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Übersicht über die historische Jesus-Forschung: Von Reimarus zu Wright

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Translated by Anne Schulz

Einführung

Die Beschäftigung mit Leben, Dienst und Person des Jesus Christus stand für die Kirche von Beginn an im Mittelpunkt ihres Denkens. In den vergangenen zwei Jahrhunderten aber veränderte sich die Betrachtungsweise derer, die der Kirche selbst angehören, in ebenso bemerkenswerter Weise wie sich die Forschung derer au?erhalb der Kirche über Jesus und sein Bild in der Kirche änderte. Die Aufklärung brachte der Welt weitreichende Veränderungen, und religiöse Forschung bildete in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Alles, sogar Jesus selbst, wurde kritischer Methodik und Forschung unterworfen, und die gegenwärtige Lage der Jesus-Forschung und der Christologie kann auf diesen grundlegenden Umbruch in der Denkweise der Welt zurückverfolgt werden. Die vorliegende Untersuchung behandelt den Zeitraum von der Aufklärung bis heute, und die beiden Wissenschaftler, die dafür den Rahmen bilden, stehen für den Anfangs- und Endpunkt dieses Zeitraums1. Natürlich ist nichts so einfach wie es auf den ersten Blick erscheint. Hermann Samuel Reimarus dachte nicht in einem Vakuum; neuere Studien weisen auf Trends und Perioden bereits vor der Aufklärung hin, die sein Denken beeinflussten2. Er lieh jedoch als Erster einer Anschauung seine Stimme, die sich substanziell von der Tradition und Lehre der siebzehneinhalb Jahrhunderte vor der Veröffentlichung seiner Schriften unterschied, und so wird sein Werk als der Beginn der modernen, kritischen Jesus-Forschung betrachtet. Hierfür wird Reimarus mittlerweile unter heuristischen Gesichtspunkten generell als fruchtbarer und nützlicher Ausgangspunkt akzeptiert. N.T. Wright bildet den Endpunkt, weil er mehr als viele andere Wissenschaftler die Dinge auf eine positive Weise behandelt. Er hat Respekt vor der Geschichte, Hunger auf Theologie und eine solide Methodik. Und zwischen diesen beiden Männern liegt ein Zeitraum, den zu verstehen für alle wichtig ist, die Jesus erforschen und im kommenden Jahrhundert verkünden wollen.

Bevor ich beginne, sind noch zwei Caveats angebracht. Erstens möchte diese Abhandlung einen ?berblick geben, keine detaillierte Analyse. Ich werde die groben Trends aufzeigen, die in dieser Epoche sichtbar werden, ich werde die Hauptakteure benennen, und ich werde eine vorsichtige Bewertung für die zukünftige Richtung der Jesus-Forschung anbieten. All das geschieht eindeutig aus einer Vogelperspektive. Zweitens müssen noch einige Begriffe definiert werden. Technisch gesehen sind ,,geschichtliche Jesus-Forschung" und ,,Christologie" als Forschungsgebiete nicht identisch, obwohl sie ihren Blick auf dieselbe Person richten. Untersuchungen über den historischen Jesus versuchen, eine möglichst genaue Rekonstruktion seines menschlichen Lebens und Wirkens zu erstellen und zu verbreiten, die kritischer Betrachtung standhält; das ist die Praxis der Geschichte. Christologie, auf der anderen Seite, untersucht generell die Bedeutung und Auswirkungen seines Todes und seines göttlichen Lebens (vor seiner menschlichen Existenz wie auch nach seiner Auferstehung), so wie sie von der Kirche jenseits aller geschichtlichen Kategorien als spirituelle und religiöse Bedeutung und Wahrheit dargelegt werden; das ist die Praxis der Theologie. Ein Dilemma hinterlässt uns die zurückliegende Epoche, das auf jeden Fall angesprochen werden muss, wenn man ernsthaft in dieses Gebiet eintauchen will: dieses Dilemma liegt in der Scheidung, die religiöse Studien gegenwärtig zwischen dem historischen Jesus und dem christologischen Jesus treffen, zwischen dem Jesus der Geschichte und dem Jesus des Glaubens. Die Leben-Jesu-Forschung und die Christologie sollten eigentlich stets Hand in Hand gehen; und nur in dem Bemühen, möglichst konzentriert und präzise zu sein, betrachte ich hier nur die eine Seite der Gleichung.

?berblick über die historische Jesus-Forschung: von Reimarus zu Wright

Generell lassen sich innerhalb der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung dieser Zeitspanne mehrere Abschnitte unterscheiden. Jede Einordnung in rigide Zeitabschnitte birgt zwar gewisse Gefahren, doch die folgende Einteilung hat sich als durchaus nützlich erwiesen, wenn man die Haupttrends der Forschung und die Denkmuster der Jesus-Forschung im Verlauf der letzten zweihundert Jahre erfassen will. Trotz kleinerer Unterschiede bei der Benennung werden diese abgrenzbaren Zeitabschnitte allgemein anerkannt und in fast jeder Arbeit über diese Epoche benutzt. Ich werde so vorgehen, dass ich für jeden Abschnitt die allgemeine Richtung und die Trends erkläre, sowie auch die Hauptakteure, durch die die jeweilige Periode mit definiert wird. Die gro?en Zeitabschnitte sind die Alte Suche von 1778 bis 1906, eine Interimsperiode ,,Keine Suche" 3 von 1906 bis 1953, die Neue Suche von 1953 bis heute und die Dritte Suche von den frühen 80er Jahren bis heute.

Die Alte Suche (1778-1906)

Die früheste Suche nach dem historischen Jesus, die jetzt allgemein als die Alte Suche [,,the Old Quest", Anm. d. ?.] bezeichnet wird, erhielt ihren Namen nach dem Titel der englischen ?bersetzung von Albert Schweitzers Buch ,,Von Reimarus zu Wrede: eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung", das 1906 veröffentlicht wurde4. Die englische ?bersetzung erhielt den Titel ,,The Quest of the Historical Jesus", und dieser wurde später zur Bezeichnung der gesamten entsprechenden Forschungsrichtung5. Wenn es während dieser Periode eine grundlegende und weit verbreitete Haltung gab, dann wohl diese: Das wahrhafte, kritische Wissen über den geschichtlichen Ablauf des Lebens Jesu führt einen von dem Glauben fort, den man durch die zeitgenössische Kirche empfangen hatte6. Es war die Zeit der Aufklärung: Dogma und Offenbarung wurden nicht mehr als zuverlässige Informationsquellen akzeptiert. Die kritische Geschichtsforschung, die sich ganz auf Quellenstudium und ,,Objektivität" konzentrierte, nahm jetzt bei der Festlegung der Wahrheit den ersten Rang ein. Wissenschaftler dieser Zeit dachten, dass nur kritisch-historisches Arbeiten aufdecken könnte, wer Jesus wirklich war. Dadurch, so glaubten sie, könnten die ungenauen und von subjektiver Interpretation beeinflussten Schichten entfernt werden, die spätere Anhänger über sein Bild gelegt hatten und die in keiner Weise wirklich historisch waren. Diese Forschungsmethode wurde bereits auf anderen Gebieten eingesetzt, und es war nun an der Zeit, sie auch in Bezug auf die Bibel anzuwenden. Die Anwendung dieser Art der Geschichtsforschung auf die Schriften des Evangeliums und ihren zentralen Kern führte zu Aussagen, die weit entfernt von dem waren, was man sonst als die Wahrheit ansah. Eine essenzielle Schlussfolgerung war die, dass der Jesus der Geschichte in keiner Weise identisch oder deckungsgleich mit dem Christus des Glaubens war. Nein, der Jesus der Geschichte war - bestenfalls durch naive Menschen, schlimmstenfalls durch Betrüger - in den Christus des Glaubens umgeformt worden. Mit dieser Entdeckung des wirklichen geschichtlichen Jesus verband die Alte Suche implizit die Erwartung, dass die kirchliche Theologie nun im Lichte der neuen, geschichtswissenschaftlichen Offenbarung geändert und korrigiert werden sollte7. Der Glaube an Christus, wie er in der Kirche durch die Zeiten weitergegeben worden war, basierte auf einem mangelhaften Geschichtswissen, und in Anbetracht dessen sollte sich dieser Glaube nun ändern.

Ausgangspunkt dieser historischen Forschung war Hermann Samuel Reimarus, geboren 1694, der bis zu seinem Tod 1768 als Professor für orientalische Sprachen in Hamburg tätig war. Interessanterweise machte er selbst zu Lebzeiten niemals seine Ansichten über das Christentum publik. Erst als Gotthold Ephraim Lessing Fragmente von Reimarus' Arbeiten zwischen 1774 und 1778 posthum veröffentlichte, wurden dessen persönliche Ansichten allgemein bekannt. Das wichtigste dieser Fragmente war das siebente, das 1778 unter dem Titel ,,Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger" veröffentlicht wurde. Dieser Titel wurde wechselnd mit ,,On the Intention of Jesus and His Disciples"8 oder mit ,,The Goal of Jesus and His Disciples"9 übersetzt. Tatsächlich war es dieses Fragment, das die Suche nach dem historischen Jesus auslöste10.

In ,,Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger" postulierte Reimarus, dass es einen tiefgreifenden Unterschied zwischen dem gebe, was Jesus wirklich war, und dem, was seine Jünger über ihn verkündeten. Wrights Urteil über Reimarus stellt eine passende Zusammenfassung dar:

Jesus war ein jüdischer Reformer, der mit der Zeit immer fanatischer und politischer wurde und schlie?lich scheiterte. Sein Schrei der Verlassenheit am Kreuz zeigt den Zusammenbruch seiner ?berzeugung an, dass sein Gott eingreifen und ihm helfen werde. Seine Jünger griffen daraufhin auf ein anderes Messias-Bild zurück; sie verkündeten, dass er ,,auferweckt" worden sei, und warteten darauf, dass ihr Gott das Ende der Welt herbeiführen werde. Auch sie waren enttäuscht, doch anstatt vor Verzweiflung aufzuschreien, gründeten sie die frühe katholische Kirche, was für Reimarus so ziemlich ein und dasselbe gewesen sein mag11.

Jesus war ein Revolutionär, der in seinem Bemühen scheiterte, und seine Jünger waren Bauernfänger, die ein Jesus-Bild verbreiteten, von dem sie wussten, dass es nicht zutraf. Reimarus hatte, seiner eigenen Ansicht nach, einen historischen Jesus zutage gefördert, der das Gegenteil von dem Christus des Glaubens darstellte; und er hoffte, dass das der Untergang des Christentums in seiner damaligen Form werden würde12.

Nachdem sie einmal angefangen hatte, wurde die Suche nach dem historischen Jesus mit gro?em Ernst weiterverfolgt. Der bekannteste Forscher dieser Zeit ist wahrscheinlich David Friedrich Strauss. Er wurde 1808 geboren, hatte anfangs verschiedene Anstellungen als Lehrer inne und wurde 1839 schlie?lich als Professor der Theologie nach Zürich berufen. Da aber konservative Christen gegen ihn opponierten, konnte er seinen Lehrstuhl niemals wirklich einnehmen und lebte anschlie?end bis zu seinem Tod 1874 als freiberuflicher Schriftsteller13. Strauss schrieb sein Monumentalwerk ,,Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet"14 im Alter von 28 Jahren. In diesem Werk lehnte er das ?bernatürliche ebenso ab wie den Rationalismus und bezeichnete den Umgang der Kirche mit den historischen Daten über Christus als mythologisch. Strauss akzeptierte die nackten Eckdaten über Jesu Leben - Ereignisse wie seine Taufe durch Johannes den Täufer, sein Lehren und sein Jüngermachen, wie auch seinen Tod aufgrund der Feindseligkeit der Pharisäer. Diese schmückte jedoch, so meinte er, die frühe Kirche aus und machte dadurch den historischen Jesus auf zweifachem Wege zu etwas, das er eigentlich gar nicht war: Erstens interpretierte die Kirche die Ereignisse in Jesu Leben als die Erfüllung von Prophezeiungen, Glaubensinhalten und Erwartungen des Alten Testaments und etablierte ihn so als den Messias. Zweitens erschuf die Kirche Mythen und Legenden über ihn gemä? seines Rufes als Messias und verbreitete diese mithilfe des Glaubens des gemeinen Volkes. ,,So wurde aus dem historische Jesus durch den frommen, aber irrigen Eifer der Kirche der göttlichen Messias gemacht."15 Nach Strauss' Ansicht wurde auf diese Weise der historische Jesus unter so dicken Schichten von Mythen begraben, dass es schlie?lich fast unmöglich wurde, eine Biographie seines Lebens zu erstellen.

Auf Strauss folgte ein wahrer Riese des christlichen Glaubens und der wissenschaftlichen Erkenntnis, durch den sowohl das Ende der Alten Suche als auch eine ganz neue Richtung der Leben-Jesu-Forschung markiert werden. Albert Schweitzer war ein wahres Genie aus eigenem Recht. Im Alter von 31 Jahren veröffentlichte er 1906 sein Magnum Opus ,,Von Reimarus zu Wrede: Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung". Er erwies sich nicht nur als ein einflussreicher Bibelwissenschaftler, sondern zeichnete sich auch auf den Gebieten der Musik und Medizin aus. Dass er die letzten fünfzig Jahre seines Lebens als Missionar und Arzt in Afrika verbrachte, ist wohl bekannt16. Sein Werk trug auf zweierlei Weise zur Forschung über den historischen Jesus bei: Erstens stellte Schweitzer fest, dass die ursprüngliche Suche keine wirklichen Resultate aufzuweisen habe. Seiner Einschätzung nach spiegelten die liberalen Leben Jesu des neunzehnten Jahrhunderts vielmehr einfach die Leben derer wider, die nach dem historischen Jesus suchten. Zweitens kritisierte er, dass sie die eschatologische Dimension von Jesu Worten und Taten geschmälert oder vernachlässigt hätten, um ihm grö?ere Allgemeingültigkeit zu verleihen. Schweitzer glaubte, dass der Schlüssel zum Verständnis Jesu in der Eschatologie liege. Wenn man Jesus auch nur annähernd sinnvoll verstehen wollte, konnte man ihn nicht losgelöst von dem eschatologischen Kontext betrachten, den er mit dem Judaismus seiner Zeit gemeinsam hatte. Problematisch ist Schweitzers ?berzeugung, dass Jesus eine extreme Form des Apokalyptizismus vertreten habe. An dieser Stelle ist es hilfreich, Wrights Einschätzung zu betrachten:

Er [d.h. Jesus] glaubte der Messias zu sein, während seine Zuschauer dachten, er wäre vielleicht Elias; er war der vertrauensvollen ?berzeugung, dass sein Gott noch im Verlaufe seines Dienstes eingreifen und die Welt zu ihrem Ende bringen werde. Er träumte den unmöglichen Traum vom Königreich, das das Ende der Weltgeschichte herbeibringen würde. Als das nicht geschah und das gro?e Rad der Geschichte sich nicht weiterdrehen wollte, warf er selbst sich darauf. Er wurde dabei zermalmt, doch es gelang ihm dennoch, das Rad zu drehen. So nahm er selbst das Gro?e Leid auf sich, das über Israel und die Welt kommen sollte. Seine Persönlichkeit stellt die Brücke dar zwischen seinem geschichtlichen Leben und dem Christentum: er überragt die Geschichte und ruft die Menschen dazu auf, ihm zu folgen und die Welt zu verändern. Gerade das Scheitern seiner Hoffnungen befreite diese von den Fesseln des Judentums, damit sie in neuer Gestalt zur Hoffnung der Welt würden17.

Damit brachte Schweitzer die Alte Suche so nachhaltig zum Stillstand, dass sie 50 Jahre lang nicht mehr fortgesetzt wurde; gleichzeitig bereitete er aber die Bühne für die Dritte Suche, die erst 75 Jahre nach seinen Schriften und fünfzehn Jahre nach seinem Tod 1965 begann.

Eine Interimsperiode (1906-1953)

Die Zeitspanne, die unmittelbar auf die Veröffentlichung von Schweitzers entscheidenden Arbeiten folgte, stellte in Bezug auf die Leben-Jesu-Forschung eine Lücke dar und wurde sogar einmal als die Periode ,,Keine Suche" bezeichnet18. Schweitzer hatte an der Alte Suche so wirkungsvoll wegen ihres Verallgemeinerungsbestrebens und des Fehlens von apokalyptischen Visionen Kritik geübt, dass die wissenschaftlichen Bemühungen um den historischen Jesus zum Stillstand kamen. Historischer Skeptizismus war das herausragende Kennzeichen dieser Periode, als deren Protagonist Rudolf Bultmann angesehen wird. Ein Abriss über ihn und seinen Ansichten reicht daher aus, um diese Periode zu verstehen.

Bultmann lebte von 1884 bis 1976. Im Laufe seines Lebens hatte er verschiedene Lehrstühle an mehreren deutschen Hochschulen inne. Am bekanntesten wurde er wegen seiner Beiträge zur Formkritik, die er ausführlich in seinem Werk ,,Die Geschichte der synoptischen Tradition" darstellte19. Bultmann bereicherte die Interimszeit zwischen den Suchen, indem er das Interesse für die Geschichte auf die frühe Kirche statt auf das Leben Jesu lenkte. Der Inhalt der Evangelien erhellte für ihn nicht das Leben Jesu, sondern den ,,Sitz im Leben" der Kirche. Jesu Worte waren eigentlich die Worte christlicher Prediger, die in seinem Namen sprachen, und der Christus, den sie predigten, war der Christus des Glaubens, nicht der Jesus der Geschichte. Mit einer solchen Bewertung der neutestamentarischen Dokumente lie? sich kaum etwas über das Leben Jesu selbst aussagen; um darüber Informationen zu gewinnen, gab es im Neuen Testament schlicht kein Material. Trotz dieses Problems in Bezug auf die Geschichte sah Bultmann keinerlei Notwendigkeit dafür, dass sich die Theologie der Kirche auch nur im Geringsten aufgrund irgendwelcher historischer Forschung oder Erkenntnisse ändern sollte. Die Theologie der Kirche war entstanden und war richtig als Reaktion auf Jesus und nicht aufgrund historischer Wahrheit; sie konnte bleiben, wie sie war, und musste sich nicht nach historischen Gesichtspunkten ändern. Jesus stellt das Leben eines jeden, den er berührt, unter einen existenziellen Ruf zur Entscheidung; und die historische Diskrepanz zwischen seinem Leben und dem Glauben macht dieses Existenzielle in Bultmanns Augen nur noch stärker20.

Die Neue Suche (1953 bis zur Gegenwart)

Die Kraft von Bultmanns Denken und Theologie zu überwinden war schwer, aber nicht unmöglich. Das nächste Stadium der ernsthaften Leben-Jesu-Forschung weichte den Bultmannschen Skeptizismus etwas auf, änderte aber nichts Grundlegendes an der weitreichenden Geringschätzung der Evangelien im Hinblick auf ihren geschichtlichen Gehalt. Die Erneuerung der Alten Suche teilt viele Charakteristika mit ihrer Vorgängerin und entwickelt etliche von deren Thesen wesentlich weiter.

Die Neue Suche begann am 23. Oktober 1953, als Ernst Käsemann seine Vorlesung über ,,Das Problem des historischen Jesus" vor einer Versammlung von Bultmanns Studenten hielt. Die Ideale und Methoden der Neuen Suche unterschieden sich in der Tat etwas von Bultmanns Denken. Käsemann kritisierte Bultmanns vollständige Trennung von Geschichte und Glauben und betonte, dass Jesus bis zu einem gewissen Grade in der Geschichte verankert werden musste, wollte man einen Doketismus vermeiden, demzufolge Christus beliebig je nach dem Willen eines Wissenschaftlers gestaltet werden konnte21. Dies war ein zutreffender Kritikpunkt, und die Neue Suche tat recht daran, ihn aufzunehmen. In vieler Hinsicht verharrte sie jedoch in der gleichen Schiene wie ihre Vorgängerin. Wie Bultmann verlie?en sich viele Vertreter der Neuen Suche in erster Linie auf die Worte Jesu und ignorierten generell die Ereignisse, die sein Leben umgaben, als gültige Grundlage für eine Erkenntnis des historischen Jesus22.

Die Neue Suche macht ausgiebig Gebrauch von den Mitteln der Kritik, wie z.B. der Quellenkritik und der Formkritik, die, wie Wright feststellt, ,,schon erhebliche Probleme verursacht haben, wo es um eine ehrliche Rekonstruktion der Geschichte ging"23. Die Neue Suche vertritt generell sehr extreme Ansichten über die Apokalypse und lehnt sie ab - im Gegensatz zu Schweitzer, der sie akzeptierte. Die Neue Suche betrachtet die Schrift generell ähnlich wie Wilhelm Wrede: dass nämlich deren Rahmen und Inhalt zum grö?ten Teil auf die frühe Kirche zurückverfolgt werden könnten und für die Erhebung irgendwelcher historischer Wirklichkeiten keinen Nutzen hätten24.

Die bekannteste Permutation der Neuen Suche stellt das Jesus-Seminar unter der Leitung von Robert Funk dar. Das Jesus-Seminar behauptet von sich, dass es eine ernsthafte, wissenschaftliche Analyse der neutestamentarischen Materialien vornehme, die zum Ziel habe, festzustellen, wer Jesus wirklich war, und die Kirche von den unrichtigen Interpretationen zu befreien, die über die Jahrhunderte vom einen zum nächsten weitergegeben worden seien25. Zahlreiche Wissenschaftler haben sich schon aufrichtig mit dem Jesus-Seminar auseinandergesetzt26, so dass hier nur zwei wichtige Punkte angeführt werden müssen. Erstens: Das Jesus-Seminar steht in einer Reihe mit dem Skeptizismus von Bultmann und von Wrede. Man muss nicht weit suchen, um in den Veröffentlichungen des Seminars Bekundungen gegen eine Historizität der neutestamentarischen Schriften zu finden. Diese Haltung ist so grundsätzlich, dass sie die Beweislast demjenigen zuschiebt, der für die Historizität des Neuen Testaments ist. Das Ergebnis dieses Skeptizismus ist offensichtlich: Die Vertreter des Seminars schätzen nur wenige Aussprüche oder Taten als genau das ein, was Jesus sagte oder tat, und so bleiben ihnen kaum noch Informationen, auf die sie eine Rekonstruktion der Geschichte aufbauen könnten. Zweitens: Das Seminar muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass seine Arbeit über den historischen Jesus darin besteht, den Beweis für Schlussfolgerungen zu ziehen, die schon von vorneherein feststehen. In der Einleitung zu ,,The Five Gospels" [,,Die fünf Evangelien"] stellen die Autoren zahlreiche ,,Grundsätze" vor, die vordergründig als objektive Tatsachen verstanden werden sollen, von denen ihre Untersuchungen geleitet würden27. Etliche dieser Grundsätze sind jedoch alles andere als allgemein anerkannt in der modernen Wissenschaft und spiegeln lediglich die Voreingenommenheit des Seminars wider. Zum Vergleich: Einer der Grundsätze betrifft die Lehren Jesu: ,,Jesu Bilder sind konkret und lebensnah, seine Aussprüche und Gleichnisse gewöhnlich metaphorisch und ohne explizite Anwendung."28 Kaum jemand würde etwas gegen die Richtigkeit dieser Aussage einwenden. Noch auf derselben Seite findet sich jedoch eine Aussage von sehr zweifelhaftem Wert: ,,Jesus beansprucht nicht, der Gesalbte, der Messias zu sein."29 Aus dieser Behauptung einen ,,Grundsatz" zu machen, der die folgende Untersuchung leiten soll, kommt einer A-priori-Annahme gleich, die nur so verstanden werden kann, dass hier die Schlussfolgerung schon gezogen wurde, bevor die Untersuchung überhaupt begonnen hat. Schon eine oberflächliche Betrachtung des aktuellen Stands der Wissenschaft im Hinblick auf Jesu Aussagen und Auffassung von sich selbst zeigt, dass diese Frage keineswegs abschlie?end beantwortet ist und es darüber noch keinen Konsens unter den Wissenschaftlern gibt. Dass sie von ihren eigenen Schlussfolgerungen ausgehen, stellt einen gravierenden Makel an den Untersuchungen des Seminars dar und erweckt Zweifel am Wert seiner Arbeit. Schon aufgrund dieser kurzen Beurteilung ist leicht zu erkennen, wie das Seminar zu seiner Schlussfolgerung kommen muss: Jesus war ein kluger Mann, ein Weiser und ein ganz besonderer Mensch - dies aber nicht auf irgendeine wundersame, apokalyptische oder christologische Weise.

Die Dritte Suche (frühe 1980er Jahre bis heute)

Die Dritte Suche unterscheidet sich von den anderen weniger in Bezug auf den Zeitraum, den sie einnimmt, als in Bezug auf Denkweisen und Methoden. Sie lässt sich nicht ganz einfach definieren, denn sie hat keinen eindeutigen Anfangspunkt, und die Wissenschaftler, die unter diese Rubrik fallen, vertreten bei anderen Themen oft vollkommen unterschiedliche Meinungen. Trotz dieser Vielfalt lassen sich bestimmte gemeinsame Tendenzen erkennen. Erstens sind die Wissenschaftler der Dritten Suche bestrebt, die Geschichte ernst zu nehmen, und stellen Jesus unumwunden und glaubhaft in sein jüdisch-eschatologisches Umfeld. Die Dritte Suche lehnt den historischen Skeptizismus der Neuen Suche ab und vereinigt sich mit Schweitzers zentraler Aussage über das Leben Jesu, doch sie gestaltet diese detaillierter, präziser und genauer dem Judentum zu Jesu Zeit entsprechend30. Zweitens entwickelt sich parallel zu den historischen Arbeiten über die Eschatologie ein neues Forschungsgebiet, das gewöhnlich als Frühe Christologie bezeichnet wird. Die Frühe Christologie wirft ihre Netze weiter aus als die Leben-Jesu-Forschung, denn sie betrachtet auch die theologischen Entwicklungen, die innerhalb der neutestamentarischen Schriften stattfinden. ?hnlich ist sie ihr aber darin, dass sie die Wurzeln christlicher Vorstellungen über den Christus des Glaubens so weit zurück durch die neutestamentarischen Schriften wie geschichtlich möglich zurückzuverfolgen versucht, bis hinein in das Leben und die Erkenntnis Jesu selbst31. Es mag etwas vereinfachend formuliert sein, doch man kann sagen, dass die Dritte Suche zwei breite Strömungen umfasst: eine, die eine theologisch genaue historische Forschung verfolgt, und eine, die eine historisch genaue Theologie verfolgt. Beides überlappt sich oft, aber es ergänzt sich auch weitgehend.

Auf der Bühne der Dritten Suche ist N.T. Wright ein wichtiger Akteur und wert der Erwähnung. Zur Zeit ist er Dekan an der Lichfield-Kathedrale in Staffordshire in England, doch er plant, in Kürze seine akademische Laufbahn wiederaufzunehmen32. Wright schrieb zahlreiche populäre Arbeiten, und sein Hauptbeitrag zur wissenschaftlichen Literatur ist ein vielbändiges Werk mit dem Titel ,,Christian Origins and the Question of God" [,,Christliche Ursprünge und die Frage nach Gott"]. Zwei Bände davon wurden bereits veröffentlicht: ,,The New Testament and the People of God" [,,Das Neue Testament und das Volk Gottes"]33 und ,,Jesus and the Victory of God" [,,Jesus und der Sieg Gottes"]. Wright leistet einen positiven Beitrag zur Jesus-Forschung, indem er die geschichtlichen Fragen klar durchdenkt, die man beantworten muss, wenn man ein genaues Bild von Jesus bekommen will: davon, wer er war, und davon, was er tat. Seiner Ansicht nach sollte das vordringliche Ziel der Wissenschaft darin liegen festzustellen, wie die Geschichte sich ,,von dem pluriformen Judaismus, der in der griechisch-römischen Welt von 10 v.Chr. existierte, zu dem pluriformen Judaismus und Christentum von 110 n.Chr." weiterentwickelte34. Dafür, so schlägt Wright vor, müssen fünf Fragen beantwortet werden: Erstens: Wie passt Jesus in den Judaismus seiner Tage hinein? Zweitens: Was waren seine Ziele? Drittens: Warum starb er? Viertens: Wie entstand die frühe Kirche, und warum hat sie gerade diese Form angenommen? Fünftens: Wie sind die Evangelien geworden, was sie sind? Wright soll hier für sich selbst sprechen dürfen und seine Auffassungen selbst zusammenfassen. Der folgende Auszug steht in einem Kontext über die Glaubhaftigkeit von Jesu Auferstehung.

Die Bedeutung Jesu ändert sich also radikal in Abhängigkeit davon, ob man das Zeugnis der frühen Kirche über seine Auferstehung anerkennt oder ablehnt. Und weiter: auch wenn man dieses Zeugnis anerkennt, kann es radikal unterschiedliche Bedeutung haben, je nachdem, als was man Jesus vor seiner Auferstehung ansieht. Wenn er eine doketistische Figur darstellte, ein göttliches Wesen aus einer möchtegern-orthodoxen Theologie, dann wäre die Auferstehung schlicht eine Bestätigung für die Erlösung, die er offenbart und angeboten hatte. Sie würde beweisen, dass er schlie?lich doch ,Gott' war. ... Wenn er ein Lehrer zeitloser Wahrheiten war, der Verkünder eines zeitlosen Rufes zur Entscheidung oder der Pionier einer neuen Art des In-der-Welt-Seins, dann würde seine Auferstehung wohl das Programm unterstützen, das er zuvor verkündet hatte - obwohl interessanterweise diejenigen, die derartige Jesus-Figuren konstruieren, der Auferstehung keinen Platz in ihrer Konstruktion geben, es sei denn als Metapher für den Aufstieg des christlichen Glaubens. Wenn er aber ein eschatologischer Prophet oder Messias war, der das Reich Gottes ankündigte und starb, um es herbeizubringen, dann wäre die Auferstehung das Zeichen dafür, dass er seine Aufgabe prinzipiell erfolgreich gelöst hatte und dass seine früheren Neudefinitionen des kommenden Reiches bedeuteten, dass auf die, die ihm nachfolgten, noch eine weitere Aufgabe wartete, nämlich das zu vollziehen, was er erreicht hatte. Als guter Jude des ersten Jahrhunderts glaubte Jesus schlie?lich, dass Israel Angelpunkt für den Rest der Welt war: was er für Israel getan hatte, hatte er im Prinzip für die ganze Welt getan. Im Rahmen seiner Zielsetzungen, so wie wir sie hier betrachtet haben, macht es Sinn anzunehmen, dass er seine Anhänger ihrerseits zu Herolden Jesajas, zum Licht für die Welt werden sah35.

Wo besteht jetzt Handlungsbedarf?

Nachdem wir uns einen ?berblick über die Gegebenheiten verschafft haben, ist es auf jeden Fall sinnvoll, die Richtung für künftige Forschungsarbeit zu skizzieren. Wohin sollte die Jesus-Forschung gehen? Was sind die Kernvorstellungen und -gedanken, die man ablehnen, in Erwägung ziehen oder akzeptieren sollte? Ich stelle hier drei Gebiete vor, auf denen Handlungsbedarf besteht, und zwei Mahnungen zur Vorsicht.

Handlungsbedarf

Ein Gro?teil der modernen, kritischen Forschung über den historischen Jesus macht von extrakanonischen Werken Gebrauch und zieht daraus Informationen über die Geschichte. Beispielsweise glaubt das Jesus-Seminar, dass das Thomas-Evangelium eine unabhängige Informationsquelle über Jesus darstellt36, ja, sie datieren es sogar weiter zurück als das Markus-Evangelium37. Ihre Rekonstruktion der Geschichte steht und fällt mit dem Thomas-Evangelium, und dieses stellt wohl auch den Ma?stab für die Bewertung anderer - selbst kanonischer - Werke dar. Ist diese Einschätzung aber gerechtfertigt? Die evangelikale Wissenschaft muss die Frage nach der Datierung extrakanonischer Werke wie des Thomas-Evangeliums und deren Beziehung zu den kanonischen Werken ernsthaft angehen. Vielleicht müssen sich die Wissenschaftler viel Zeit nehmen, um dieses Material zu bearbeiten, in Bezug auf das kanonische Textmaterial zu datieren und seine textlichen Ursprünge zu prüfen. Die Ergebnisse könnten genauso dramatisch ausfallen wie bei J.B. Lightfoot, der die sieben Briefe des Ignatius präzise in die Frühzeit des Christentums datierte, und bei Constantin von Tischendorf, der frühe textliche Beweise für den Text des Neuen Testaments fand, so dass F.C. Baurs hegelianische Rekonstruktion über die Formierung des Christentums hinfällig wurde.

Die seit den 1950er Jahren vorherrschende Methodik der Geschichtsforschung macht Gebrauch von bestimmten Authentizitätskriterien. Das sind verschiedene Regeln, anhand derer entschieden wird, ob irgendetwas historisch korrekt ist oder eher nicht. Beispielsweise gehören dazu die Kriterien der Unähnlichkeit, der Kohärenz, der mehrfachen Bestätigung und der Verlegenheit. Man betrachte die Anwendung dieser Kriterien jedoch einmal im Hinblick auf die Werke der Geschichtsforschung, die von der Dritten Suche vorgelegt wurden. Beispielsweise sagt das Kriterium der Unähnlichkeit aus, dass eine ?berlieferung dann mit höherer Wahrscheinlichkeit echt ist, wenn sie sich vom Judaismus zur Zeit Jesu und von der christlichen Kirche, wie er sie begründete, unterscheidet. Das steht in direktem Gegensatz zu dem Bemühen, Jesus fest im Judaismus seiner Zeit zu verankern und im direkten Zusammenhang mit der Kirche zu sehen, die er begründete. Authentizitätskriterien müssen also ständig überprüft und noch einmal überprüft, verfeinert und revidiert werden. Wir müssen lernen, wie solche Kriterien durch die reale geschichtswissenschaftliche Arbeit beeinflusst werden. Das hei?t nicht, dass wir diese Kriterien leichthin verwerfen dürfen; vielmehr sollten Wissenschaftler sie umso zweckmä?iger gestalten, je besser die Techniken werden, die für die historische Forschung entwickelt werden.

Ein alarmierender Trend wird bei der zusammenfassenden Betrachtung der Leben-Jesu-Forschung dieser Epoche sichtbar: die Forderung, dass die Kirche sich in Anbetracht der ihr präsentierten geschichtlichen Rekonstruktionen ändern müsse. Das war ein eindeutiges Anliegen der Alten Suche und ist auch eines der Neuen. Solche Forderungen gehen allerdings davon aus, dass der historische Jesus, den man gefunden hat, der eigentliche Jesus vor allen anderen sei. Ist aber der historische Jesus tatsächlich gleichwertig zu Jesus in seiner ganzen Fülle? Bei sorgfältiger Betrachtung muss man sagen: nein. Die Diskrepanz zwischen dem historischen Jesus und dem wirklichen Jesus38 stellt zwei Forderungen an uns: Erstens müssen wir uns als Wissenschaftler, die in erster Linie auf die Mittel der Geschichte zurückgreifen, der Begrenztheit und der Einschränkungen eben dieser Geschichte bewusst sein. Das Christentum gründet in der Geschichte, doch das Verständnis des Christentums war nie ein ausschlie?lich geschichtliches Bestreben und wird es auch nie sein. Wir müssen den Platz, den die Geschichte bei der Erforschung Jesu einnimmt, gründlich und, wenn nötig, immer wieder aufs Neue erwägen. Zweitens müssen wir lernen, dem historischen Jesus einen angemessenen Platz innerhalb des christlichen Lebens und Denkens und in der Theologie als Ganzer einzuräumen. Der historische Jesus als eine moderne Rekonstruktion sollte jahrhundertealtes christliches Denken und Handeln nicht verdrängen. Ist das Bemühen um den historischen Jesus überhaupt sinnvoll? Ja, auf jeden Fall; alles, was aus der Tiefe von Person und Werk Christi schöpft, ist es wert, dass man sich damit beschäftigt - doch sollte man das mit angemessenen Methoden und unter angemessenen Perspektiven tun.

Mahnungen zur Vorsicht

Die Mahnungen, die ich anbringen möchte, gehen in die gleiche Richtung. Die Erforschung Jesu, gleich welcher Form und Art, erfordert Demut. Wir sind begrenzte Kreaturen und von seinem Erdenleben durch gro?e geographische, zeitliche und kulturelle Entfernungen getrennt. Wir haben kein umfassendes Wissen über Jesus zur Verfügung. Und wir betreten die Bühne nach Ablauf von zweitausend Jahren der Forschung und Untersuchung und der Betrachtungen über Jesus. Die grö?ten Geister der Geschichte haben ihn gesucht, und wir folgen ihnen auf ihrem Weg. Als Wissenschaftler streben wir bei unserer Arbeit gewöhnlich nach Ehrlichkeit und Integrität; gleicherma?en sollten wir auch nach Demut streben. Diese vermisst man leider schmerzlich bei vielen Wissenschaftlern, die über den historischen Jesus und auf dem Gebiet der Christologie forschen. Sie nehmen an, dass sie den Christus des Glaubens mit modernen kritischen Methoden, mit einigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen und ein paar gut platzierten Pressekonferenzen vom Tisch wischen können. Die Hybris solcher Wissenschaft ist verblüffend. Die Fehler derjenigen, die gegenwärtig im Ring stehen, sollten wir nicht wiederholen. Wir sollten keine Angst davor haben, unbequeme Fragen zu stellen und die gegenwärtig vorherrschenden Annahmen infrage zu stellen, doch wir müssen in all unseren Untersuchungen und Behauptungen bescheiden bleiben und niemals davon ausgehen, dass wir nun das endgültige Bild Jesu gezeichnet haben.

Wir müssen nicht nur Bescheidenheit verkörpern, sondern auch eine angemessene Art von Skeptizismus. Der Trend in der Jesus-Forschung ging hin zu einem Skeptizismus, der die geschichtliche Zuverlässigkeit der uns vorliegenden Texte infrage stellte. Statt dessen sollten wir eher skeptisch über unsere eigene Objektivität sein. Zweihundert Jahre der Forschung über den historischen Jesus haben ein verwirrendes Spektrum von unterschiedlichen Bildern hervorgebracht. Viele davon wurden nach dem Bild des jeweiligen Untersuchers geschaffen, und viele sind Reaktion auf die kulturellen Fragestellungen ihrer Zeit. Der Lauf der Zeit hat uns gezeigt, dass diejenigen, die Untersuchungen über den historischen Jesus anstellen, nicht objektiv sind, sondern auf viele ihrer eigenen Fragen reagieren und antworten. Auch wir selbst sind über solche Fallstricke nicht erhaben. Wir sollten daher unsere eigene Voreingenommenheit gründlich erforschen und die Ergebnisse unserer Wissenschaft daraufhin untersuchen, um unzutreffende Schlussfolgerungen ausmerzen zu können.

Schlussfolgerungen

In der evangelikalen Wissenschaft geht die Tendenz dahin, die Beschäftigung mit dem historischen Jesus bei unserer wissenschaftlichen Arbeit zu begrenzen oder sie sogar ganz daraus auszuklammern. Ich bin aufgewachsen mit Reden gegen die Angriffe ,,liberaler Theologen" auf Christus und darüber, wie verbreitet eine solche Haltung doch sei. Leider haben wir dagegen keine positiven Beiträge auf diesem Gebiet in die Waagschale geworfen, sondern uns stattdessen lieber ganz aus der Arena zurückgezogen. Als Evangelikale, die den Herrn lieben, sollten wir uns aber um positives Arbeiten auf diesem Gebiet bemühen. Selbstverständlich wollen wir nicht jede Methode und jede Annahme akzeptieren, doch wir können einen positiven Beitrag leisten und die Strömungen umkehren. In einem kürzlich erschienenen Artikel in Christianity Today [Christentum heute] berichtet Wright über ein Ereignis, das seine Einstellung zu wissenschaftlich begründeter Forschung veränderte und selbst die Richtung beeinflusste, die sein Leben künftig nehmen sollte. John Wenham sprach vor der Christian Union [Christlichen Gesellschaft] in Oxford, und Wright sagt darüber:

In einem dieser Seminare sagte er: Sie sehen also, was wir unbedingt brauchen, sind Menschen, die den Herrn lieben und die die Heilige Schrift lieben und die gleichzeitig den erforderlichen akademischen Hintergrund haben, um Bibelforschung zu betreiben. Er sagte: Es hat keinen Zweck zu warten, bis Menschen ohne diese Liebe im Herzen dummes Zeug über die Bibel schreiben, und dann christliche Wissenschaftler darauf anzusetzen, dieses Zeug zu widerlegen. Wir brauchen Menschen, die da drau?en einen Beitrag leisten und den Kram schon weiter stromaufwärts in die Diskussion einbringen.39

Abschlie?end also die Aufforderung, die Wenham Wright nahelegte: Lassen Sie uns in der Erforschung Jesu entschlossen agieren statt nur zu reagieren. Wir wollen keine Angst davor haben, neue Wege zu beschreiten und Jesus auf neue und ganz andere Art kennenzulernen. Wir tun das nicht für uns selbst; lassen Sie es uns für Ihn tun und zur grö?eren Herrlichkeit Gottes.


1 Der Zeitraum, der in dieser Arbeit behandelt wird, geht auf einen Vorschlag von Dr. Daniel Wallace, Professor für Neutestamentarische Forschung am Theologischen Seminar in Dallas zurück. Ihm verdanke ich auch die Idee, in Anlehnung an Schweitzers Magnum Opus Reimarus und Wright als Anfangs- und Endpunkte dieser Veröffentlichung zu benutzen.

2 N.T. Wright, Jesus and the Victory of God [Jesus und der Sieg Gottes], Bd. 2 von Christian Origins and the Question of God [Christliche Ursprünge und die Frage nach Gott], (Minneapolis, MN: Fortress Press, 1996), S. 13-16, weist darauf hin, dass die Unfähigkeit der reformatorischen Theologie zu einem adäquaten Umgang mit dem Leben Jesu ein entscheidender Faktor war, der Reimarus die Bühne bereitete. Harvey K. McArthur, The Quest Through the Centuries: The Search for the Historical Jesus [Eine Suche durch die Jahrhunderte: Die Fahndung nach den historischen Jesus] (Philadelphia: Fortress Press, 1966), S. 104, weist auf den Einfluss der englischen Deisten hin, zu denen Reimarus während eines Besuchs in England Kontakt hatte.

3 W. Barnes Tatum, In Quest of Jesus: A Guidebook [Auf der Suche nach Jesus: Ein Leitfaden], (Atlanta: John Knox Press, 1982), S. 71.

4 Albert Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede: eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1906).

5 Albert Schweitzer, The Quest of the Historical Jesus: A Critical Study of Its Progress From Reimarus to Wrede (übersetzt von W. Montgomery; London: A. und C. Black, 1910).

6 Wright, Jesus and the Victory of God [Jesus und der Sieg Gottes], S. 17. Wright schreibt diese Tendenz spezifisch Reimarus zu, aber ich sehe sie eher als typisch für die Epoche als Ganze an.

7 Raymond E. Brown, An Introduction to the New Testament [Einführung in das Neue Testament], (The Anchor Bible Reference Library, Hrsg. David Noel Freedman; New York: Doubleday, 1997), S. 819.

8 Charles H. Talbert, Hrsg., Fragments [Fragmente], (übersetzt von Ralph S. Fraser; Philadelphia: Fortress Press, 1970).

9 Hermann Samuel Reimarus, The Goal of Jesus and His Disciples (übersetzt von George Wesley Buchanan; Leiden: Brill, 1970).

10 Tatum, 68. Colin Brown, ,,Quest of Historical Jesus" [,,Suche nach dem historischen Jesus" oder ,,Leben-Jesu-Forschung"], in: Dictionary of Jesus and the Gospels [Wörterbuch Jesus und die Evangelien], (Hrsg. Joel B. Green, Scot McKnight und I. Howard Marshall; Downers Grove, IL: InterVarsity Press, 1992), S. 326

11 Wright, Jesus and the Victory of God [Jesus und der Sieg Gottes], S. 16-17.

12 Ibid., S. 16.

13 Werner Georg Kümmel, The New Testament: The History of the Investigation of Its Problems (übersetzt von S. McLean Gilmour and Howard C. Kee; Nashville: Abingdon Press, 1972), S. 492.

14 David Friedrich Strauss, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet (Tübingen: C. F. Osiander, 1835-1836).

15 Brown, "Quest of Historical Jesus" ["Suche nach dem historischen Jesus"], S.328.

16 Kümmel, S. 490.

17 Wright, Jesus and the Victory of God [Jesus und der Sieg Gottes], S. 19.

18 Tatum, S. 71.

19 Rudolf Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, 2. Aufl. (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, Bd. 29; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1931). Rudolf Bultmann, History of the Synoptic Tradition (übersetzt von John Marsh; New York: Harper, 1963).

20 Brown, "Quest of Historical Jesus" ["Suche nach dem historischen Jesus"], S. 334.

21 Ibid., S. 336.

22 Wright, Jesus and the Victory of God [Jesus und der Sieg Gottes], S. 24.

23 Ibid.

24 Vgl. Wilhelm Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien: zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1901); William Wrede, The Messianic Secret (Library of Theological Translations, übersetzt von J.C.G. Greig; Cambridge: J. Clarke, 1971). In der Zeit vor Wredes Veröffentlichungen waren die meisten Wissenschaftler der Auffassung, dass das Markusevangelium das erste sei, was geschrieben wurde, und dass der Verfasser darin tatsächlich geschichtliche Informationen aufbewahrt habe. Wrede griff diesen Standpunkt an und behauptete, dass das gesamte Markusevangelium vor dem theologischen Hintergrund des Messiasgeheimnisses geschrieben worden sei: Der Verfasser habe das Messiasgeheimnis konstruiert um zu erklären, warum Jesus erst nach seinem Tode und nicht schon zu Lebzeiten als der Messias erkannt wurde. So machte Wrede die letzte Unterstützung zunichte, die die moderne Wissenschaft noch für ihre Annahme hatte, dass das Neue Testament überhaupt historisch genaue Schriften enthalte.

25 Die bekanntesten Schriften des Seminars sind: Robert W. Funk, Roy W. Hoover und Das Jesus-Seminar, The Five Gospels: The Search for the Authentic Words of Jesus [Die fünf Evangelien: Suche nach den authentischen Worten Jesu], (San Francisco: HarperSanFrancisco, 1993), und Robert W. Funk und Das Jesus-Seminar, The Acts of Jesus: The Search for the Authentic Deeds of Jesus [Die Handlungen Jesu: Suche nach den authentischen Taten Jesu], (San Francisco: HarperSanFrancisco, 1998).

26 Z.B. Luke Timothy Johnson, The Real Jesus: The Misguided Quest for the Historical Jesus and the Truth of the Traditional Gospels [Der wirkliche Jesus: Die fehlgeleitete Suche nach dem historischen Jesus und die Wahrheit der traditionellen Evangelien], (San Francisco: Harper Collins, 1996), und Richard B. Hays, The Corrected Jesus [Der korrigierte Jesus], First Things 43 (Mai 1994): 43-48.

27 ,,Das Jesus-Seminar formulierte und akzeptierte ,beweisende Grundsätze', die seine Beurteilung der ?berlieferung durch die Evangelien leiten sollten" (kursive Hervorhebung ergänzt). Funk et al., The Five Gospels [Die fünf Evangelien], S. 16.

28 Ibid., S. 32.

29 Ibid.

30 Wright, Jesus and the Victory of God [Jesus und der Sieg Gottes], S. 83-89.

31 Martin Hengel, Studies in Early Christology [Untersuchungen über die Frühe Christologie], (Edinburgh: T&T Clark, 1995), ix.

32 Tim Stafford, N.T. Wright: Making Scholarship a Tool for the Church [N.T.Wright: Wie man die Wissenschaft zu einem Werkzeug für die Kirche macht], Christianity Today 43(2) (8. Februar 1999): 42.

33 N.T. Wright, The New Testament and the People of God [Das Neue Testament und das Volk Gottes], Bd. 1 aus Christian Origins and the Question of God [Christliche Ursprünge und die Frage nach Gott], (Minneapolis, MN: Fortress Press, 1992).

34 Wright, Jesus and the Victory of God [Jesus und der Sieg Gottes], S. 90.

35 Ibid., S. 659-660.

36 Funk et al., The Five Gospels [Die fünf Evangelien], S. 16.

37 Ibid., S. 18. Obwohl diese Werke in dem Text nicht ausdrücklich datiert werden, zeigt die Graphik auf S. 18 doch die allgemeinen Beziehungen auf. Das Thomas-Evangelium wird als vollkommen unabhängig von den kanonischen Evangelien gezeigt und (ungefähr) um 50 C.E. eingeordnet. Das Markus-Evangelium wird ebenfalls als unabhängige Quelle dargestellt, aber auf (ungefähr) 70 C.E. datiert. Diese Graphik betont noch einmal die wichtige Stellung, die das Jesus-Seminar dem Thomas-Evangelium einräumt.

38 Damit will ich nicht sagen, dass ein Bild des historischen Jesus notwendigerweise ungenau ist. Ich glaube, dass die Leben-Jesu-Forschung sehr fruchtbare Erkenntnisse darüber bringen kann, wer Jesus für seine Umgebung war und was sein Dienst und seine Mission waren. Vielleicht sollte man besser sagen, dass der historische Jesus "Teilmenge" des wirklichen Jesus in seiner ganzen Fülle ist - aber auch diese Metapher ist eigentlich keine angemessene Beschreibung für die Beziehung zwischen den beiden Konzeptionen.

39 Stafford, N.T. Wright, S. 43.

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