zuteil, was er ist oder was er getan hat. Gnade wird nicht denen gegeben, die ihrer wert sind, und denen verweigert, die ihrer nicht wert sind. Ein Mensch ist niemals der Gnade würdig, die Gott ihm zuteil werden lässt. Nun da wir wissen, was wir wissen – wer von uns hätte denn gerade diesen Kerl zur Heilung ausgewählt statt irgendeines anderen Menschen? Jesus kennt den Mann so gut wie die Frau am Brunnen, und Er heilt ihn. Er kennt die Sünde des Mannes, an der er bis zu seiner Heilung und sogar noch darüber hinaus festhält. Jesus weiß, dass der Mann Ihn bei den Behörden denunzieren wird, die entschlossen sind, Ihn zu töten. Dieser Mann empfängt Gottes Gnade nicht aufgrund dessen, wer er ist, sondern allein aufgrund der Freundlichkeit unseres Herrn. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir doch rasch zugeben, dass auch wir unwürdige Empfänger Seiner Gnade, unserer Errettung sind.

Gehen wir noch einen Schritt weiter: Beachten Sie, dass unser Herr diesem leidenden Mann dient, obwohl Er weiß, dass der nicht zum Glauben kommen wird. Jesus dient einem Mann, der nicht errettet werden wird. Jesus dient nicht nur, um zu erretten; das heißt, Er dient nicht nur denen, die Errettung erlangen werden. Er dient, weil Er ist, der Er ist; nicht weil diejenigen, denen Er dient, es verdienen. Lassen Sie uns also immer Sorge dafür tragen, dass wir nicht den Menschen nur in der Annahme dienen, dass sie errettet werden. Sie werden vielleicht gar nicht errettet, egal, wie sehr wir ihnen dienen. Wie unser Herr dienen wir aus den Tiefen der Liebe für den Anderen, die Gott uns gegeben hat – egal, ob diese Liebe durch die, denen wir dienen, erwidert oder belohnt wird.

Addendum:
Eine wichtige Frage

Erlauben Sie mir, eine Frage zur Sprache zu bringen, die Sie sich vielleicht schon selbst gestellt haben: „Warum heilt Jesus nicht auch die anderen Leidenden am Teich von Bethesda? Wenn Jesus dazu in der Lage ist (und das ist Er gewiss) – warum heilt Er an diesem Tag nicht alle Menschen an dem Teich?“ Meine erste, „flapsige“ Antwort darauf wäre, dass Jesus den Aposteln noch ein paar Kranke übrig lässt, damit sie die nach Seiner Auferstehung und Himmelfahrt heilen. Da ist beispielsweise der verkrüppelte Mann in Apostelgeschichte 3, den Petrus und Johannes auf dem Weg zum Tempel heilen. Das ist aber keine zufriedenstellende Antwort. Lassen Sie uns diesen Punkt also noch etwas weiter verfolgen.

Erstens muss ich Sie darauf hinweisen, dass diese Frage nicht rein akademischer Natur ist. Jesus ist immer noch in der Lage, jeden kranken Menschen zu heilen. Gott heilt heutzutage immer noch, aber nur wenige und nicht alle. Die Antwort auf die oben gestellte Frage ist also auch eine Antwort an diejenigen, die sich wünschen, dass Gott heute noch alle Kranken heilen würde.

Zweitens: Heilung ist eine Manifestation von Gottes souveräner Gnade. Niemand verdient es, geheilt zu werden; also hat auch keiner das Recht, sich zu beschweren, wenn Gott ihn nicht heilt. Wir haben ebensowenig das Recht, uns über eine ausbleibende Heilung zu beschweren, wie wir uns darüber beschweren können, dass wir keine Millionäre sind. Insofern die Gnade unverdient und souverän von Gott verliehen wird, ist Gott frei ist, die zu heilen, die Er heilt, und die anderen nicht zu heilen.

Drittens: Es ist ganz falsch zu denken, dass jemand, der nicht von Gott geheilt wird, damit unbedingt von Gottes Gnade ausgeschlossen worden ist. Verstehen Sie mich also nicht so, dass die, die Gott heilt, Seine Gnade erlangen, und denen, die nicht geheilt werden, Seine Gnade versagt wird. Gott kann sehr wohl Seine Gnade auch durch körperliches Leiden manifestieren. Körperliches Leiden kann es beispielsweise sein, wodurch Gott einen Menschen zu Sich zieht. Wieviele gesunde Menschen wandten sich denn an Jesus, um Gnade zu erlangen? Aber Gott kann auch körperliches Leiden dazu benutzen, um im Leben eines Christen geistliche Vertiefung und Wachstum zu erreichen, damit man so zu einem Segen für andere wird (siehe 2. Korinther 1:3-11).

Viertens: Lassen Sie uns einen Text betrachten, der unmittelbar mit unserer Frage zu tun hat:

29 Gleich nachdem sie die Synagoge verlassen hatten, gingen sie mit Jakobus und Johannes zum Haus von Simon und Andreas. 30 Simons Schwiegermutter lag fiebernd darnieder, und daher erzählten sie Jesus sogleich von ihr. 31 Er kam, fasste sie bei der Hand und richtete sie auf. Da verließ sie das Fieber, und sie begann sie zu bedienen. 32 Am Abend, nach Sonnenuntergang, brachte man alle zu ihm, die krank oder von Dämonen besessen waren. 33 Die ganze Stadt versammelte sich an der Tür. 34 Und er heilte viele, die an den verschiedensten Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus. Aber er erlaubte den Dämonen nicht zu sprechen, denn sie wussten, wer er war. 35 Am frühen Morgen, als es noch dunkel war, stand Jesus dann auf, ging hinaus an einen verlassenen Ort und betete dort. 36 Simon und die, die bei ihm waren, suchten nach ihm. 37 Als sie ihn fanden, sagten sie: „Jedermann sucht dich.“ 38 Er antwortete: “Lasst uns anderswohin gehen, in die umliegenden Orte, damit ich dort auch predigen kann. Denn zu diesem Zweck bin ich gekommen.“ 39 Und er zog durch ganz Galiläa, predigte in ihren Synagogen und trieb Dämonen aus (Markus 1:29-39).

Für unseren Herrn zieht eine Heilung zahlreiche weitere Heilungen nach sich. Jesus heilt die Schwiegermutter von Simon Petrus. Die Nachricht davon macht die Runde, und am Abend findet sich eine ganze Menge kranker Menschen vor der Tür ein. Jesus heilt gnädig alle, die gekommen sind. Am Morgen hat sich eine noch größere Menge versammelt, aber Jesus ist nirgendwo zu finden. Simon und seine Begleiter machen sich auf, Jesus zu suchen, und finden Ihn betend. Was Simon dann sagt, klingt (frei widergegeben) fast wie ein Tadel: „Herr, wo bist du die ganze Zeit gewesen! Warum bist du hier draußen und betest, wo doch daheim im Haus meiner Schwiegermutter eine Haufen Menschen auf dich wartet. Packen wir’s an – die Arbeit ruft!“

Sind Jesus diese kranken Menschen egal? Natürlich nicht. Aber Er weiß genau, dass das ein unendliches Problem ist: Je mehr Menschen Er heilt, umso mehr werden zu Ihm kommen, um geheilt zu werden. Und je mehr zu Ihm kommen, umso mehr Zeit wird Er mit Heilungen verbringen. Jesus weiß, was Sein Auftrag ist: Er ist nicht in erster Linie beauftragt zu heilen, sondern die gute Nachricht des Evangeliums zu verkünden. An Wichtigkeit rangiert Sein Dienst als Heiler erst an zweiter Stelle. Er stellt eine Beglaubigung für Seinen Dienst und Seine Botschaft dar. Er unterscheidet Jesus von anderen Lehrern. Hier ist ein Mensch, der „mit Autorität lehrt“, indem Er nicht nur über Gottes Gnade spricht, sondern sie gleichzeitig auch demonstriert! An seinem Auftrag liegt es, dass Jesus selektiv heilt. Außerdem heilt er auch selektiv, weil nicht die Krankheit das primäre Problem des Menschen ist, sondern die Sünde. In vielen Fällen sind die Gebrechen der Menschen das Mittel Gottes, um sie zum Glauben zu bringen.

Kranke zu heilen, ist für unseren Herrn eine “verlockende” Sache. Unsere Krankheiten und unser Leiden sind ihm nicht gleichgültig, und Er ist immer von Mitleid erfüllt für die Leidenden. Außerdem ist Heilen ein Leichtes für Ihn. Er wird nicht so sehr für Seine Heilungen als für Seine Lehren angegriffen, abgelehnt und sogar gekreuzigt. Heilen würde Jesus zu schnell zu populär machen und so Seinem Auftrag zuwiderlaufen, dass Er die Wahrheit verkündigt – und am Ende sogar am Kreuz von Golgatha stirbt, um Versöhnung für die Sünden der Menschen zu erlangen. Jesu Absicht ist es nicht, jeden zu heilen, der krank ist, denn nicht dazu ist Er primär aufgerufen. Und es kann hinderlich für Sein vordringliches Ziel werden, die gute Botschaft des Evangeliums zu verkünden.

Noch eine abschließende Bemerkung: Jesus heilt nicht alle, die krank sind, weil Sein Dienst darin besteht, uns eine viel tiefere und viel dauerhaftere Heilung – die von unseren Sünden – zu bringen:

Ich sagte: „Herr, sei mir gnädig. / Heile meine Seele, denn ich habe gegen Dich gesündigt“ (Psalm 41:4; NKJV).

Der all deine Vergehen vergibt, / Der all deine Krankheiten heilt (Psalm 103:3; NKJV).

Er sandte Sein Wort und heilte sie / Und rettete sie vor der Vernichtung (Psalm 107:20; NKJV).

Er heilt die, die gebrochenen Herzens sind, / Und verbindet ihre Wunden (Psalm 147:3; NKJV).

Aber Er wurde wegen unserer Missetaten verwundet; / Wegen unserer Vergehen wurde Er geschlagen. / Zu unserem Frieden kam die Strafe über Ihn, / Und durch Seine Wunden sind wir geheilt (Jesaja 53:5; NKJV).

Diese „Heilung“ ist Sein Angebot an alle, die Ihn als das „Lamm Gottes“ annehmen: als Den, der anstelle des Sünders starb und die Schuld und Strafe für dessen Sünden trug. Hast du diese Heilung schon erfahren? Sie ist jedem angeboten, der sie annimmt.


216 Ich nehme an, das soll heißen, dass man nicht abends/nachts tanzen darf.

217 Barbara Seuling, More Whacky Laws [Noch mehr Umwerfende Gesetze], (New York: Scholastic Inc., 1975).

218 Leon Morris, The Gospel According to John [Das Evangelium nach Johannes], (Grand Rapids: Wm.B. Eerdmans Publishing Co., 1971), S. 305, Fn. 25.

219 J.W. Shepard, The Christ of the Gospels [Der Christus der Evangelien], (Grand Rapids: Wm.B. Eerdmans Publishing Co., 1939), S. 161.

220 Rav Jehoshua J. Neuwirth, Shemirath Shabbath: A Guide to the Practical Observance of Shabbath [Shemirath Shabbat: Leitfaden für die praktische Einhaltung des Sabbat], englische Ausgabe, bearbeitet von W. Grangewood (Jerusalem: Feldheim, 1984).

221 Ibid, S. XXX.

222 Ibid, S. XXXII.

223 Ibid, S. 1.

224 Ibid, S. 17.

225 Ibid, S. 11.

226 So verstehe ich jedenfall das, was auf den Seiten 66-67 steht.

227 Ibid, S. 141-142.

228 Ibid, S. 146.

229 Ibid, S. 154.

230 Morris, S. 306, Fn. 28.

231 Die griechischen Schriftfassungen des Neuen Testaments unterscheiden sich im Hinblick darauf, ob bei dem Wort „Fest“ der bestimmte Artikel steht oder nicht. Die NET-Bibel hat sich (mit wohl der Mehrheit der konservativen Wissenschaftler) der Textversion ohne Artiel angeschlossen. Wenn es „das“ Fest wäre, hätte es sich am wahrscheinlichsten um das Passah gehandelt. In der gegebenen Fassung („ein Fest“) wissen wir nicht genau, auf welches Fest sich der Text bezieht.

232 William Hendriksen, Exposition of the Gospel According to John [Entwurf des Evangeliums nach Johannes], 2 Bd. (Grand Rapids: Baker Book House, 1953-1954), S. 190. D.A. Carson fügt hinzu: „Der Name des Teiches wird in den Handschriften unterschiedlich als Bethesda, Bethsatha, Belsetha und Bethsaida wiedergegeben. Die erste dieser Fassungen ist mit großer Sicherheit die richtige, und das nicht nur aus Gründen der Transkription, sondern auch deshalb, weil sie inzwischen durch eine entsprechende hebräische Bezeichnung in der Kupferrolle aus Qumran bestätigt wird, die 1960 erstveröffentlicht wurde. ‚Bethesda’ ist die griechische Transliteration des hebräischen ‚Haus der Ausgießung’; und die Kupferrolle bestätigt … die gedoppelte Form desselben Ausdrucks: ‚Haus der zweifachen Ausgießung’. … Ein Pilger aus Bordeaux besuchte Jerusalem 333 v.Chr. und beschrieb dort einen Doppelteich mit fünf Arkaden (er nannte diese Teiche ‚Betsaida’). Sporadische Ausgrabungen wurden an diesem Ort nahe der Kirche St. Anne im Nordostviertel der Altstadt (in der Nähe von Nehemias ‚Schaftor’) seit über einem Jahrhundert durchgeführt. Es gab dort zwei Teiche, einen nördlichen und einen südlichen, die ungefähr trapezförmig von vier überdachten Kolonnaden umgeben wurden, während eine fünfte Kolonnade die beiden Teiche voneinander trennte.“ D.A. Carson, The Gospel According to John [Das Evangelium nach Johannes], (Grand Rapids: William B. Eerdmans Publishing Co., 1991), S. 241-242.

233 Ich möchte hier nicht im Detail auf die Diskussion zwischen den verschiedenen textkritischen Schulen eingehen, aber ich muss Sie zumindest darauf hinweisen, dass nicht bei allen Wissenschaftlern Einigkeit herrscht, welche Texte denn am höchsten einzuschätzen seien.

234 Ich sollte für die Anhänger von Johann Calvins Werk noch darauf hinweisen, dass Calvin in seinem Kommentar über das Johannesevangelium keinerlei Probleme bezüglich Vers 3f. erwähnt und also wohl davon ausgeht, dass die Geschichte über den das Wasser aufwühlenden Engel wahr ist.

235 Hendriksen, S. 190.

236 Carson, S. 243.

237 Hendriksen, S. 192.

238 „Diese Heilung unterscheidet sich von vielen anderen dadurch, dass von keinerlei Glauben vonseiten des Mannes die Rede ist, ja, dass noch nicht einmal Raum für solchen Glauben zu sein scheint. Dieser Mann kannte noch nicht einmal den Namen Jesu (Vers 13). … Jesus unterliegt nicht den Beschränkungen der Menschen, wo Er die Werke Gottes wirkt“ Morris, S. 303-304.

239 Carson, S. 243.

240 Den Ausdruck „glücklich“ habe ich hier mit Bedacht gebraucht; denn mir scheint, dass es nur Glück oder Durchsetzungsvermögen sein kann, das einem unter diesen Umständen ein Wunder beschert.

241 „’So, wie die achtunddreißig Jahre die Schwere der Erkrankung beweisen, so beweisen das Tragen der Bettstatt und das Gehen die vollständige Heilung’ (Barrett, S. 254).“ Zitiert bei Carson, S. 244.

242 Beachten Sie, dass Johannes den Mann als „der Geheilte“ bezeichnet, während die Juden ihn nur als einen Mann sehen können, der am Sabbat eine Matte trägt.

243 „Möglicherweise ist auch eine Spur von Ironie dabei (wie sie bei der Heilung in Johannes 9 dann noch deutlicher entwickelt wird): Die Juden hören von der Wunderheilung und von dem formalen Verstoß gegen ihren Code, aber sie interessieren sich nur für den Letzteren. Sie glauben zu sehen, was wichtig ist; aber in religiöser Hinsicht sind sie geradeso blind, wie alle, die immer so sicher sind zu sehen (vgl. 9:39-41).“ Carson, S. 245.

244 Zweifellos würden sie dafür auf Textstellen wie Exodus 20:10, Nehemia 13:15 und Jeremia 17:21-22 hinweisen. Und doch war es allein „ihre Interpretation“ dieser Textstellen, dass sie so extreme und heuchlerische Anwendungen daraus ableiteten.

245 Morris weist darauf hin (S. 307, Fn. 33), dass sich das Wort für „unbemerkt gehen“ im ganzen Neuen Testament nur hier findet und dass es bedeutet, „’den Kopf beiseite drehen’ (AS), also ‚untertauchen’“.

246 Wir müssen diese Worte unseres Herrn im Lichte dessen sehen, was Er in Johannes, Kapitel 9 zu Seinen Jüngern sagte. Dort nahmen die Jünger automatisch an, dass die Blindheit des Mannes Folge irgendeiner Sünde wäre. In dem Fall traf das abernicht zu: Dieser Mann war blind geboren worden, damit Gott durch seine Heilung durch unseren Herrn verherrlicht würde. In diesem Fall hier war die Krankheit des Mannes aber tatsächlich Folge seiner Sünde (siehe auch Numeri 12:9; 2. Könige 5:25-27; Apostelgeschichte 5:1-11; 1. Korinther 5:5, 11:30). Krankheit kann also zwar die unmittelbare Folge einer Sünde sein, ist es aber nicht immer notwendigerweise.

247 Etwas Uneinigkeit herrscht über die Feinheiten des vorliegenden Imperativs (in verneinter Form: „hör auf zu ___“ ). In der Anmerkung der NET-Bibel wird dessen Betonung heruntergespielt, aber ich neige in diesem Punkt eher zu Morris’ Ansicht: „’Sündige nicht mehr’ bedeutet ‚Sündige nicht weiter’ (Goodspeed: ‚Gib die Sünde auf’). Impliziert ist, dass der Mann gesündigt hat und noch immer sündigt. Jesus ermahnt ihn eindringlich, damit zu brechen und sich mit Gott versöhnen zu lassen.“ Morris, S. 307.

248 „Tatsächlich ist das Verb hinter ‚antwortete’ (apekrinato) Aorist Medium – im Johannes-Evangelium nur hier und in Vers 19 vorkommend (man würde eher das Deponens im Aorist Passiv, aprkrithe, erwarten). Abbott (Par. 2537) vertritt die Meinung, dass diese Verbform einen juristischen Beiklang hat: Jesus antwortet auf ihre Anklage, er bringt seine Verteidigung vor. Diese Ansicht wird wohl durch die Tatsache unterstützt, dass die Mittelform dieses Verbs regelmäßig in juristischen Dokumenten angetroffen wird (MM, S. 64-65).“ Carson, S. 247.

249 „Bemerkenswert ist der Ausdruck ‚mein Vater’. So sprachen die Juden normalerweise nicht von Gott. Üblicherweise sagten sie ‚unser Vater’, und wenn sie vielleicht einmal im Gebet den Ausdruck ‚mein Vater’ benutzten, ergänzten sie ihn mit ‚im Himmel’ oder Ähnlichem, um jeden Verdacht auf Vertrautheit zu entkräften. So etwas tat Jesus nicht, hier nicht und auch anderswo nicht. In Seinem Denken stand Gott immer in engster Beziehung zu Ihm Selbst. Der Ausdruck beinhaltet also einen Anspruch, den die Juden auch nicht übersahen.“ Morris, S. 309.

250 Im griechischen Text wird oft das mit „erlösen“ zu übersetzende Wort benutzt, wenn es darum geht, das Werk unseres Herrn bei der Heilung von Menschen zu beschreiben (siehe beispielsweise Matthäus 8:25, 9:21-22; Markus 3:4, 5:23).

251 Carson, S. 240.

252 „Damit lernen wir ein Thema kennen, das für den Rest des Evangeliums wichtig bleibt. Jesus tut Seine mächtigen Werke, Seine ‚Zeichen“. Aber anstelle von Glauben rufen sie gewaltige Gegnerschaft bei den nationalen religiösen Führern hervor.“ Morris, S. 298-299.

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1. Pendahuluan

Buku ini terbagi atas 2 bagian. Bagian pertama membahas umat Tuhan dalam Alkitab melakukan kehendak Tuhan dalam hidup mereka. Memeriksa seluruh Alkitab dengan penelitian yang terbatas. Bagian kedua berfokus pada praktek mempelajari Firman Tuhan. Pembaca disarankan untuk membaca kedua-duanya. Setelah anda membaca bagian ini, dia seharusnya membaca bagian keduanya dalam website BSF. Dalam bagian kedua beberapa konsep yang disebutkan disini diperluas dalam satu buku tidak hanya satu paragraph.

Hal yang juga harus diperhatikan adalah penelaannya tidak lengkap. Tidak semua bagian Alkitab yang berhubungan dengan tema disebutkan. Karena ada banyak bagian Alkitab yang bisa dikutip disetiap kategori tapi itu akan membuat buku ini terlalu panjang. Bagian Alkitab yang disebutkan dalam setiap kategori sudah mencukupi, untuk meneguhkan maksud dari bagian itu.

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