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5. Anthropologie & Hamartologie: Der Mensch und die Sünde

Der Begriff Anthropologie stammt von zwei griechischen Wörtern ab, nämlich von anthro„pos mit der Bedeutung „Mensch“ und logos mit der Bedeutung „Wort“, „Sache“ oder „Ding“. Wir bezeichnen mit dem Wort Anthropologie das Studium des Menschen, und eine biblische Anthropologie ist das Studium des Menschen, so wie er primär in der Schrift gesehen wird. Daher beschäftigt sich die biblische Anthropologie oft mit der Diskussion über die besondere Erschaffung des Menschen, über den Menschen „zum Bilde Gottes“, über die konstitutionelle Natur des Menschen und über den Menschen nach dem Sündenfall. Zu ihren Themen gehören weiterhin die menschliche Würde, Freiheit, Verderbtheit, Kultur und Gesellschaft. – Der andere Begriff, Hamartologie, stammt ebenfalls von zwei griechischen Begriffen ab, nämlich von hamartia mit der Bedeutung „Sünde“ und von logos. Damit betrifft er die biblische Lehre von der Sünde, einschließlich ihres Ursprungs, ihres Wesens, ihrer Verbreitung, ihrer Auswirkungen und ihrer Verurteilung im Gericht.

Die Erschaffung des Menschen

Die Erzählung in Genesis über die Erschaffung des Menschen (Gen 1-2) beinhaltet mehrere wichtige Aussagen und Konzepte, die in der übrigen Schrift weiter ausgeführt und entwickelt werden. Erstens: Der Ursprung des Menschen liegt nicht in einer naturalistischen Evolution, sondern im Geist und Sinn Gottes. Der Mensch war nicht irgendein nachträglicher Einfall oder das Ergebnis blinder Evolutionskräfte, sondern er wurde gemäß der Absicht und dem Plan und zum Wohlgefallen Gottes erschaffen. In Genesis 1:26 sagt Gott: „Lasst uns Menschen machen ...“. Zweitens: Der Mensch hat eine bestimmte Stellung als der Höhepunkt der Schöpfung. Wir wurden „zum Bilde“ Gottes gemacht. Nichts anderes sonst, noch nicht einmal die Engel, wird als zum Bilde Gottes gemacht bezeichnet. In dieser Hinsicht sind wir also einmalig in der geschaffenen Ordnung, und wir haben damit sowohl ein Vorrecht als auch eine Verantwortung (vgl. Gen 3). Beide zusammen, Mann und Frau, spiegeln das Bild Gottes wider. Darüber in Kürze mehr. Drittens: Wir haben ein besonderes Verhältnis zu Gott. Gemäß unserer ursprünglichen Erschaffung, so wie wir aus der Hand Gottes kamen, waren wir heilig, aufrichtig und vollkommen, und es gab keine Feindschaft zwischen Gott und uns. Viertens: Wir spielen eine bestimmte Rolle innerhalb der Schöpfung. Wir wurden erschaffen, um über Gottes erschaffene Erde zu regieren, d.h. um die Herrschaft über sie auszuüben. Fünftens: Der Mensch wurde offenbar in einem momentanen Akt Gottes erschaffen, bei dem dieser Materielles und „den Odem des Lebens“ zusammenbrachte. Auch darüber werden wir in Kürze noch sprechen; hier soll nur gesagt werden, dass wir nicht aus irgendeinem bereits existierenden Tier entwickelt wurden. Gemäß Genesis 2:7 erwächst aus der Art unserer Erschaffung die zweifache Natur unserer Erfahrungen, und so orientieren wir uns sowohl himmelwärts (spirituell) als auch erdwärts (materiell).25

Der Mensch zum Bilde Gottes

Der Ausdruck Bild Gottes – der, wie wir annehmen, so etwas heißen soll wie die „Ähnlichkeit mit Gott“ – ist in seiner genauen Bedeutung nur schwer festzulegen. Es gab zahlreiche Versuche, ihn auf unterschiedliche Aspekte des menschlichen Seins zu beschränken oder irgendeine Beziehung zu den Bestimmungen herzustellen, die der Mensch in der Welt erfüllt. So wurde gesagt, dass sich der Begriff nur auf bestimmte besondere Eigenschaften des Menschen beziehe, zum Beispiel auf sein vernunftbegabtes Wesen, sein Moralempfinden oder seine Anlage zur Religiosität. Andere, zum Beispiel die Mormonen, vertraten die Meinung, dass das Bild Gottes physisch gemeint sei. Und wieder andere meinten, dass das Bild eher einen Beziehungsaspekt bezeichne und die menschliche Erfahrung des Bezogenseins auf Gott, auf andere Menschen und auf die Schöpfung beschreibe. Manche reduzierten die Bedeutung des Bildes auch auf die gottgegebene Aufgabe des Menschen, die Herrschaft über die Erde auszuüben. In dieser letzteren Einschätzung bezieht sich das Bild auf die Fähigkeit des Menschen zu herrschen (vgl. Gen 1:26; Ps 8:5-6).

Jede dieser Ansichten trägt etwas zum Verständnis bei, doch es erscheint zweifelhaft, ob der funktionale oder der Beziehungsaspekt tatsächlich die Frage beantworten, was das Bild tatsächlich ist (nicht tut). Die funktionale Sicht beschreibt bestimmte Wirklichkeiten, die aus der Erschaffung zum Bilde Gottes hervorgehen, aber sie beschreibt nicht das Bild als Solches. Die substanzielle Sichtweise, die im Verlauf der Kirchengeschichte sehr lange vertreten wurde, ist insgesamt gesehen die beste Sichtweise, aber es vielleicht zu eng gedacht, wenn man sie auf „Erkenntnis“, „Gerechtigkeit“, „Heiligkeit“, „Moralität“, unsere Fähigkeit zu rationalem Denken etc. beschränkt. Vielmehr ist es all das und noch viel mehr, was uns wie Gott sein lässt, wobei man natürlich die notwendigen und biblischen Unterscheidungen zwischen Schöpfer und Schöpfung (entgegen dem Glauben der Mormonen) aufrechterhalten muss.

Die konstitutionelle Natur des Menschen

Auch in der Theologie wurde die Frage nach der konstitutionellen Natur des Menschen aufgeworfen. Die meisten Naturalisten vertreten wohl die Meinung, dass der Mensch monistisch, d.h. rein physisch sei und zu seinem Sein keine Seele und keine immaterielle Substanz gehöre. Unter den konservativen Theologen würden viele ähnlich argumentieren, obwohl sie andererseits trotzdem die Menschen (zumindest die Erlösten) als eine besondere Schöpfung Gottes mit einem besonderen Schicksal ansehen. Aus der Schrift heraus gibt es aber mehrere gute Gründe, die monistische Erklärung der menschlichen Veranlagung abzulehnen. Erstens: Da Gott eine Person ist und keinen Körper hat, sondern Geist ist, kann man mit Sicherheit sagen, dass einen Körper zu haben keine conditio sine qua non für eine Person ist. Das heißt, „Persönlichkeit“ kann auch ohne Körperlichkeit existieren. Desweiteren könnte man Gott geradezu als Musterbeispiel der Persönlichkeit betrachten. Wenn das aber so ist, dann können nur Wesen, die Ähnlichkeit (d.h. entsprechende Eigenschaften, nicht nur Funktionen) mit diesem Paradigma haben, selbst als Personen angesehen werden. Zweitens: Der Begriff nephesh aus dem AT kann sich zwar auf einen Körper oder auf Teile eines Körpers beziehen, bezeichnet andererseits aber oft eine Person nach ihrem Tod. Damit bezieht er sich auf die Seele/Person, die einen Körper verlassen hat, dabei selbst noch immer bewusst ist und als der immaterielle Aspekt der Person in den Körper zurückkehren kann, so Gott will (Gen 35:18; 1.Kö 17:21-22). Drittens: Das AT stellt den Menschen als aus materieller wie auch immaterieller Substanz erschaffen dar (Gen 2:7; Hes 37:6,8-10,14). Viertens: Jesus existierte nach seinem Tod und vor seiner Auferstehung weiter, was doch anscheinend bedeutet, dass sein (menschliches) Sein auch einen immateriellen Teil hatte. Fünftens: Menschliche Wesen werden im körperlosen Zustand als lebende Geister angesehen (Heb 12:23; Off 6:9-11 [Seelen]). Sechstens: Die zukünftige Auferstehung aller Menschen weist darauf hin, dass es einen Zwischenzustand für die dahingeschiedenen Seelen gibt, die dieser Auferstehung harren. Abraham, Isaak und Jakob leben noch (Mat 22:37). Moses und Elia leben ebenfalls noch (Mat 17:1-13). Die Geschichte von Lazarus und dem reichen Mann geht offenbar von einem bewussten Leben nach dem körperlichen Tod aus (Luk 16:19-31). Und schließlich: Jesus unterschied in Matthäus 10:28 klar zwischen der Seele und dem Körper: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können. Fürchtet euch vielmehr vor dem, der sowohl die Seele als auch den Leib in der Hölle vernichten kann.“ Alle diese Feststellungen lassen sich leicht auf der Grundlage eines substanziellen Dualismus im Menschen verstehen (d.h. der Mensch ist sowohl materiell als auch immateriell).26 Davon ausgehend wollen wir uns nun mit den zwei Hauptansichten über den immateriellen Aspekt des Menschen befassen.

Viele christliche Theologen sprechen sich für ein dreigeteiltes Bild des Menschen aus: dass er nämlich Körper, Seele und Geist sei, wobei jeder dieser Begriffe eine jeweils andere Substanz bezeichne. Diese Sichtweise wurde besonders im Hinblick auf Textstellen wie 1.Thessalonicher 5:23, Hebräer 4:12 und 1.Korinther 14:14 vorgebracht. Das größte Problem bei dieser Sichtweise – und der Grund, warum sie heute nicht mehr zustimmend aufgenommen wird – ist die fast einhellig vertretene Erkenntnis, dass die Bibel Seele und Geist synonym gebraucht (Luk 1:46-47; Joh 12:27, 13:21). Außerdem führt Markus 12:30 vier Aspekte des Menschen auf: Herz, Seele, Gemüt und Kraft. Sollen wir das so verstehen, dass jeder davon eine unterschiedliche Substanz darstellt? Das ist es nicht, was Jesus hier oder Paulus in 1.Thessalonicher 5:23 ausdrücken wollte. Es geht in 1.Thessalonicher 5:23 und Hebräer 4:12 nicht darum, den Christen darüber zu unterrichten, welche Substanzen genau sein immaterielles Wesen bilden, sondern vielmehr darüber, dass Heiligung die ganze Person umfasst. Also ist es, gelinde gesagt, unbegründet, wenn man aus diesen zwei Textstellen spezifische Einzelheiten über unser immaterielles Wesen ableiten will.

Wenn man all die biblischen Hinweise zusammennimmt, scheint die beste Betrachtensweise jedenfalls irgendeine Form von Dichotomie zu beinhalten. Jede Sichtweise vom Menschen muss dabei jedoch zwei Dinge im Auge behalten: (1) dass der Mensch ein Kompositum ist, das sowohl komplexe materielle wie auch komplexe immaterielle Aspekte aufweist; und (2) dass er in der Schrift als ein einheitliches Wesen dargestellt wird, so dass alles, was er durch seinen Körper tut, auch seinen Geist betrifft und alles, womit sich sein Geist beschäftigt, auch den Körper betrifft. Tatsächlich scheinen beide an allem, was wir tun, beteiligt zu sein. Diese Sichtweise vom Menschen setzt ihn in einen angemessenen Bezug zu seinem Schöpfer im Himmel und zu seinem Auftrag auf der Erde. Und sie erfasst auch die biblischen Angaben in einer Weise, die etwas besser mit dem Gebrauch der Begriffe in der Schrift übereinstimmt (nämlich damit, dass zwei oder mehrere Begriffe dieselbe immaterielle Substanz bezeichnen können).

Im Hinblick auf unsere gegenwärtige Kultur muss man schließlich noch darauf hinweisen, dass wir mit der Argumentation für einen immateriellen Aspekt des menschlichen Seins und mit Begriffen wie Seele und Geist nicht sagen wollen, dass wir alle „Gott“ in uns haben – so wie es viele Vertreter der New-Age-Bewegung behaupten. Wir wollen vielmehr damit ausdrücken, dass wir aus mehr als nur Materie bestehen, dass wir auch geistig ausgerichtete Wesen sind, die zum Bilde Gottes erschaffen wurden (nicht aber, dass wir in irgendeinem Sinne „Götter“ seien).

Der Sündenfall des Menschen und das Bild Gottes

Genesis 3 beschreibt uns einen der teuflischsten und traurigsten Momente unserer frühesten Geschichte. Gott hatte Adam geboten, nicht von den Früchten des Baumes in der Mitte des Gartens zu essen. Das Gebot war kurz und prägnant, aber eindeutig, und die Folge eines Zuwiderhandelns wurde klar und eindrücklich dargestellt: „Du wirst gewiss sterben“ (Gen 2:16-17). Mit dem Auftritt der Schlange aber, die, wie wir heute wissen, Satan selbst war (2.Kor 11:3), kamen auch Täuschung und Trickserei in die Welt. Sie war geschickter als alle die wilden Tiere, die Gott der Herr gemacht hatte, und sie sagte zu der Frau ... (Gen 3:1). Nun, Sie kennen den Rest der Geschichte: Wir aßen von der verbotenen Frucht, erlitten den geistigen Tod (was der Teufel vergaß [versäumte?] zu erwähnen), wurden sofort von Gott bestraft (Gen 3:6-19), der Tod durch Mord kam fast sofort dazu (Gen 4), und am Ende starben wir auch physisch (vgl. „und er starb“, Gen 5). Von unseren ersten Vorfahren empfangen wir sowohl die Schuld der Sünde als auch die verdorbende Natur (Rö 5:12-21).

Als Folge des Sündenfalls ist das Bild Gottes nun gelöscht, aber es ist nicht vollständig ausgetilgt. Der Bund mit Noah, der unter den Menschen autoritative Maßnahmen für den Umgang mit Mord festlegte (Gen 9:6-7), das Gebot sich zu vermehren oder das Verbot von Dingen wie Begünstigung (Jak 3:9) – sie alle gründen sich darauf, dass das „Bild Gottes“ auch noch nach dem Sündenfall im Menschen existiert: all diese Gebote beziehen sich auf das Bild Gottes unter den Bedingungen nach dem Sündenfall.

Das Bild Gottes wurde beim Sündenfall gravierend verzerrt, doch für die, die „in Christus“ sind, wird es fortlaufend erneuert (im Sinne der „Erkenntnis“ in Kolosser 3:10). Und wenn die Heiligen dann im Himmel wohnen, wird das Bild Gottes in ihnen schließlich vollkommen wiederhergestellt werden. Kurz gesagt hat Gott uns dazu erwählt, dass wir in seinen Augen heilig und zu vollkommener Übereinstimmung mit dem Bild Seines Sohnes gebracht werden (Eph 1:3-4; Rö 8:29; 1.Kor 15:49), von dem gesagt ist, er sei „das Bild Gottes“ (2.Kor 4:4; Kol 1:15).

Die Doktrin von der Sünde

Eine kurze Rekapitulation des Sündenfalls des Menschen führt uns ganz von selbst in eine Diskussion über das eigentliche Wesen der Sünde, sowie über ihren Ursprung, ihre Verbreitung, ihre Auswirkungen und ihre Bestrafung.

Viele Theologen definieren Sünde zurecht als jede Art von mangelnder Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz Gottes – auf das Wesen, die Neigung oder die Taten bezogen. Wieder gilt, dass das mit gewissen Einschränkungen eine zutreffende Definition ist (vgl. 1.Jo 3:4) und vielleicht eine bessere, als wenn man die Erfahrung von persönlicher Begrenztheit, Existenzangst, Kontrollbedürfnis, Egoismus oder sexueller Unmoral als Sünde bezeichnet. Der entscheidende Fehler dieser Definition liegt jedoch darin, dass sie das abscheuliche, aggressive und gemeine Wesen der Sünde eigentlich nicht erfasst. In der biblischen Darstellung ist Sünde mehr als ein „Mangel an Übereinstimmung“. Sünde ist Rebellion „durch und durch“, der heimtückische Plan, Gott und seine gerechte Herrschaft über unser Leben persönlich niederzuwerfen. Sie ist der törichte Versuch eines Staatsstreichs – der Versuch, nicht nur Seine Gebote, Verpflichtungen und weisen Verbote auszulöschen, sondern auch seine Gegenwart für null und nichtig zu erklären und das Wissen von ihm auszulöschen – und das mit jedem einzelnen Hieb.

Damit ist die Sünde von ihrem Wesen her spirituell/ethisch und trägt in ihrem Kern die Vorstellung von Autonomie und Rebellion. Sie ist vom Wesen her ethisch, nicht ontologisch, denn sie stellt keine wesentliche Einbuße irgendeiner Art dar. Selbst nach dem Sündenfall hat der Mensch noch alle Möglichkeiten, mit denen er erschaffen wurde, aber seine moralische Natur wurde durch die Sünde entstellt. Im Alten Testament gibt es zahlreiche Schlüsselbegriffe, die verschiedene Nuancen innerhalb der Gesamtkonzeption der Sünde ausdrücken. Dazu gehören (1) chata („am Ziel vorbeischießen“, Ex 20:20; 522x), (2) ra („das Böse“ oder „Verderben“, Gen 38:7; 444x) und (3) taah („in die Irre gehen“, Num 15:22). Auch im Neuen Testament kommen verschiedene Ausdrücke vor. Zu den wichtigen und häufiger gebrauchten gehören (1) hamartano („am Ziel vorbeischießen“, Rö 5:12; über 225x), (2) kakos („Krankheit“ oder „Schmutz“ im moralischen Sinne), (3) poneros („das moralisch Schlechte“, Heb 3:12), (4) anomos („Gesetzlosigkeit“, 1.Jo 3:4).

Innerhalb des Kosmos ist der Ursprung der Sünde im Ungehorsam Satans und einiger Engel zu sehen. Jesaja 14:12-15 und Hesekiel 28:12-19 werden wohl widersprüchlich diskutiert; zumindest einige Theologen vertreten aber die Meinung, dass eine oder beide dieser Textstellen auf den Fall Satans anspielen. Jedenfalls ist Satan, wenn er in Genesis 3 die Szene betritt, schon ein Gefallener und sündig (vgl. 2.Ko 11:3). Was andererseits den Eintritt der Sünde in das Menschengeschlecht betrifft, so fand dieser beim Sündenfall statt, der ebenfalls in Genesis 3 beschrieben wird. Wie Paulus in Römer 5:12ff. deutlich sagt, kam die Sünde durch den Ungehorsam unserer allerersten Vorfahren in das Menschengeschlecht.

Es sollte unter Christen keinerlei Zweifel über die biblische Aussage herrschen, dass alle Menschen sündig sind. Allerdings ist es offensichtlich auch so, dass nicht bei allen Menschen diese Sündigkeit in gleichem Ausmaß zum Ausdruck kommt oder kommen wird. Wie aber übertrugen unsere ersten Vorfahren die Sünde auf uns? Wenn es zutrifft, dass die Sünde durch Adams Sünde in das Menschengeschlecht kam – wie wurde sie dann weitergegeben an seine Nachkommen und damit an die Menschheit als Ganzes, vorausgesetzt dass wir alle von dem einen Mann abstammen (vgl. Apg 17:26)?

Manche Menschen sind der Meinung, dass es zwischen der Sünde von Adam und Eva und der Sünde jedes einzelnen Mitglieds des Menschengeschlechts gar keine direkte Verbindung gibt, sondern dass sich vielmehr jeder Einzelne – vielleicht nach dem Vorbild Adams – selbst dafür entscheidet zu sündigen und Gottes Willen zuwider zu handeln. Mit der Vorstellung, dass „alle gesündigt hatten“ (Rö 5:12), steht diese Interpretation vielleicht (zumindest formell) im Einklang, der Gesamtaussage von Paulus in Römer 5:12-21 aber wird sie nicht gerecht. Dort wird nämlich mindestens fünfmal gesagt, dass die Sünde durch einen Menschen in das Menschengeschlecht kam (Übertretung) und dass das gesamte Geschlecht davon betroffen wurde – durch die Sünde Adams und nicht dadurch, dass sie alle selbst sündigten.

Damit besteht also doch eine direkte Verbindung zwischen der Sünde Adams und dem Gefallensein des gesamten Menschengeschlechts. Manche sehen diese Verbindung als eine tatsächliche an, andere eher als eine legale. Erstere vertreten die Meinung, dass das Menschengeschlecht als Ganzes im Samen Adams gegenwärtig war und damit sündigte, als er sündigte. Das scheint dem „alle hatten gesündigt“ in Römer 5:12 Genüge zu tun und wird auch durch die Abraham/Levi/Melchisedek-Parallele in Hebräer 7:10 unterstützt. Die Bedeutung dieses „alle hatten gesündigt“ sollte allerdings eher im Einklang mit dem Hauptakzent von Römer 5:12-21 festgelegt werden, und der liegt offenbar darauf, dass Adam die direkte Ursache unserer Sündigkeit ist: irgendein vermittelnder Mechanismus scheint aus Römer 5:12-21 nicht ersichtlich zu sein.

Am besten versteht man Adam vielleicht als das föderalistische Oberhaupt des Menschengeschlechts, und als eines solchen wurde seine Schuld uns zugeschrieben (d.h. unserem Konto angelastet), so dass auch wir vor dem Gesetz schuldig sind. So macht wohl die direkte Verbindung, die in Römer 5:12-21 ausgedrückt wird, am meisten Sinn. Um es nochmals zu sagen: Mehr als fünfmal erscheint in diesem Abschnitt der Satz „denn so, wie durch den Ungehorsam des einen Menschen viele zu Sündern gemacht wurden“ (so oder ähnlich).

Nun ist die Vorstellung, dass zwischen einem Menschen und seiner Nachkommenschaft eine legale, nicht nur eine biologische Verbindung besteht, in der Schrift nicht unbekannt. Das wird gelegentlich als Corporate Solidarity, gemeinschaftliches Einstehen, bezeichnet. Das bekannteste Beispiel für dieses Konzept stellt vielleicht die Sünde Achans dar (Josua 7). Seine Sünde, „die Reichtümer der Stadt“ geraubt zu haben, wird als Sünde des Volkes Israel gewertet (Jos 7:1,11), und tatsächlich wurde seine gesamte Familie dafür bestraft. In ähnlicher – genau genommen aber nicht identischer – Weise sehen wir heute oft, wie die Sünde eines Menschen direkte Auswirkungen auf andere hat. Wenn jemand ein Flugzeug mit 130 Menschen an Bord entführt und dann abstürzen lässt, leiden alle, die an Bord sind, aufgrund der Entscheidung eines Einzelnen.27 Die Entscheidungen eines einzelnen Menschen haben oft „repräsentativen“ Charakter.

Nun wenden sich manche Menschen gegen diese Lehre mit der Begründung, dass uns hier die Schuld an etwas gegeben werde, was wir gar nicht selbst getan haben. Darauf gibt es verschiedene Antwortmöglichkeiten; am Ende muss man aber einsehen, dass alle Menschen – auch Sie und ich – Sünder sind und für ihre eigene und willentliche Rebellion gerichtet werden. War es denn fair, dass Christus für uns starb, damit wir Gottes Zorn entrinnen könnten? Ist es fair, dass Gott uns die Gerechtigkeit Christi zurechnet, nur weil wir an Seinen Sohn glauben? Wenn es hier wirklich um Fairness aus menschlicher Sicht ginge – wer von uns könnte dann in Seiner Gegenwart bestehen?

Wir befinden uns aber nicht nur im Zustand der Schuld vor Gott, sondern haben bei unserer Geburt darüber hinaus ein sündiges Wesen empfangen – daher unsere eigene und willentliche Rebellion. Und es ist nicht so, dass unser Gefallensein nur einige wenige Teile von uns betrifft; vielmehr sind wir als ganze Person, mit allem was dazu gehört, gefallen und der Sünde versklavt. Auch das ist eine Folge von Adams Sünde. Wir beweisen jeden Tag, dass wir eine sündige Natur haben (vgl. Gal 5:19-21). Das Abstreiten der Sünde, neurotische Verhaltensweisen, die Entfremdung von denen, die wir lieben, Feindseligkeit unter Arbeitskollegen, die Unfähigkeit zu lieben und Liebe von anderen anzunehmen, Lügen, Diebstahl, Mogeleien und eine Vielzahl von anderen Sünden suchen uns täglich heim. Wir wurden geboren als – und sind damit von unserem Wesen her – Kinder des Zorns (vgl. Eph 2:1-3).

Der Christ und die Sünde

Oft erhebt sich die Frage, welche Auswirkungen die Sünde auf das Leben eines Christen hat. Manchmal stellt sich diese Frage ganz unmittelbar in der Form: „Verliert ein Christ die Erlösung, sobald (nicht falls) er sündigt?“ Damit können wir uns hier nicht im Detail befassen, aber diese Frage wird im Abschnitt Soteriologie ausführlicher behandelt. Hier soll nur gesagt werden, dass die Sünde eines Christen geradeso sündig ist wie die eines Nicht-Christen. Sünde bleibt Sünde, egal wer sie begeht; und sie beleidigt und verletzt Gottes Heiligkeit. Aber der Christ befindet sich ein für allemal in einer Position des Gerechtfertigt-Seins (Rö 5:1). Sein Stand bzw. seine Stellung vor dem Herrn ist unveränderlich. Seine persönliche Gemeinschaft mit dem Herrn und Seinem Volk aber wird, unter Umständen ernsthaft, durch die Sünde beeinträchtigt. Irgendwann wird ihn der Herr wahrscheinlich dafür züchtigen und in manchen Fällen auch sein Leben der Sünde wegen verkürzen (1.Ko 11:30; Heb 12:1-13). Wenn ein Christ aber sündigt, sollte er das sofort dem Herrn bekennen und bereuen, in dem Wissen, dass Gott ihm zuverlässig die Sünde vergeben und ihn von ihr reinigen wird (1.Jo 1:9). In vielen Fällen wird er seine Sünde auch einem Betroffenen bekennen und wiedergutmachen müssen. Wenn man es versäumt, eine Sünde zu bekennen, derer man sich bewusst ist, führt das zu geistiger und moralischer Verhärtung und zur Selbsttäuschung über den eigenen Zustand (Heb 3:12-13).

Die Strafe der Sünde

Gott bestraft Sünde in erster Linie und hauptsächlich um zu zeigen, dass er gerecht ist. Am umfassendsten tat er das natürlich durch das Kreuz (Rö 3:21-26, 9:19-23). Der zweite Grund, warum Gott die Sünde bestraft, ist der, dass er verirrte Kinder zurückbringen oder andere vom Sündigen abschrecken will.

Geistiger Tod, leiblicher Tod und ewiger Tod sind Strafen für die Sünde, so wie auch manches Leiden in diesem Leben. Ohne Frage stellt aber der ewige Tod die schwerwiegendste Strafe für die Sünde dar, die man sich vorstellen kann. In diesem Fall verwehrt Gott dem Sünder, der außerhalb der rettenden Barmherzigkeit Christi stirbt, sich je mit Ihm zu versöhnen. Qual wird ihr ewiges Schicksal sein und sie werden in Ewigkeit von Gott getrennt sein, „für immer ausgeschlossen aus der Gegenwart des Herrn“, wie Paulus sagt (2.Th 1:8-9; vgl. auch Mat 25:41,46).

Sünde hat immer Konsequenzen, für das gegenwärtige wie für das kommende Leben. Ein Christ kann den Folgen der Sünde in diesem Leben oder dem Gericht über die Sünde im nächsten nicht entrinnen, aber seine Erlösung wird durch dieses Gericht nicht aufgehoben. Er wird dennoch immer beim Herrn sein, das Gericht aber hat Einfluss auf die Art seines Lohns (1.Ko 3:10-15; 2.Ko 5:10; Rö 14:10-12).


25 Ich meine damit nicht irgendeinen platonischen oder gnostischen Dualismus oder irgendetwas anderes in dieser Art. Ich sage nur, wie C.S. Lewis es bei einer Gelegenheit ausdrückte, dass wir zum Leben in zwei Welten gleichzeitig gemacht wurden.

26 Lesen Sie für eine weitergehende Diskussion dieses Themas Wayne Grudem, Systematic Theology [Systematische Theologie], (Grand Rapids: Zondervan, 1994), S. 472, 474 und 483; J.P. Moreland und Scott B. Rae, Body and Soul: Human Nature & The Crisis in Ethics [Körper und Seele: Die menschliche Natur und die Krise der Moral], (Downers Grove, IL: InterVarsity, 2000), S. 17-47; Erickson, Theology [Theologie], S. 519-539. – Für eine Verteidigung der monistischen Position siehe J.A.T. Robinson, The Body [Der Leib], (London: SPCK, 1952), und die betreffenden Artikel in Warren S. Brown, Nancy Murphy und H. Newton Maloney (Hrsg.), Whatever Happened to the Soul: Scientific and Theological Portraits of Human Nature [Was auch immer mit der Seele geschah: Wissenschaftliche und theologische Darstellungen der menschlichen Natur], (Minneapolis, MN: Fortess, 1998).

27 Ich will damit nicht sagen, dass die anderen in dem Flugzeug sich der Entführung schuldig machen (in dem Sinne, wie wir aufgrund von Adams Sünde als schuldig angesehen werden). Worum es mir geht, ist nur zu zeigen, dass die schlechten Entscheidungen eines Einzelnen oft negative Auswirkungen auf eine Vielzahl von Menschen haben.

Related Topics: Man (Anthropology), Hamartiology (Sin)

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